Die Vorfahren der heutigen Schweden, die Wikinger, waren gefürchtet für ihre Wildheit und Grausamkeit. Mit ihren schnellen Schiffen und Schwertern fielen sie regelmäßig in Europa ein und und plünderten Städte wie London, Hamburg, Paris. Bei den christlich gebildeten Angelsachsen und Franken waren sie verrufen als Barbaren, als „Heiden aus dem Norden.“
Tausend Jahre später flößen die Schweden niemandem mehr Angst ein. Im Gegenteil. Die rohen Wikinger haben sich zu einem arbeitsamen, friedfertigen, toleranten und hilfsbereiten Völkchen entwickelt. Unzählige Migranten, Glückssucher und Flüchtlinge aus aller Welt machten sich in den letzten fünfzig Jahren auf, um in Schweden zu leben. Kein anderes westliches Land nahm im Verhältnis zur eigenen Bevölkerung mehr Zuwanderer auf als die fürsorgliche schwedische Monarchie.
Man ist stolz auf den inoffiziellen Titel einer humanitären Großmacht. Obwohl diese Ehre auch Probleme mit sich bringt. Wie zum Beispiel im Fall jener rätselhaften Krankheit, die Ende der Neunzigerjahre zum ersten Mal im Norden des Landes auftaucht und sich schnell ausbreitet. Im Jahre 2006 sind bereits 450 Fälle bekannt.
Anfällig sind Kinder und Jugendliche zwischen acht und achtzehn Jahren. Und die Symptome sind immer gleich: Die jungen Patienten gleiten in eine Art Koma, schließen die Augen, sind unansprechbar, hören auf zu essen und zu trinken, koten ein wie Kleinkinder und müssen über eine Sonde ernährt werden.
Nur ein positiver Asylentscheid hilft
Merkwürdig ist, dass diese Krankheit nur in Schweden vorkommt und dort wiederum nur Asylbewerber-Familien betrifft, genauer: anfangs Roma aus Ex-Jugoslawien, später auch ethnische Uiguren aus der früheren Sowjetunion, dann vereinzelt Jesiden. Ebenso seltsam: Auslöser ist immer ein abgelehnter Asylantrag. Und die einzig wirksame Therapie ist ein positiver Asylentscheid. Kaum ist die gute Nachricht eingetroffen, beginnt das Leben in die reglosen Körper zurückzukehren.
Das Schicksal der „Dornröschen-Kinder“ bewegt. Es lassen sich keine körperlichen Ursachen für den untoten Zustand finden. Puls, Blutdruck, physiologische Reaktionen – alles normal. Die Psychiater konsultieren ihre Klassifikationsschemata. Katatonie, depressive Entkräftung, dissoziative Störung, posttraumatische Belastungsstörung oder eher pervasives Verweigerungssyndrom? Nichts trifft wirklich zu, also kreiert man einen Namen für die neuartige Krankheit: „Uppgivenhetssyndrom“, Resignationssyndrom.
Psychophantastik, Opferpoesie, moralische Sinnbilder treten an die Stelle fehlender wissenschaftlich-vernünftiger Erklärungen. Eine von Psychologen und Ethnologen verfasste Studie vertritt zum Beispiel die These, die Krankheit sei ein spezifisches Phänomen „holistischer Kulturen“, von Gesellschaften mit unklaren Grenzen zwischen dem Einzelnen und dem Kollektiv. Die apathischen Kinder würden sich freiwillig „für ihre Familien opfern, indem sie das Bewusstsein verlieren.“ Die Regierung schickt zur Abklärung eine Delegation von Ärzten und Soziologen nach Kasachstan, Kirgistan, Serbien, dem Kosovo. Alle lokalen Doktoren erklären jedoch, noch nie von solchen Symptomen gehört zu haben.
Wie Schnewittchen, fallen sie einfach aus der Welt
Seriöse Ärztezeitungen veröffentlichen Gedichte zum Syndrom, mit Zeilen wie, „deine Augen haben alles gesehen“. Ein renommierter Kinderpsychiater sieht die von ihren weinenden Müttern umsorgten Kinder „umweht von der Atmosphäre von Michelangelos Pietà“. Ein Berufskollege deutet die Störung als „gewolltes Sterben“ und vergleicht die apathischen Kinder mit jenen geschundenen und erschöpften KZ-Häftlingen des Holocaust, die sich in eine Ecke gekauert und auf den Tod gewartet hätten.
Die medizinischen und journalistischen Berichte beschreiben die Patienten durchwegs als die intelligentesten, sensibelsten und assimiliertesten Mitglieder ihrer Familien, als perfekte, heldenhafte, beinahe heilige Wesen. „Sie sind wie Schneewittchen“, gibt eine Ärztin den oft schwärmerischen, ja märchenhaften Ton wieder, „sie fallen einfach aus der Welt“.
Als das Fernsehen Aufnahmen von Kindern zeigt, die auf Tragbahren ausgeschafft werden, ist das für viele nicht mehr auszuhalten. Es folgt ein moralischer Aufschrei. Das reiche Schweden deportiert seine verletzlichsten und hilflosesten Mitmenschen. Das Selbstbild der Nation, die Identität als Hüterin einer universalen „Ethik des Mitgefühls“ erfährt eine schamvolle Kränkung. Die Regierung stoppt die Abschiebungen.
Skeptiker werden als herzlos abgebügelt
Man kann sich die seltsame Krankheit, die nur ausgewählte ethnische Gruppen unter spezifischen Umständen befällt und wieder verlässt, nicht erklären. Aber man ist sich einig, dass es eine echte Krankheit ist. Die wenigen, die gegenüber der Schneewittchen-Erzählung Skepsis anbringen, werden als rassistisch, xenophob, herzlos abgebügelt. Oder ignoriert, wie jene Techniker eines TV-Teams, denen aufgefallen war, dass die kranken Kinder „ziemlich frisch“ wirkten, wenn sie sich unbeobachtet wähnten.
Im Herbst 2019 erzählen zwei junge Erwachsene dem angesehenen schwedischen Magazin Filter ausführlich, wie sie als Kinder von ihren Eltern gezwungen worden seien, das Resignationssyndrom zu simulieren. Die Idee habe eine befreundete Familie geliefert. Einer der beiden ehemals „Kranken“, Nermin, schildert, wie er von seinem Vater geschlagen worden sei, wenn er nicht gehorcht habe. Die qualvolle Schauspielerei dauerte mehrere Jahre, bis die Familie die Aufenthaltsbewilligung erhält.
Der Bericht erregt großes Aufsehen. Das Tabu ist gebrochen. Wie viele der tausend Schneewittchen waren falsch? Die Hälfte? Die meisten? Lange hielt sich das Land an das Motto von Pippi Langstrumpf, der berühmtesten Schwedin: „Ich mach mir die Welt, wie sie mir gefällt.“ Nun ist die reale Welt zu Besuch gekommen. Und sie ist nicht drollig und unschuldig wie Bullerbü.
Zuerst erschienen in der Zürcher Weltwoche.