Gastautor / 11.04.2011 / 11:29 / 0 / Seite ausdrucken

Eine Laudatio und ein Lied für Hans Christoph Buch

Laudatio zum Schubart-Literaturpreis 2011 (und ein neues Lied) am 3. April 2011 in der Stadt Aalen in Württemberg vorgetragen

Von Wolf Biermann

Hans Christoph, lieber und verehrter Freund – was bedeutet dieser Christian Friedrich Daniel Schubart für uns, der ja nicht nur für sein freches Maul einen Maulkorb verpaßt kriegte, sondern auch von 1777 bis 1787 Festungshaft? Diese wackligen Jahreszahlen merke ich mir mit einer stabilen Eselsbrücke: Zwei Jahre bevor in Paris der Sturm auf die Bastille losbrach, wurde der gebrochene Häftling Schubart in Württemberg entlassen. Die beunruhigende Frage also: Ist er solchen wie uns mehr Vorbild, oder schon abschreckendes Beispiel?
„Tu l’as voulu, Georges Dandin!“ - So heißt es am Ende in der sarkastischen Komödie des Molière. Also rede ich gleich am Anfang deutschen Klartext: Du hast es so gewollt! Selber Schuld, lieber Buch!  Du hättest mich vielleicht doch lieber nicht locken solln, jedenfalls nicht als Deinen Laudator.  Aber nun liefere ich Dir die bestellte Lobrede - man bloß so gut ich kann, denn nur ein Lump gibt mehr als er hat.
Unsre Welt ist mal wieder aus allen Angeln. Auch mich erschüttert seit zwei Wochen das Erdbeben in Japan.  Auch mich riß nun der German-Angst-Tsunami von den Füßen, die anschwellende Panikwelle in unserem deutschen Vaterland. Auch mich verstrahlt die hysterische Kernschmelze der deutschen Parteipolitik im Kampf um Wählerstimmen. Ich lösche in meinen Albträumen keuchend den Fukushima-Reaktor,  gebe der redlichen Angela Merkel unbrauchbare Ratschläge. Ich bombardierte heute Nacht im Traum zusammen mit Dir und unserem Freund und Menschheitsretter André Glucksmann, die Panzer des mörderischen Clowns Gaddafi im Maghreb.
                                    *
Kaum zu glauben: Du hast wirklich 40 Bücher veröffentlicht? Ich kenne kaum ein Viertel.
Aber das reicht mir. Noch immer zittert mein Herz, wenn ich mich erinnere an Deine Reportagen mit dem bitterbösen Untertitel:  „Schlächter und Voyeure an den Fronten des Weltbürgerkriegs“.  Dieses Buch heißt „Blut im Schuh“ , es wurde im Jahre 2002 veröffentlicht unter Enzensbergers Fittichen, im legendären Eichborn-Verlag.  Das sind groteske Sittenbilder der Barbarei aus all den kleinen heißen Kriegen nach dem Ende des großen Kalten Krieges. Ja, nur Reportagen, die aber zugleich Literatur sind, weil in ihnen das verwackelte Selbstbild des „Rasenden Reporters“ steckt, feinsinniger als bei Deinem Kollegen Egon Erwin Kisch.  Tschetschenien, das fernere Hinter-Indien, Timor, Zaire, Algerien, Kenia, Tansania, Burundi, Liberia, Sierra Leone und Sudan, Ruanda, Kambodscha.
Das ist zum Wahnsinnigwerden und auch zum Abstumpfen:  Wir hier, im derzeit ewigen Frieden, sind alle unschuldige Augenzeugen. Indirekt sind wir hier global mitschuldig wegen unterlassener Hilfeleistung. Die bequemste Form der Nächstenliebe ist offenbar am Fernseher die Fernstenliebe. Meine Glotze in Altona schüttet mir jeden Abend eine Schüssel randvoll mit digitalem Menschenblut aus den elenden armen Ländern ins Wohnzimmer. Und ich halte mein Herz fest und betäube mein schlechtes Gewissen mit dem Wutwitz: “Ja, Brot für die Welt. Aber die Wurscht bleibt hier!”
Ich erinnere mich an Deine lateinamerikanische Litanei über die Dominikanische Republik in Deinem Buch von vor drei Jahren: „Das rollende R der Revolution“. Kuba, Chile, Venezuela, Mexiko, Nicaragua.  Aber noch aufregender ist mir Deine deutsche Heimatkunde. Das ist Stoff, bei dem ich durch eigene Erfahrung mitreden kann und grade deshalb staune und lerne. Am schärfsten im Gedächtnis ist mir Dein Schelmenroman „Der Burgwart auf der Wartburg“, geschrieben kurz nach dem Zusammenbruch der DDR.  Das ist eine herzerfrischend bösartige Satire auf den ewigen Spitzel. Der kleine Lump als ein Running Gag der politischen Sittengeschichte. Der Denunziant in all seinen Wandlungen, nein: seinen Ver-Wandlungen in verschiedenen Epochen.  Daß grade dieses Buch mich „affizieret“, wird Dich nicht wundern.
Du portraitierst da in Variationen den unverwüstlichen Typus „Hilfsarbeiter der Tyrannei“. Es ist eine entlarvende Anatomie dieser Kreaturen. Diese unterklassigen Böslinge sind offenbar gar nicht der Teufel selbst, wie ich in meiner Wut denke. Es gibt offenbar eine Rangordnung der Verlogenheit, eine Hierarchie der Unmenschlichkeit. Ein Gysi ist kein Mielke. Und ein Mielke ist kein Stalin.  Und noch fataler: Der Oberteufel Mephisto steckt im Faust wie im Goethe. Der Fürst der Finsternis steckt sogar in Gott selbst, wie auch in dessen genialem Dolmetzsch, dem Judenfresser Martin Luther.
Dein Held aber - in dieser Satire aus dem Jahr 1994 - ist eben mehr ein Lemur, also ein Hilfsteufel. Er ist ein tollpatschiger Kleindarsteller in La Comédie Humaine, er ist ein willfähriger Trottel, der seinem Herrn die Schmutzarbeit macht. Und er fällt – damit wir was zu lachen haben -  auch mal in die Grube, die er Anderen hat graben müssen.  Ja, so was baut einen auf. Dein Wartburg-Roman hat sich also unmittelbar für mich gelohnt. Mit diesem satirischen Bilderbogen hast Du meine DDR-Rachegefühle etwa gegen den IM „Notar“ oder den IM „Willy“  elegant abgekühlt – und also den Super-Gau einer Kernschmelze in meinem Brustkasten abgewendet.
Besonders der dritte Teil Deiner Phänomenologie des ewigen Schweinehundes hat mich ermuntert, weil es da um meinen verehrten Meister Brecht und seine Bagage geht. Von diesem Sittendrama habe ich als junger Mann den Epilog miterlebt, 1957 bis 1959 als Regieassistent im Berliner Ensemble am Schiffbauerdamm.
Und ich dachte am Ende der Lektüre: hochinteressant! dieser Burgwart in Weimar.  Der ewige Weltverbesserer Hans Christoph Buch schreibt also keinen Werther, sondern das Gegenteil eines Entwicklungsromans. Sein mieser Held bleibt bei allen Metamorphosen durch die Jahrhunderte immer die gleiche blutige Dumpfbacke.  Kein Triumph also der Aufklärung, keine Wandlung, keine Beknirschung, kein Bruch, kein Zusammenbruch, geschweige denn eine Kátharsis. Du mußt zugeben, lieber Fortschrittsfreund, das stinkt stark nach Geschichtspessimismus.  Sagen wir wohlwollender: es riecht nach Melancholie. Emile Cioran schrieb mir im Oktober 1989 zu meinem neuen Lied „Melancholie“ ein Wort, das wohl auch für Dich gilt:
      „Diejenigen, die das Glück haben, an Melancholie
      zu leiden, sind Komplizen für immer.“

Einem Komplizen wie Dir, lieber Hans Christoph, liefere ich auch aus Selbsterhaltungstrieb gern die Laudatio. Einen echten Schriftsteller kann man gar nicht genug loben. Ja, ihm gebührt sogar ein übertriebenes Lob. Er zweifelt und verzweifelt ja schon übertrieben und immer wieder an sich selbst und braucht also die übertriebene Bewunderung. Und zudem braucht er das Lob, denn wie sonst würde er die Schmähungen und Attacken seiner Neider und Beckmesser verwinden können.
Ich will Dir sagen, was mich an Dir immer entzückt hat: Ich hielt Dich von Anfang an – also seit den Jahren der Studentenbewegung -  für einen der besseren West-Linken, denen man weder vor noch nach 1989 das totalitäre Elend des Ostens schonend verklaren mußte. Du kamst mir immer rechtschaffener vor als so mancher linkische Fellow traveler aus der freieren Welt.
Was der lateinische Witzbold Juvenal über die Rechtschaffenheit dichtete: Probitas laudatur et alget soll für Dich nicht so traurig gelten. Wenn der römische Spottvogel darüber klagte, daß der Rechtschaffene wohl gepriesen wird, aber leider frieren muß dabei, dann ist es eine doppelte Freude, wenn es nun dem Schubart-Preisträger Hans Christoph Buch besser ergeht: Er wird gelobt, aber auch gewärmt.
Die Energiepreise werden demnächst in den Spargelwäldern der Windkraftanlagen steigen.  Dein Preisgeld von immerhin 12 Tausend Euro reicht für einen warmen 1000.- Euro-Mantel.  Dazu kannst Du den Strom aus der Steckdose für etwa 4000 Kilowattstunden bezahlen. Tja und dann bleiben noch zehn Tausend für etwa zweihundert Mal ein warmes Essen in einem guten Restaurant.  (Du weißt, was ich damit dunkel andeuten will!)
Unser Kollege Schubart war ja ein aufklärerischer Feuerkopf, ein Stürmer und Dränger, der mit Voltaire im Herzen und dem Klopstock in der Faust den verhaßten Aristokraten im zerrissenen Deutschland vor der Nase rumfuchtelte. Er schimpfte die berühmt-berüchtigte Karlsschule seines Landesvaters Herzog Carl Eugen eine „Sklavenplantage“. Er haßte die Kleinstaaterei in Deutschland. Er schmähte den parasitären Klerus und verhöhnte insbesondere Gottes Bodenpersonal im mächtigen Jesuiten-Orden. Und weil er also nicht nur ´n bißchen zu weit gegangen war, sondern zu weit zu weit, wurde er endlich gekidnappt.
Ich kenne inzwischen den Lebenskrimi dieses Rebellen viel besser als seine Werke. Ein Lockspitzel zottelte ihn nach Blaubeuren, ins Württembergische.  So gelang es, daß der absolutistische Herzog Carl Eugen seinen unbotmäßigen Unterthanen zur gründlichen Umerziehung aus dem Verkehr zog.  Der Dichter und Organist und Komponist wurde eingesperrt in der Festung Hohenasperg: Zehn Jahre lang despotische Aufklärung für den Aufklärer. Und leider leider wurde der aufmüpfige Knecht Schubart am Ende doch gebrochen durch die perfide Gnade seines Herrn, und zum schlechten guten Ende ruhig gestellt mit Pöstchen und Ehrungen. Trotzalledem war unser Schubart ein tapferer Soldat und ein Kriegsgefangener in dem, was Heinrich Heine in seinem Gedicht „Enfant Perdu“ 1851 den ewigen Freiheitskrieg der Menschheit nannte.
Ach hätte der arme Schlucker Schubart doch damals wenigstens die Bequemlichkeit genießen können, diesen kommoden Schubartpreis zu kassieren, statt zehn Jahre kommoden Knast, wo er kommod verfaulte aufgrund der kommoden Willkür seines kommod aufgeklärten Despoten Herzog Carl Eugen !! (Dies als Anmerkung zum verharmlosten Harm in der totalitären Diktatur in der DDR, die Günter Grass noch im Jahre 2006 eine „kommode Diktatur“ nannte.)
Aber was soll diese güntergräßliche Fußnote! Hier in Aalen, am Tor zur Schwäbischen Alb, bewegt uns mehr das Beispiel Schubart! Dabei weiß ich über den Namenspatron des Literaturpreises viel zu wenig. Ich las vor Jahren von seinen Werken nur sein womöglich unwichtigstes Buch, das zudem erst posthum im Druck erschien:  „Ideen zu einer Ästhetik der Tonkunst.“ Aber da hat der vielbegabte Musiker und brachiale Musikant viel Stoff viel zu pedantisch zusammengesammelt, so ideenarm pädagogelnd wie das ältere Lehrbuch „Der vollkommene Capellmeister“ vom Hamburger Musikschriftsteller Johann Mattheson.  Wie geistreich dagegen der philosophische Dialog über Fragen der Musiktheorie von Denis Diderot, „Rameaus Neffe“,  den uns Goethe ins Deutsche brachte!
Vielleicht hat dieser Schubart aber großartige kleine Gedichte geschrieben. Wer weiß! Ich Ignorant hatte anfangs ja nicht mal im Kopf parat, daß es dieser Schubart war, von dem sich Franz Schubert den Text nahm für das geniale Lied „Die Forelle“.  Und nun wüßte ich gern, ob Schubart seine lyrische Ballade von der listenreich gefangenen Bach-Forelle sich zusammenreimte, bevor oder nachdem ihn selbst die Angler des württembergischen Landesfürsten auf dem Haken hatten.
                                    *
Hans Christoph – was sind wir nun:  alte Freunde, oder nur alte Bekannte?
Ich will den Leuten hier in Aalen wenigstens erzählen, daß der diesjährige Preisträger mich gelegentlich besuchte auch schon in den Jahren vor der Ausbürgerung, in den Zeiten also, als ich zwölf Jahre lang total verboten war, eingepfercht hinter der Mauer, aber doch frei in den mikrophon-verwanzten Wänden meiner Ostberliner Höhle Chausseestraße 131.
Und weil ich als staatlich anerkannter Staatsfeind in der DDR immer frisches DDR-Futter auf Lager hatte, kamen die buntesten linken Singvögel über die Mauer geflogen, westberliner Spatzen, französische Brieftauben, nordamerikanische Spottdrosseln, schwedische Nachtigallen, ein irischer Zaunkönig (cutty wren) , ein russischer Rabe (Tschorny Wóron) und sogar lateinamerikanische Guerilla-Papageien. Ich fütterte sie in meiner Küche mit deutschen Pasquillen und mit frischen Liebesliedern. Du kennst meine damaligen Gäste und manchen davon besser als ich:  Der magische Rudi Dutschke mit dem rollenden russifizerten „R“ der Parteifunktionäre. Rrrudi mit seinem wirkungsmächtigen kleinen Vorsprung im marxistischen Jargon seiner frühen DDR-Zeit in Luckenwalde. Wir verspotteten das Idioten-Fach Staatsbürgerkunde so: „Maximus-Lenimus“.  Er besuchte mich vor und nach den „Drei Kugeln ...“  in seinen Kopf.  Und er war ein großherziger Mensch, ein sanfter Rebell.
Und Du kennst, vermutlich besser als ich, den subversiven Pferdeflüsterer der 68er-Generation, Herbert Marcuse, der meinem Freund Robert Havemann und mir in der Chausseestraße 131 geduldig bewies, daß es im modernen Kapitalismus kein Subjekt der Revolution mehr gibt: keine Arbeiterklasse.  Die Irrläuferin Ulrike Meinhof tauchte auf, kurz bevor sie untertauchte. Auch Heinrich Böll kam über die Grenze und hörte sich am liebsten meine Bibel-Ballade an, denn ein gütiges Herz schlug ihm ja im Dickschädel.  In meinem Vogelhaus landeten auch Deine unmittelbaren Vorgänger, deren Namen ich in der Aalener Literatur-Preisliste fand, also Delius und Schneider.  Friedrich Christian Delius kannte ich nur als F.C., so wie Du Dich damals im Stil der Zeit verkürzt H.C. Buch nanntest. Peter Schneiders tapfere Haltung im politischen Tagesstreit imponiert mir noch heute, so wie die Deine.
Ja, mein melancholischer Komplize Hans Christoph ist ein Linker, immer gewesen, war aber niemals ein romantischer Revolutionstourist,  weder bei den Sandinisten in Nicaragua, noch in China im Delirium der Mao-Bibel, oder heute im Rausch des modernen Turbo-KZ-Kapitalismus. Du hast nie geschwelgt in den Illusionen der Erziehungs-Diktatur nach der Idioten-Moral „¡La rumba no - trabajo si!“  des Máximo Líder Fidel Castro.
Ich kann mir nicht vorstellen, daß einer wie Du mit „Ho! Ho! Ho Chi Minh!“ auf dem Kuh´damm revolutionäres Sackhüpfen gespielt hat. Dem Besucher Buch aus Westberlin mußte ich Unter´n Linden niemals umständlich und schonend beibringen, daß die Diktatur des Proletariats in der DDR eine Diktatur über das Proletariat ist. Kurz: Unser Preisträger liebäugelte nie mit den totalitären Menschheitsrettern am anderen Ende der Welt, denn er kannte diese Welt besser als die geistarmen Schwarmgeister.
                                    *
Das Nest, in dem es ausgebrütet wird, kann kein Ei sich aussuchen. Und so wurde Hans Christoph Buch von Anfang an ins Leben eingefädelt als ein Weltenkind, nämlich mit einem Liter Kreolenblut aus Haiti in den Adern.
Geboren wurde er wohl als ein rein arischer Goj. Aber sein Vater war Diplomat, und das trieb den Knaben Buch von Anfang an in manche Länder und etliche Sprachen. Dann hat er sich selbst genetisch mutiert als ein Welt-Jude, gemausert als ein waschechter Welt-Neger, vollendet als ein wissender Welt-Zigeuner, verfeinert als ein mitleidender Welt-Indio, raffiniert als ein Welt-Asiate.  Und so findet er den Stoff für seine Bücher eben in aller Welt.
Marcel Reich-Ranicki wird Deutschlands Literaturpapst genannt, nicht nur wegen seiner apodiktischen Überlegenheit, sondern auch, weil er das Geschäft der Literaturpreise aus dem Effeff kennt. Er knallte mir mal, ich glaube in Darmstadt oder in Bad Homburg, eine Sottise vor den Latz in seiner eindeutig mehrdeutigen Art:
„Ach, wissen Sie, mein Lieberr, es gibt in Deutschland leiderr viel mehr grroße Literaturpreise als große Dichter. Man findet keine Kandidaten!“  Und in der Jury – das habe er immer wieder erlebt – gebe es meist zwei Gruppen. Die eine wolle ihren Favoriten A, die andre den B. Und weil sie einander den Erfolg nicht gönnen, einigen sie sich auf einen, den eigentlich keiner will:  den Verlegenheitskandidaten C.“
Ob er mich damit meinte, ließ er lächelnd offen.
Hans Christoph nun, mein verehrter Freund, ich weiß nicht, ob das bei Deinem Schubartpreis so ähnlich funktionierte. Ich bilde mir ein, daß vor Jahren der FAZ-Literaturkritiker Jochen Hieber, ein Aalener, mir sagte: er könne den Schubart-Preis nach eigenem Gutdünken, also ohne faule Kompromisse vergeben. Ich fand das plausibel. Aber im Ernst: Gibt es beim Schubart-Preis etwa keine normale Jury?
Wenn ich an die letzten Landtagswahlen in Rheinland-Pfalz und in Baden-Württemberg denke, also an die parteipolitische Kernschmelze in Deutschland, an diese apokalyptische Angstwahl, dann kommt mir im ketzerischen Affekt ein reaktionärer Wunschgedanke, der allerdings schon 2400 Jahre alt ist: daß die absolutistische Herrschaft eines aufgeklärten Philosophen-Königs à la Platon vielleicht doch ein perfekterer Staat wäre, als unsere parlamentarische Demokratie.  Jede echte Demokratie –  das wurde von Winston Churchill erlebt, erlitten und geistreich formuliert   -  hat neben all ihren grundsätzlichen Vorzügen leider diesen fatalen kleinen Nachteil, daß sogar kluge und tapfere Politiker, die etwas Gutes bewirken wollen und womöglich sogar könnten, immer auch von einer launischen Mehrheit der labilen Wutbürger und stabil Ahnungslosen ins Amt gewählt werden müssen.
Über dieses heikle Thema würde ich gern mit Dir, lieber Freund, und mit unserem Bruder im rebellischen Geiste, dem Dichter C.F.D. Schubart nochmal in Ruhe nachdenken.
Zum Schluß will ich Dir danken, daß Du mir den Entwurf für Deine eigene Rede, also die obligate Dankrede für diesen Aalener Literaturpreis ge-e-mailt hast, das war schon vor einem Monat. Ich habe aber Deinen Text erst jetzt im Computer geöffnet und durchgelesen.
Ich weiß nicht, ob Du noch viel geändert hast, an Deinem Manuskript, hoffentlich nicht, nicht etwa ver-schlecht-bessert. Du überschreibst deine Rede mit dem Wort „Eine Kritikerschelte“.  Sowas nenne ich tollkühn! Es imponiert mir, daß genau so tapfer, wie Du als Reporter in all diesen Völker-Metzeleien in Lateinamerika und Afrika und Arabien Dich bewiesen hast, Du nun sogar im kommoden Bestiarium der heimischen Literaturkritik mit bloßer Hand den ignoranten Literaturverwesern in den Rachen greifst.  Recht hast Du! Prügel sie ruhig, die Canaillen!  Wir gehen im Streit der Welt ja nicht nur kaputt an den Schlägen, die wir einstecken, sondern viel mehr noch an den Schlägen, die wir leider nicht austeilen. Und wenn doch - ob man dabei immer trifft ... und außerdem noch die Richtigen ... das zeigt sich oft erst später.
Ich habe mich entschlossen, Dir nun zum Hauptpreis einen Nebenpreis zu verpassen, denn ich will Dir einen Surplus-Profit zahlen - allerdings in einer Währung, die stabiler ist als der Euro: in Seelengeld. Ich widme Dir mein neuestes Lied, darin ich mich bei Evas Adam in aller Balladenform bedanke, weil der erste Mensch damals trotz Gottes Strafandrohung in den Apfel der Erkenntnis gebissen hat.  Dieses Lied soll eine Ermutigung sein gegen unsere gelegentlichen Schwächeanfälle einer utopistischen Sehnsucht nach der faulen Daueridylle im Narrenparadies. Diese vier Strophen sind ein Plädoyer gegen alle mörderischen Irrwege zur Endlösung der sozialen Frage. Ich vermute, das Lied paßt ganz gut zu Dir, denn es ist ein heiteres Bekenntnis zum Streit der Welt.


Biermanns Ode auf den alten Adam
                                    (für Hans Christoph Buch)

     
Ich weiß, daß ich nichts weiß, doch das ist gewiß
Ich liebe den Adam. Warum? - Das ist klar:
Weil damals im Garten Eden sein Biß
In Evas Apfel die Rettung war.
Wir hockten sonst heut noch im Paradies
Verdammt bis in alle Ewigkeit!
Das Leben wär langweilig, wäre mies
In gottbewachter Geborgenheit
      Dir Mann aller Männer sei Dank dafür
      Mensch Adam, mein Alter, ick liebe dir

Die Welt wär ein ödes Schlaraffenland
Uns schlüge ein Brathähnchen in der Brust
Wir hätten im Schädel nur Zuckersand
Kein Haß keine Liebe, kein Schmerz, keine Lust.
Ich brauch kein Utopia, wo wir dumpf
Dahinvegetier’n in Gemütlichkeit
Ich suche kein Nirgendland, wo wir stumpf
Die Zeiten vertändeln in zeitloser Zeit
      Dir Mann aller Männer sei Dank dafür
      Mensch Adam, mein Alter, ick liebe dir

Doch halt ich den Streit in der Welt nicht mehr aus
Verstummt meine Lebens-Melodie
Auch du hältst dich lächelnd aus allem raus
Wie drogensüchtig nach Harmonie
Willst Ewigen Frieden statt Freiheitskrieg?
  -  so kriechen wir in ein Nirwana rein!
Wo ´n Kerl wie ein Hund hinterm Ofen liegt
Und Weiber wolln nur noch das Weibchen sein
      Musik nur noch Flohwalzer am Klavier
      Du langweilst mir - und ick langweil dir!

Nachsatz
Doch weicht dann am Morgen die Finsternis
Aus meinem Alptraum, wird wieder klar
Daß damals im Garten Eden der Biß
In Gottes Apfel die Rettung war
Dann schmeißt mich mein Weib ausm Bett raus und lacht:
Hör auf mit deiner Wehleidigkeit
Ich hab dich so schön geschwächt diese Nacht
Nun bist Du gestärkt   -  und nun wage den Streit!
      Steht grad ooch keen Drache vor unsre Tür
      -  mein Drachntöter, ick liebe ....  mir!
 

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