Gerd Held / 12.01.2015 / 15:00 / 4 / Seite ausdrucken

Eine Machtfrage ist gestellt

Seit den Pariser Morden steht etwas im Raum. Es war schon vorher da, aber eher nur als ferne Möglichkeit. Nun ist es da, mitten unter uns. Nein, es handelt sich nicht nur um einen besonders brutalen Gewaltakt. Auch nicht nur um irgendeine Eigenschaft der Täter („bestialisch“), die da ausgelebt wird. Vielmehr steht nun unverhohlen ein Anspruch im Raum. Mit den Morden wird die politische Ordnung Frankreichs, Europas und der modernen Staatenwelt angetastet. Ein Machtanspruch wird erhoben. Ein Land soll seinen Charakter, seine Verfassung, seine politische, wirtschaftliche und kulturelle Grundordnung ändern. 

„Machtanspruch“ ist ein dröhnendes Wort. Es kommt darauf an zu präzisieren, in welchem Sinn er gilt. Es geht um zwei Ansprüche. Der erste Anspruch ist ziemlich klar: Die Morde sind der Versuch, die Meinungs- und Pressefreiheit unter Vorbehalt zu stellen und damit praktisch abzuschaffen. Erlaubt soll nur sein, was bestimmte Tabuzonen nicht berührt. Insbesondere soll alles, was die Religion betrifft, Tabu sein. Mit dem Anschlag auf Charlie Hebdo wird exemplarisch jede Überschreitung dieses Tabus unter Todesstrafe gestellt. Wer das Tabu bricht, muss mit seiner Hinrichtung rechnen. Dabei ist bedeutsam, dass es um Religion geht. Jede Religion beruft sich auf eine höhere Macht - das führt leicht zum Missbrauch der Religion für irdische Herrschaftsansprüche. Deshalb ist es wichtig, dass sich das Recht der Meinungs- und Pressefreiheit auch auf etwas so Großes wie die Religion erstreckt, auch wenn das die aus Sicht der Gläubigen „höheren“ Wahrheiten verletzt (und die in ihrem Fühlen „tieferen“ religiösen Gefühle). Die Meinungs- und Pressefreiheit ist erst so ein Grundrecht von Verfassungsrang, denn es dann wirklich eine eigenständige Sphäre der Öffentlichkeit.

Deshalb ist der Satz „Wir sind Charlie Hebdo“ jetzt genau der richtige Satz. Aber bitte vollständig: Wir sind Charlie Hebdo nicht nur, weil wir den Schmerz und das Leid mit den Opfern und ihren Familien fühlen, sondern auch weil wir ein Recht für uns alle fordern. Weil wir eine republikanische Errungenschaft bekräftigen. Der Ruf „Wir sind Charlie Hebdo“ ist nicht nur ein Ruf von Betroffenen. Er enthält einen eigenen Geltungsanspruch gegenüber dem Geltungsanspruch der Attentäter. Mit ihm steht Geltungsanspruch gegen Geltungsanspruch. Noch handfester: Es steht Machtanspruch gegen Machtanspruch.

Doch es gibt noch eine größere Dimension der Machtfrage. Was uns an den Tätern erstaunt und erschüttert, ist die völlige Rücksichtslosigkeit, mit der sie möglichst viele Opfer möglichst grausam in den Tod schicken. Und auch die Selbstverständlichkeit, mit der sie für sich selber den Tod suchen. Sie erscheinen wie eine Verkörperung der Apokalypse - wie apokalyptische Reiter, die blutgrinsend den Weltuntergang herbeiführen. Hier geht es um mehr als um einen Anschlag auf Meinungs- und Pressefreiheit. Hier wird die ganze Ausfaltung der Welt geopfert, die mit der modernen Zivilisation in Arbeit, Wissenschaft, Genuss, Glauben, in Betrieben, Schulen, Forschungsstätten, Verkehrseinrichtungen, Läden, Pop-Konzerten, Museen, Sportwettkämpfen, in Großstädten und Kulturlandschaften geleistet wurde. Mit den neuen Fundamentalisten ist eine nihilistische Kraft entstanden, die ohne weiteres von Massenvernichtungswaffen Gebrauch machen würde. Hier wird keine neue Ordnung, keine neue Wirtschafts- und Staatsform angestrebt, sondern hier regiert jener eschatologische Geist, der nur noch das Jüngste Gericht herbeisehnt.

Damit steht ein ungeheuerlicher Machtanspruch im Raum. Die Länder Europas, der Westen, und die ganze zivilisierte Welt – sie alle haben sichtlich Schwierigkeiten, sich darauf einzustellen. Es ist richtig, dass in den letzten Tagen in Frankreich von einem „Kriegszustand“ die Rede war und deshalb ohne größere Einwände das französische Militär eingesetzt wurde. Aber das Problem scheint noch ein anderes zu sein. Die zeitgenössischen Gesellschaften sind es nicht gewohnt, ihre Zivilisation und ihre freiheitlich-demokratische Grundordnung zu verteidigen. Sie sind es eher gewohnt, kleinere Ziele zu verfolgen und nach den Vor- und Nachteilen bestimmter Gruppen zu fragen.

Die politische Diskussion Frankreichs wird seit fast zwei Jahrzehnten vom Oberbegriff der „sozialen Spaltung“ beherrscht. Wie will man da ein Grundrecht wie die Meinungs- und Pressefreiheit verteidigen und erkennen, dass es für Reiche und für Arme gleichermaßen wertvoll ist? Wie will man in Deutschland die moderne Zivilisation verteidigen, wenn man sich seit Jahrzehnten daran gewöhnt hat, aus ökologischen Teilproblemen einen Großprozess gegen diese Zivilisation anzustrengen? Wie will die EU ein internationales Bündnis gegen diesen Machtanspruch schaffen, wenn man sich in Sekundärkonflikte mit autoritären Regierungen (Putin) aufreibt und inzwischen sogar am guten Verhältnis zu den USA und zu Israel sägt?

Das sind Orientierungsprobleme, die nicht nur diese oder jene Partei, diesen oder jenen Politiker betreffen, sondern die Gesamtgruppierung der politischen Kräfte. Und mehr noch: Es sind Orientierungsprobleme der gesellschaftlichen Aufmerksamkeit, damit auch der Medien. Man tut sich schwer, die Machtansprüche beim Namen zu nennen, die uns bedrohen. Ebenso fällt es schwer, dagegen eigene Machtansprüche zu erheben und zu Maßnahmen zu kommen. Das vorherrschende Vokabular ist merkwürdig passiv, „Erschütterung“ und „Zusammenstehen“ stehen im Vordergrund. Man beschwört die Solidarität von allen mit allen (aber ausgerechnet die Dresdener Montags-Demonstranten will man nicht).

Ein Umdenken ist also unvermeidlich. Doch sollte man dabei klug sein. Es liegt in einer angespannten Situation immer nahe, hitzig zu werden und die gegenseitigen Verdächtigungen wachsen zu lassen. Dennoch sollte man jetzt nicht in eine falsche Aggressivität hineingeraten. Wenn eine wirklich große Umgruppierung der öffentlichen Aufmerksamkeit und der politischen Agenda ansteht, dann sollte man den Parteien, den Medien und den Menschen insgesamt Zeit geben, sich darauf einzustellen. Manche Position wird sich, unter dem Druck der Realitäten, ändern. 

Das Wort „Machtfrage“ ist in diesem Beitrag nicht in dem Sinn gemeint, dass nun sogleich ein „Kampf um die Macht“ ansteht. Es geht um eine Positionierung: Mit den Januar-Morden in Paris steht ein totalitärer Machtanspruch im Raum. Die moderne pluralistische Gesellschaft kann darauf nur mit einem eigenen Machtanspruch antworten, dem Machtanspruch einer uneingeschränkten freiheitlich-demokratischen Grundordnung. 

Sie lesen gern Achgut.com?
Zeigen Sie Ihre Wertschätzung!

via Paypal via Direktüberweisung
Leserpost

netiquette:

Bettina Gruber / 12.01.2015

Richtig, ein guter Artikel - dennoch sollte der freiheitlich-demokratische Machtanspruch menschliche Anständigkeit und Taktgefühl nicht ausschließen: dazu gehört, andere nicht in ihrem Wichtigsten kränken zu wollen, und die Karikaturen waren(!) kränkend und geschmacklos. Zwar müssen sie erlaubt sein, dennoch muss im Sinne des Satzes, dass meine Freiheit endet, wo die des Anderen anfängt, neu über den Umgang mit den religiösen Sensibilitäten anderer Leute,  egal welcher Konfession, nachgedacht werden.

Mike van Dyke / 12.01.2015

Ich bekenne, ich bin nicht Charlie, ich heiße nicht Müller. Und mich macht auch die massenhaft ausgegebene Parole traurig. Warum? Ich bin nicht Charlie, aber ich bin Jude, spätestens seit dem Gemetzel an betenden Juden in Israel. Ich hätte es wohltuend empfunden, hätte es diese Welle der Solidarisierung schon viel früher gegeben. Oder ist das Zerhacken von friedlich betenden nichts ahnenden Menschen etwa kein Angriff auf die Freiheit aller? Wenn nein, warum nicht? Wenn ja, warum haben es die jetzt so zahlreich strömenden Massen damals überwiegend mit einem Achselzucken nur zur Kenntnis genommen, ohne aufzustehen, ja, nicht einmal dann, als die dafür verantwortliche Hamas von der Terrorliste genommen wurde? Kann mir das einer erklären? Ich verstehs nicht. Und, es wurden übrigens nicht nur Mitarbeiter von Charlie Hebdo getötet. Da war doch noch was anderes? Keine Frage, es ist schauerlich, wenn Menschen einfach dahingemetzelt werden, nur weil sie zT schauerliche Karikaturen gemalt haben, deren Geschmacklosigkeit auch durchaus zu Zahlreichen Protesten hätte Anlass geben dürfen. Aber eben nicht mehr als das. Aber da sind auch noch Menschen abgeschlachtet worden, die gar nichts gemacht haben, die einfach nur sie selbst waren, sie waren Juden. Und wenn man auch das Grauen von solchen Taten nicht relativieren sollte, so finde ich das zweite noch grauenvoller, noch empörender. Und Je suis Charlie lässt das einfach unter den Tisch fallen. warum? Weil da einfach NOCH EIN je suis fehlt. Je ne suis pas Charlie. Ich bin heute Jude. Und ich bin stolz darauf. Ich habe nur ein ganz klein bisschen Schiss, ob ich das als Deutscher eigentlich darf. Aber wenn es sonst keiner macht. Einer muss ja den Anfang machen, oder?

Marcelo Strumpf / 12.01.2015

Glückwünsch: Ihr Artikel über den nicht ganz so neuen Machtanspruch der Islamisten umfasst über 900 Wörter, doch Wörter wie “Islam”, “Islamisten” oder “Moslems”  kommen darin nicht vor. Zufall oder Kalkül? Mich erinnert das an “Harry Potter”. Dort trauen sich viele Protagonisten nicht, den Namen von Lord Voldemort (das personifizierte Böse) auszusprechen und reden wie die Katze um den heißen Brei, wenn es um ihn geht. Auch möchte ich darauf hinweisen, dass der Terror in Paris nicht nur ein Anschlag auf die Presse- und Meinungsfreiheit war, sondern auch ein Anschlag auf das europäische Judentum. Vier französische Juden mussten in einem jüdischen Supermarkt sterben, nicht, weil sie den Propheten karikiert und damit den Islam beleidigt hatten, nein, sie mussten sterben, weil sie Juden waren. Sie starben aus demselben Grund wie die Millionen von europäischen Juden während des Holocaust. Sie starben aus demselben Grund wie die fünf Juden, die im vergangenen November in einer Jerusalemer Synagoge beim Beten ermordet wurden. Warum wird die judenfeindliche Motivation des Anschlags in Paris unterm Teppich gekehrt? Wenn, wie Sie schreiben, mit den Januar-Morden in Paris ein totalitärer Machtanspruch im Raum steht und die moderne pluralistische Gesellschaft darauf nur mit einem eigenen Machtanspruch antworten kann, dann wird die Gesellschaft nicht umhin kommen, als die dunkle Macht zu entzaubern, indem man sie zumindest schon mal beim Namen nennt, und Lord Voldemort ins Zeitalter der Aufklärung verhilft.

Paul Mittelsdorf / 12.01.2015

“Wenn eine wirklich große Umgruppierung der öffentlichen Aufmerksamkeit und der politischen Agenda ansteht, dann sollte man den Parteien, den Medien und den Menschen insgesamt Zeit geben, sich darauf einzustellen. Manche Position wird sich, unter dem Druck der Realitäten, ändern.” Das ist der einzige Punkt in dem Artikel, dem ich nicht zustimme, obwohl es mich freuen würde, wenn es so wäre. Es gab den 11. September. Es gab die Attentate in Spanien und England - mit viel mehr Toten als in Paris. Hat sich die Haltung der Politiker dadurch verändert? Es ist, glaube ich, die allgemeine Betroffenheit, die im Moment zu dem Gedanken verleitet, daß man tatsächlich beginnt, gewisse Themen offen zu diskutieren. Ich denke nicht, daß eine Veränderung von gestandenen Parteien ausgehen wird. Die Hoffnung liegt bei Neugründungen wie der AFD oder dem Volk.

Leserbrief schreiben

Leserbriefe können nur am Erscheinungstag des Artikel eingereicht werden. Die Zahl der veröffentlichten Leserzuschriften ist auf 50 pro Artikel begrenzt. An Wochenenden kann es zu Verzögerungen beim Erscheinen von Leserbriefen kommen. Wir bitten um Ihr Verständnis.

Verwandte Themen
Gerd Held / 05.12.2023 / 06:15 / 53

Dauernotstand ist Verfassungsbruch

Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Staatsverschuldung muss eine Abkehr von der Politik der endlosen „Rettungen“ zur Konsequenz haben. Sogenannte Zukunftsenergien, die lediglich auf das Prinzip…/ mehr

Gerd Held / 06.10.2023 / 06:15 / 104

Deutschland: Not durch falsche Ziele

Deutschland ist auf einem Kurs, der immer größere Opfer fordert. Die Opferbereitschaft der Bürger sinkt. Doch ein Kurswechsel bleibt aus, weil vielen nicht klar ist,…/ mehr

Gerd Held / 03.04.2023 / 06:00 / 88

Ohne Auto keine Stadt

Eine moderne Großstadt funktioniert nur als gut erschlossene Stadtregion. Deshalb ist die Feindschaft gegen den Autoverkehr und der Angriff auf den Verbrennungsmotor so kurzsichtig und…/ mehr

Gerd Held / 13.03.2023 / 06:15 / 75

Wenn Grün verliert, gewinnt die Stadt 

Die CDU-Gewinne in Berlin und die Abkehr der SPD von der rot-grün-roten Koalition sind nur ein erster Schritt. Aber schon jetzt zeigt sich, wie wenig…/ mehr

Gerd Held / 26.12.2022 / 06:00 / 66

Die eigene Größe des Sports

Deutschland ist sang- und klanglos bei der Fußball-WM ausgeschieden, und niemand hat ihm eine Träne nachgeweint. Die Krise unseres Landes ist auch eine Sportkrise.   Es…/ mehr

Gerd Held / 17.11.2022 / 12:00 / 105

Die verlorene Unschuld der „Klimaretter“

Klebe-Straßenblockaden können Menschenleben gefährden. Sie sind ein Angriff auf kritische Infrastrukturen dieses Landes. Sie sind ein Mittel, um direkt ein bestimmtes Regierungshandeln zu erzwingen. Demokratische…/ mehr

Gerd Held / 03.11.2022 / 06:00 / 120

Die Krisen-Formierung der Bürger

Die Krisen, die sich in diesem Herbst zu einem ganzen Krisenkomplex auftürmen, sind kein Schicksal. Sie beruhen auf falschen Entscheidungen. Die Opfer, die jetzt gefordert…/ mehr

Gerd Held / 21.09.2022 / 06:05 / 101

Der Ausstieg aus der fossilen Energie ist gescheitert

In diesem Herbst 2022 bekommt Deutschland mehr denn je den Ernst seiner Lage zu spüren. Die täglich zunehmenden Opfer stehen in keinem Verhältnis zu den…/ mehr

Unsere Liste der Guten

Ob als Klimaleugner, Klugscheißer oder Betonköpfe tituliert, die Autoren der Achse des Guten lassen sich nicht darin beirren, mit unabhängigem Denken dem Mainstream der Angepassten etwas entgegenzusetzen. Wer macht mit? Hier
Autoren

Unerhört!

Warum senken so viele Menschen die Stimme, wenn sie ihre Meinung sagen? Wo darf in unserer bunten Republik noch bunt gedacht werden? Hier
Achgut.com