Gastautor / 13.12.2024 / 12:00 / Foto: Montage Achgut.com / 4 / Seite ausdrucken

Eine kurze Novelle über den Gaza-Krieg

Von Dr. Jörg Bernhard Bilke.

Die Gefahr, von seinen arabischen Feinden überrannt und ausgelöscht zu werden, schwebt seit 1948 wie ein Damokles-Schwert über dem Staat Israel. Diesen Zustand des Vorbereitetseins verarbeitet Chaim Noll in seiner Novelle: „Die Stille am Morgen nach dem Krieg“

Chaim Noll, 1954 in Ostberlin geboren, übersiedelte 1995 mit seiner Frau Sabine Kahane und zwei Kindern nach Israel und lebt heute als Schriftsteller in Beer Sheva, der Hauptstadt der Wüste Negev. Sein wichtigstes Buch ist ein wissenschaftliches Werk von 677 Seiten „Die Wüste. Literaturgeschichte einer Urlandschaft des Menschen“ (2020).

Der Krieg, um den es hier geht, ist der Gaza-Krieg von 2008/09, der vom 27. Dezember 2008 bis 18. Januar 2009, also 22 Tage, dauerte. Doch wenn man diese undatierten Aufzeichnungen liest, fühlt man sich ständig an den gegenwärtigen Gaza-Krieg erinnert, der am 7. Oktober 2023 begann und noch nicht beendet ist.

Der Staat Israel lebt, das wird dem Leser rasch klar, seit der Gründung am 14. Mai 1948 ununterbrochen im Krieg, der an mehreren Fronten geführt und lediglich von Waffenstillständen unterbrochen wird. Ständig werden aus dem Gaza-Streifen und aus dem Libanon Raketen auf israelische Wohngebiete abgeschossen, ständig heulen die Sirenen, auch nachts, und zwingen die Einwohner, die Schutzräume aufzusuchen. Ein normales Leben wie hier in Deutschland ist das nicht.

Die Gefahr, von seinen arabischen Feinden überrannt und ausgelöscht zu werden, schwebt seit 1948 wie ein Damokles-Schwert über dem Staat Israel! Diese Gefahr muss man immer bedenken, wenn man Israel kritisiert, weil man nicht versteht, warum die Streitkräfte so oder so reagieren.

Das Buch beginnt damit, dass die Ehefrau des Erzählers in der Nacht zum Freitag einen Wolf aus dem Garten vertreibt, der einer Katze nachstellt und dann in der Wüste verschwindet. Das ist ein kräftiges Bild für die von außen lauernden Gefahren, denen Israel ausgesetzt ist. Und dann liest man den Satz: „Wenn es uns gut geht, verlieren wir die Gefahr aus den Augen.“ Die Gefahr heißt, um ein Beispiel zu nennen, Mousa Abu Marzuk, einer der Hamas-Führer, die die Israelis ins Meer treiben möchten. Er wohnt aber nicht im Gaza-Streifen und darbt mit seinem Volk, sondern im Ölstaat Katar, wo er, von Allah auserwählt, ein prächtiges Leben führt und von wo aus er dafür sorgt, dass die Israelis nachts aus dem Schlaf gerissen werden: „Gegen zwei Uhr morgens wurden wir von der Sirene geweckt, standen rasch auf und liefen, so schnell es ging, die Treppen hinunter in den bombensicheren Raum. Wir waren zu müde, uns aufzuregen.“

Selbstverständlich gibt es im heutigen Israel auch das Leben, wie wir es in Deutschland kennen, mit seinen Alltagssorgen, mit seinen Beschwernissen und seinen Freuden, aber das alles ist ständig überschattet von der Angst vor den Angriffen aus der Luft! Auch vom israelischen Alltag berichtet der Erzähler: So hat er vor Jahren in Haifa, dem beliebten Wohnort aus Deutschland entkommener Juden, von seiner Großtante Klara ein Haus geerbt, in dessen Erdgeschoss Rafael aus Marokko ein Süßwarengeschäft betreibt. Im ersten Stock wohnte Frau Löwenthal aus Augsburg, die aber vor zwei Jahren verstorben ist. Die Schilderung allein, wie das Haus, dessen Preis künstlich hochgehalten wird, weil ständig neue Scheinkäufer bei Rafael vor der Tür stehen, den Besitzer wechselt, ist ein wahres Meisterstück der Erzählkunst.

"Kein wirkliches Verständnis"

Der Erzähler ist zudem ein gläubiger Jude, der an jedem Shabbat mit seinen Enkeln die Synagoge besucht und dort althebräische Texte studiert. Er sitzt auch nicht ununterbrochen am Schreibtisch, wie  man das von einem ehemaligen Universitätsprofessor erwarten könnte, sondern widmet sich stundenlang der Gartenarbeit: „Mittags im Garten gearbeitet…Unser Garten ist halbwild. Ich versuche, alles wachsen zu lassen. Was unmöglich ist. Trotzdem kostet es mich Überwindung, zu sägen, zu schneiden, zu vernichten. Palmen säen sich von selbst, Zitronenbäume wachsen in erstaunliche Höhen. Der Holunder wuchert. Die Gewächse nehmen einander das Licht weg, den Raum und das Wasser.“

An einer Stelle mitten im Buch beklagt der Erzähler, dass die Bewohner des Gaza-Streifens nur das eine Ziel verfolgen: Israel zu vernichten. Obwohl tausende von Bewohnern im Gaza-Streifen und im Westjordanland, wenn „Frieden“ herrscht, im israelischen Kernland arbeiten, Geld verdienen und beide Volksgruppen einander helfen, werden sie keine echten Nachbarn:

„Nein, wir können sie nicht verstehen. Obwohl sie uns räumlich so nahe sind. Obwohl wir sie täglich sehen und ganz gut zusammenarbeiten. Trotzdem, da ist keine geistige Nähe, kein wirkliches Verständnis. Sie bleiben uns unbegreiflich. In Gaza gibt es keine nennenswerte Industrie oder Landwirtschaft, dort wird nichts entwickelt, erfunden oder exportiert, man lebt von ausländischen Hilfsgeldern, alle Energie mündet in Waffenschmuggel und Waffenbau, in die Herstellung explosiver Substanzen und Raketen…unsere Truppen und Siedler sind vor Jahren abgezogen, nun hätten sie Gelegenheit, den Staat vorzubereiten, nach dem sie sich angeblich so sehnen, seine Grundlagen zu schaffen, etwas aufzubauen, eine eigene Wirtschaft, ein Schul- und Gesundheitswesen, Universitäten, zivile Strukturen für die Bevölkerung…Stattdessen graben sie Tunnel und bauen Raketen. Wie Besessene.“

Der Erzähler berichtet ein Beispiel, wie ein mitleidiger Politiker aus den Niederlanden, der den Gaza-Bewohnern helfen wollte, in seiner Heimat Spenden sammelte für Straßenleuchten und Verkehrszeichen im Gaza-Streifen. Als er ein Jahr später den Gaza-Streifen erneut besuchte, waren dort fast alle Straßenleuchten und Verkehrszeichen verschwunden. Warum? Jemand hatte herausgefunden, dass sich „die Rohre, an denen sie befestigt waren, zum Bau von Geschossen eigneten.“ Von solchen Geschossen getroffen wurde auch der israelische Soldat Yoav Rosenblat, der mit 21 Jahren gefallen ist. Die Schilderung seiner Beerdigung ist eine der tief berührenden Passagen in diesem Buch.

Und dann ist plötzlich „Frieden“, wenn auch alle an seiner Dauer zweifeln. Es ist der 19. Januar 2009. Der ungläubige Erzähler erkennt das vorläufige Ende des Krieges an der plötzlich ausbrechenden Stille: „Schon morgens im Bett spüre ich, dass der Waffenstillstand in Kraft getreten sein muss. Die Stille ist erschütternd. Sie ist geradezu hörbar. Weder das Krachen der Jäger noch das Tackern der Helikopter. Leises Rascheln der Blätter, Klappern der Palmwedel…Es bleibt ein bestürzend ruhiger Tag.“

Dieser Beitrag erschien bereits in der Dezember-Ausgabe der Jüdischen Rundschau. 

 

Dr. Jörg Bernhard Bilke, Jahrgang 1937, ist Literaturwissenschaftler. Wegen angeblicher staatsfeindlicher Hetze wurde er im September 1961 in der DDR verhaftet und zu einer Freiheitsstrafe verurteilt. Er gehörte zu den ersten politischen Gefangenen, die von der Bundesrepublik freigekauft wurden; im August 1964 wurde er aus der Haft entlassen. Er war später Redakteur bei der Welt, dann Herausgeber einer Zeitschrift für osteuropäische Dissidentenliteratur.

Chaim Noll „Die Stille am Morgen nach dem Krieg“, Novelle, XS-Verlag, Berlin 2024, 123 Seiten, 20.00 Euro

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Jochen Lindt / 13.12.2024

Es war keineswegs immer so. Als wir Kinder waren (70er Jahre), da war Israel ein Touristenstaat vergleichbar mit Spanien. Überall westliche Touristen. Die Strände immer voll.  Ich erinnere auch einen Aufenthalt in Jerusalem über Ostern, die Stadt war so überlaufen dass wir Kinder Angst hatten verloren zu gehen, ein Horror. Derartige Touristenmassen erlebte ich erst als Erwachsener wieder - beim Oktoberfest, dass ich seitdem meide.  Aber das ist halt vorbei.  Grund dafür ist die Bevölkerungsexplosion bei allen Konfliktparteien, Nahost ist geradezu Paradebeispiel für Gunnar Heinsohns Herrschaftstheorie.  Verantwortlich ist mMn Europa, nicht mal wegen Holocaust, sondern wegen der Finanzierung der UNRWA und anderer Organisationen, die Bevölkerungsexplosion und Antisemitismus auf seiten der Araber antreiben. Nicht zu vergessen seit 2015 die unbegrenzte Aufnahme islamischer Männer ins EU-Sozialsystem, was wiederum zur Vertreibung der Juden aus Europa führt.

E Ekat / 13.12.2024

Interessant die die Reaktion vieler Israelis, die gegen ihre eigene Kriegs-Regierung protestieren. Es wird mit den verbliebenen, vom Westen ausgehaltenen Palästinensern keinen Frieden geben, weil dies nicht deren Existenzverständnis widerspiegelt. Sie haben nichts anderes als ihre Vision, Israel zu vernichten. Da sie ausgehalten werden, müssen sie sich auch nicht um lebenserhaltende Zielsetzungen bemühen. Die finanzielle Unterstützung des Westens für Gaza bedeutet für Israel daher die Aufrechterhaltung der Kriegsbedrohung. Für welche der Westen Israel dann jedoch verurteilt in jenen Fällen, in denen der Krieg wieder offen ausbricht. Ironischerweise leiden darunter dann auch die Palästinenser massiv, ursächlich eine Folge der Unterstützung durch den Westens. Wird keiner, also auch viele Israelis, können auch einige deutsche Juden offenbar nicht begreifen. Es kann sich so nichts ändern. Zwei Staaten?  Ändern dies das Existenzverständnis von ausgehaltenen Palästinensern ?

Marcel Seiler / 13.12.2024

Chaim Noll schreibt über die Israel umgebenden Muslime: „Nein, wir können sie nicht verstehen ... Obwohl wir sie täglich sehen ... [D]a ist keine geistige Nähe, kein wirkliches Verständnis. Sie bleiben uns unbegreiflich.” – Dieses gegenseitige Unverständnis besteht auch in Deutschland. Der Multikulti-Traum der Verschmelzung “der Menschheit” zu einer planetaren Einheit wird für lange Zeit unrealisiert bleiben müssen: Die grundlegend unterschiedlichen kulturellen Prägungen zu Recht, Gemeinschaft, Familie usw. verhindern ein harmonisches Zusammenleben in einem einzigen Staatswesen, in dem für alle die gleichen Regeln gelten. Die verschiedenen Bevölkerungen leben nach grundlegend verschiedenen, miteinander unvereinbaren Regeln. Das sehen wir auf der Straße, im öffentliche Verkehr und vor allem in den Schulen. Politik, Medien und Linksintellektuelle sind ignorant und hilflos. Auch ich weiß keinen Ausweg.

A. Ostrovsky / 13.12.2024

Kriege enden niemals nachts.

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