Joe Biden, der auch hierzulande mit großen Vorschusslorbeeren gestartet ist, hat im Auge der Mehrheit der amerikanischen Wähler bereits jetzt gründlich abgewirtschaftet. In einer krisengeschüttelten Zeit sitzt ein extrem geschwächter Präsident im Weißen Haus.
US-Präsident Joe Biden wird sich bei der Nominierung für die nächsten Präsidentschaftswahlen einem innerparteilichen Gegenkandidaten stellen müssen – das prognostiziert Jeffrey Weaver, der ehemalige Wahlkampfmanager des linken US-Senators Bernie Sanders.
Im März letzten Jahres hatte US-Präsident Joe Biden angekündigt, eine zweite Amtszeit anzustreben. Die Präsidentschaftswahl findet am 5. November 2024 statt – 15 Tage vor Bidens 82. Geburtstag.
Sanders, der erklärte Sozialist und bekannteste Vertreter des linken Parteiflügels, hatte sich 2016 und 2020 – letztlich erfolglos – um die Präsidentschaftskandidatur der Demokraten beworben. „Wird es einen progressiven Herausforderer geben? Ja.“, sagte Weaver nun der bekannten amerikanischen Nachrichten- und Meinungswebsite Politico.
Wie die Politico-Reporterin Holly Otterbein in dem Beitrag schreibt, sei die Debatte über einen linken Herausforderer „wie aus dem Nichts“ entbrannt, nachdem Bidens Lieblingsprojekt, das Billionen teure Wohlfahrts- und Infrastrukturausgabenprogramm Build Back Better im Kongress gescheitert war, weil der moderate demokratische Senator Joe Manchin angekündigt hatte, seine Zustimmung zu verweigern. Ohne Manchin kommt keine Mehrheit zustande, denn dafür bedürfte es der Stimmen aller 50 Senatoren der Demokraten, um in der 100-Sitze-Kammer einen Gleichstand mit den Republikanern zu erzielen, in welchem Fall Vizepräsidentin Kamala Harris als die Vorsitzende des Senats den Ausschlag geben würde.
Die Debatte zeigt die Krise der Demokratischen Partei. Laut dem 22. Zusatzartikel der amerikanischen Verfassung ist die Amtszeit eines US-Präsidenten auf zwei Amtsperioden begrenzt. Dass ein amtierender Präsident nach vier Jahren von seiner Partei für eine Wiederwahl nominiert wird, ist, das darf man wohl sagen, der Normalfall. Schon allein deshalb, weil der Amtsinhaber bei der Wahl einen statistisch erwiesenen Vorteil gegenüber dem Herausforderer der jeweils anderen Partei hat: In der fast 250-jährigen Geschichte der Vereinigten Staaten haben nur elf Präsidenten keine zweite Amtszeit gewonnen.
Der Amtsinhaber hat nicht mehr das Vertrauen der ganzen Partei
Muss ein Präsident sich in den Vorwahlen einem ernst zu nehmenden Gegenkandidaten stellen, ist das für die Partei ein Nachteil, weil er dann bereits vor dem eigentlichen Wahlkampf Geld für eine Wahlkampfkampagne ausgeben muss. Zudem ist eine solche Gegenkandidatur der sichtbare Beweis, dass der Amtsinhaber nicht mehr das Vertrauen der ganzen Partei hat. So, wie damals Jimmy Carter, der sich 1980 dem Gegenkandidaten Ted Kennedy stellen musste. Präsident Carter hatte seinerzeit mit einer Reihe von Krisen zu kämpfen, die den heutigen nicht unähnlich waren: Die wirtschaftliche Entwicklung war gestört, Khomeini hatte unter den Augen Carters die Macht im Iran übernommen (woran die Geiselnahme in der US-Botschaft in Teheran anschloss), die Sowjetunion war in Afghanistan einmarschiert, die Inflation und insbesondere der Ölpreis waren außer Kontrolle. Dazu kam die Mariel-Bootskrise um die über 100.000 kubanischen Flüchtlinge, die im Sommer 1980 in Florida anlandeten – um nur einige der damaligen Probleme zu nennen. Carter machte keine gute Figur, und obwohl er letztlich klar gegen Ted Kennedy gewann, war dessen Gegenkandidatur ein Menetekel: Wichtige Kräfte in der Partei bezweifelten offenbar, dass Carter die Wahl im November 1980 gewinnen würde – und tatsächlich setzte es gegen Herausforderer Ronald Reagan bekanntlich eine Klatsche.
Joe Biden ist vielleicht ein noch größeres Desaster als Jimmy Carter. Wie auch immer man prinzipiell über den Truppenabzug aus Afghanistan denkt, von der Welt wurde er als eine Hals-über-Kopf-Flucht wahrgenommen, die an Vietnam erinnert. Parteifreunde und Journalisten von Zeitungen und Fernsehsendern, die Biden und den Demokraten eigentlich gewogen sind, gingen im August auf Distanz zu Biden und hauten dem Präsidenten, der es noch im Juli für „sehr unwahrscheinlich“ erklärt hatte, dass die Taliban das ganze Land erobern werden, seine Fehleinschätzungen um die Ohren.
Man sagt, dass Amerikaner bei ihrer Wahlentscheidung kein großes Gewicht auf die Außenpolitik legen; das mag sein, aber was in Afghanistan passiert ist, zeigt eben, dass Biden inkompetent und dem Amt nicht gewachsen ist, was ja auch andere Bereiche wie die Innenpolitik und die Wirtschaft betrifft.
Wer nicht gerade sein eigenes politisches Schicksal an das von Biden gekettet hat, macht sich keine Illusionen über dessen Fähigkeit, Wahlen zu gewinnen. „Er ist zutiefst unbeliebt. Er ist alt wie Scheiße. Er war weitgehend wirkungslos, es sei denn, wir zählen die Richter oder was auch immer zum Teufel in der Baseball-Scorecard, die wir verwenden“, sagt Corbin Trent, der ehemalige Pressesprecher von Alexandria Ocasio-Cortez, die seit 2019 für die Demokraten im Repräsentantenhaus sitzt und eine der prominentesten Stimmen der Parteilinken in den sozialen Medien ist. Corbin Trent war zudem Mitgründer der linken Lobbygruppe Justice Democrats, die 2018 ein Casting veranstaltet hatte, um Vertreter des radikalen Flügels in für die Demokraten aussichtsreiche Wahlen zu schicken. Eine, die an dem Casting teilnahm und zur Kandidatin gemacht wurde, war Ocasio-Cortez; andere waren Ilhan Omar und Ayana Pressley. Zusammen wurden sie als die Squad („Truppe“) bekannt.
Die Republikaner können die Mehrheit in beiden Kammern gewinnen
Für die Kongresswahlen im November 2022 – gewählt werden das gesamte Repräsentantenhaus und 34 der 100 Senatoren, so dass die Republikaner die Mehrheit in beiden Kammern gewinnen können – sagt Trent eine Niederlage der Demokraten voraus, die Biden „zertrümmern“ werde. Nach der erwarteten Wahlniederlage werde es in der Demokratischen Partei keinen Mangel an Gegenkandidaten gegen Joe Biden geben, glaubt er.
Vor allem der linke Flügel der Demokratischen Partei ist äußerst frustriert darüber, dass Biden im US-Kongress keines seiner Ziele erreicht hat – und wohl auch nicht mehr erreichen wird. Mit Build Back Better scheiterte er ebenso wie mit der Idee einer radikalen Änderung des Wahlrechts und der Abschaffung des Filibuster im Senat. Filibuster heißt die Taktik, durch Endlosdebatten zu verhindern, dass ein Gesetz zur Abstimmung gelangt; sie wird von beiden Parteien benutzt, wann immer sie jeweils in der Minderheit sind, und verhindert in der Praxis Alleingänge der Mehrheitspartei. Die Wahlrechtsreform ist zwar noch nicht vom Tisch, aber weil der Filibuster wohl nicht abgeschafft wird, müssten die Demokraten im Senat nicht nur auf 50, sondern auf 60 Stimmen kommen, um die Debatte für beendet zu erklären und eine Abstimmung über ein neues Wahlgesetz zu erzwingen.
Sowohl bei Build Back Better als auch bei der Abschaffung des Filibuster fehlte Biden die Mehrheit im Senat – weil der moderate Senator Joe Manchin aus West Virginia und Senatorin Kyrsten Sinema aus Arizona ihm die Gefolgschaft verweigerten.
Weil sich schon früh abzeichnete, dass das so sein wird, gibt es in den sozialen Medien – der wohl wichtigsten Plattform des linken Parteiflügels – seit langem Forderungen, den beiden Senatoren bei den nächsten Vorwahlen linke Gegenkandidaten in den Weg zu stellen. Bernie Sanders kündigte vor einigen Tagen seine Unterstützung für ein solches Vorhaben an.
Die nächsten Wahlen, denen sich Manchin und Sinema stellen müssen, sind allerdings erst 2024. Und auch dann werden die Demokraten zumindest in West Virginia sicherlich kaum für einen Vertreter jener Parteilinken stimmen, der die Kohleindustrie, einen der wichtigsten Wirtschaftszweige des Bundesstaates, am liebsten verbieten würde.
Biden und die Demokraten „können für nichts“
Es ist nicht schwer zu verstehen, dass in einem Staat wie West Virginia, wo Donald Trump die Präsidentschaftswahlen 2016 und 2020 jeweils mit rund 30 Prozent Vorsprung gewann, kein Politiker, der so ist wie Bernie Sanders oder seine „progressiven“ Verbündeten Alexandria Ocasio-Cortez oder Ilhan Omar, jemals eine Chance haben wird, die Wahl zum US-Senator zu gewinnen. Die Überlegungen der Parteilinken, Manchin, Sinema und am Ende vielleicht sogar Joe Biden bei den nächsten Wahlen durch Vertreter des linken Flügels zu ersetzen, scheinen auf der Vorstellung zu beruhen, dass man, um Wahlen zu gewinnen, nicht 50 Prozent der Bevölkerung hinter sich haben sollte, sondern lieber nur 20 Prozent oder weniger. Aber so sehen die Parteilinken das natürlich nicht; ihrer Weltsicht nach wünscht sich die überwältigende Mehrheit der US-Bürger eine linke Politik, und Wahlen gehen ihrer Meinung nach nur dann verloren, wenn die Politik nicht links genug ist.
Diese Auffassung deckt sich aber weder mit Wahlergebnissen noch mit Umfragen. Während die Parteilinke die Polizei abschaffen will, wählten die New Yorker vor wenigen Monaten Eric Adams, einen ehemaligen Polizisten, zum Bürgermeister. Und in West Virginia sind laut einer von Newsweek zitierten Umfrage 59 Prozent der Wähler mit Joe Manchin zufrieden, aber nur 30 Prozent mit Joe Biden. (Leider wurde in der Umfrage nicht danach gefragt, was die Leute dort von Bernie Sanders halten.) Auf nationaler Ebene hat Biden je nach Umfrage Zustimmungswerte zwischen 33 und 40 Prozent. Das macht ihn laut der linksgerichteten britischen Tageszeitung The Guardian zu „einem der unpopulärsten US-Präsidenten“ aller Zeiten. Woran liegt das? Der bekannte CNN-Redakteur Chris Cillizza hat eine überraschende Erklärung – eine, die sowohl Biden und seine Partei von jeder Verantwortung freispricht, sie können für nichts:
„Am frustrierendsten für die Demokraten – und insbesondere für Biden – ist, dass so viel von dem, was als nächstes kommt, nicht in ihren Händen liegt. Bidens Zustimmungswerte scheinen eng mit der Zahl der Covid-Fälle zu korrelieren; je höher diese steigt, desto niedriger fallen seine Zustimmungswerte aus. Und weil es sich um eine Pandemie handelt, die durch ein regelmäßig mutierendes Virus verursacht wird, hat Biden fast keine Kontrolle darüber, was als nächstes kommt.“
Ein Virus soll schuld daran sein, dass Joe Biden ein so miserabler Präsident ist? Das ist doch – krank. Vielleicht sollte CNN mal eine Grafik anfertigen, die die Zustimmungswerte des Präsidenten in Relation zu den Benzin- und Lebensmittelpreisen setzt. Oder auch zur Anzahl der Leitartikel, die Bidens Außenpolitik eine Katastrophe nennen. Das wäre die richtige Spur.