Gastautor / 14.05.2010 / 11:05 / 0 / Seite ausdrucken

Eine kleine Theorie des Gutmenschentums

Alexander Schertz

Gutmenschentum (GM) wird hier als das Bestreben definiert, moralischen Zielen auf allen Gebieten Priorität einzuräumen und für ihre Durchsetzung nur moralisch unangreifbare Mittel einzusetzen. Es wird erklärt, warum GM in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu einem Massenphänomen in den westlichen Ländern werden konnte, das vor allem bei der Elite verbreitet und in Europa stärker ausgeprägt ist als in den USA. Es wird nicht versucht, die Entstehung im Detail zu erklären. Die Kritik richtet sich dagegen, dass GM-Denken eine unvoreingenommene Analyse gesellschaftlicher Zusammenhänge behindert, die einseitige Orientierung auf GM-Ziele und ihre ausschließliche Verfolgung mit GM-Mitteln zu Widersprüchen führt und die generelle Diskreditierung eigennützigen Handelns einer positiven wirtschaftlichen und politischen Entwicklung abträglich ist.

Einleitung
„Gutmenschentum“ (im Folgenden mit GM abgekürzt) ist eine abwertende Bezeichnung für eine Denkweise, die in den Ländern der Westlichen Welt sehr verbreitet ist. Es gibt auch eine Gegentendenz, weniger in den traditionellen Medien als in der Welt der Internet-Blogger. Die Kritiker weisen vor allem auf Heuchelei und Weltfremdheit von GM hin. Sie versuchen aber sehr selten, das Phänomen zu analysieren und Alternativen zu GM vorzuschlagen. Darum geht es in diesem Beitrag.

Definition des Gutmenschentums
GM ist das Bestreben, moralischen Zielen auf allen Gebieten Priorität einzuräumen, eigennützige Ziele gar nicht oder nur mit sehr niedrigem Stellenwert gelten zu lassen und für die Durchsetzung der Ziele nur moralisch unangreifbare Mittel einzusetzen. Ein Gutmensch ist eine Person, die mit sich selbst nur im Einklang steht, soweit sie das aus ihrer Sicht wirklich praktiziert, und ansonsten unter Gewissensbissen leidet.

Wesentliche GM-Ziele sind:
- Umweltschutz (vor allem aus Rücksicht auf zukünftige Generationen)
- Menschenrechte
- Möglichst große materielle Gleichheit aller Menschen
- Gleichberechtigung der Geschlechter und sexuellen Orientierungen
- Gleichberechtigung aller Kulturen (weitgehend auch in einem Land)
- Eine den GM-Zielen förderliche sprachliche Ausdrucksweise („political correctness“)

Untergeordnete Ziele sind z. B.:
- Wirtschaft:  Effizienz, Wettbewerbsfähigkeit, Wohlstand
- Energieerzeugung: Effektivität und Versorgungssicherheit
- Außenpolitik:  Stärkung der eigenen Machtposition und die Durchsetzung eigener ökonomischer und sicherheitspolitischer Interessen
- Sprache: Klarheit und Eleganz

Ein Gutmensch ist nach dieser Definition also nicht jeder Mensch, der eines oder mehrere der GM-Ziele besonders engagiert vertritt, sondern nur jemand, der prinzipiell GM-Zielen Priorität gibt, eigennützige Ziele geringschätzt und für die Durchsetzung der GM-Ziele nur GM-Mittel einzusetzen bereit ist.

Einige grundlegende Fragen zum Gutmenschentum
Eine detaillierte historische Erklärung der Entstehung des Gutmenschentums wird hier nicht vorgestellt. Es wird nur versucht, einige grundlegende empirische Tatsachen zu erklären:
- GM ist ein Massenphänomen.
- GM ist erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu einem Massenphänomen geworden.
- GM ist bislang nur in Ländern der westlichen Welt verbreitet.
- GM prägt vor allem das Denken von großen Teilen der gesellschaftlichen Elite.
- GM ist in Europa besonders stark ausgeprägt.
- GM wird meistens nicht konsequent umgesetzt.
- GM wird sehr selten systematisch kritisiert.

Altruistische Veranlagung aller Menschen
Nach der Evolutionstheorie müssen alle allgemein verbreiteten menschlichen Eigenschaften einen Nutzen haben, der die Chancen zur Fortpflanzung verbessert. Altruistisches Verhalten ist für das Individuum nützlich, weil es die Kooperation mit anderen Menschen erleichtert. Nützlich ist es auch, wenn sich ein Mensch nicht nur aus rationalen Erwägungen altruistisch verhält, sondern tatsächlich einen moralischen Antrieb hat, weil ein Kooperationspartner die reine Zweckbestimmtheit von moralischem Handeln durchschauen könnte und deshalb kein wirkliches Vertrauen entwickeln würde. Eine unverzichtbare Voraussetzung für altruistisches Verhalten ist dabei die Fähigkeit des Menschen, sich in andere hineinzuversetzen. Deshalb kann er mit dem Anderen im wahrsten Sinne des Wortes mitleiden. Somit sind moralische Empfindungen ein Produkt der Evolution. Antriebsfedern sind das Gefühl moralischer Befriedigung oder Überlegenheit einerseits und schlechtes Gewissen andererseits. Diese moralischen Triebfedern sind auch die Voraussetzungen des Gutmenschentums.

Religiöse Veranlagung aller Menschen
Vor dem 20. Jahrhundert hat es keine religionslosen Kulturen gegeben. Oberflächlich religionslose Gesellschaften konnten nur durch Zwang zeitweise verwirklicht werden. Das spricht dafür, dass alle Menschen eine religiöse Veranlagung haben. Sie könnte ein Nebenprodukt des evolutionär leicht zu erklärenden Bestrebens des Menschen sein, umfassende Modellvorstellungen zur Welterklärung, verbunden mit moralischen Leitlinien, zu entwickeln.

Aufklärung und Wissenschaft haben in Teilen der westlichen Welt Religionen in der traditionellen Form vor allem dann den Boden entzogen, wenn die Religion von staatlichen Autoritäten bestimmt wurde, wie es in Europa zum großen Teil der Fall war. Das Bedürfnis nach einem Weltbild mit moralischen Leitlinien ist damit nicht verschwunden. Es wurde für viele Menschen ersetzt durch eine säkulare Alternative wie etwa den Sozialismus-Kommunismus. GM ist dazu offensichtlich eine Alternative, vor allem als moralische Handlungsanleitung, aber auch als Modell zur Welterklärung. Die Probleme unserer Zeit werden danach als Folge ungenügender Berücksichtigung der GM-Ziele und dem Einsatz von Mitteln gedeutet, die mit GM nicht vereinbar sind.

Der Beginn der bisherigen Blütezeit von GM fällt (möglicherweise nicht zufällig) mit der zunehmenden Krise des sozialistisch-kommunistischen Religionsersatzes zusammen.  Viele heutige GM-Anhänger waren zuvor in der sozialistisch-kommunistischen Bewegung aktiv. Es gibt auch in vielen Ländern Bewegungen und Parteien, die versuchen, GM mit Sozialismus-Kommunismus unter einen Hut zu bringen. In anderen Fällen, etwa in der früheren DDR, hat der Sozialismus-Kommunismus wieder so stark an Boden gewonnen, dass für GM nicht mehr so viel Spielraum bleibt wie etwa in Westdeutschland.
GM konnte also ein Massenphänomen werden, weil ihm allgemein-menschliche Eigenschaften (Altruismus und Religion) zugrunde liegen.

Warum konnte GM erst im zwanzigsten Jahrhundert zu einem Massenphänomen werden?
Je schwieriger die Lebensbedingungen sind, umso weniger können sich moralische Triebkräfte durchsetzen. Da fast die ganze Menschheit bis weit ins zwanzigste Jahrhundert hinein mit Knappheit zu kämpfen hatte, konnte die moralische Triebfeder nie für einen großen Teil der Gesellschaft zur dominierenden Triebkraft werden, auch wenn sie immer vorhanden war und auch eine beachtliche Rolle gespielt haben mag.

Erst im zwanzigsten Jahrhundert hat die wissenschaftliche und industrielle Entwicklung die Voraussetzungen für die Überwindung der Knappheit der lebenswichtigen Güter in einem Teil der Welt ermöglicht. Die moralischen Triebkräfte konnten nun stärker zur Geltung kommen.

Warum gibt es GM nur in den Ländern der Westlichen Welt?

Die moralischen Triebkräfte sind bei allen Menschen vorhanden. Wie sie sich auswirken, ist aber stark kulturell geprägt. Unterschiede gibt es vor allem insofern, als sich in bestimmten Kulturen der moralische Impetus auf die Familie und Freunde konzentriert, in anderen darüber hinaus geht. Wohlstand für die Mehrheit der Bevölkerung gibt es heute außerhalb der Westlichen Welt nur in einigen Ländern des asiatischen Raums und in manchen arabischen „Ölstaaten“. Dort gibt es keine Tradition der Bürgerbeteiligung an der Politik. Die Moral konzentriert sich darum in hohem Maße auf das engere Umfeld. Eine Verantwortung des Einzelnen für alle Menschen lehren zudem weder der Konfuzianismus noch der Islam.

Günstige Voraussetzungen für die Entwicklung von GM bieten nur die westlichen Länder mit der Lehre des Christentums, dass jeder Mensch ein Nächster sein kann, und einer seit der Antike präsenten Tradition der Bürgerbeteiligung an der Politik.

Warum ist GM in Europa im Vergleich zu den USA besonders stark ausgeprägt?
Mehrere Faktoren begünstigen GM in Europa im Vergleich zu den USA:
- Rückgang der Religion: religiöser Glaube und die Beteiligung an organisierter Religiosität (Gottesdienste etc.) sind in Europa viel stärker rückläufig als in den USA. Die Einhaltung religiöser Gebote (z. B. Fastenvorschriften im Katholizismus) spielt nur noch eine sehr geringe Rolle. So entsteht ein stärkerer Bedarf nach alternativen Weltbildern mit moralischen Leitlinien.
- Traditionell zählt in Europa Gleichheit mehr als Freiheit: die systematische Bevorzugung moralischer Ziele schränkt die persönliche Freiheit stark ein. Das wird in Europa eher hingenommen als in den USA, weil der moralische Wert der Gleichheit im Vergleich zur persönlichen Freiheit hier traditionell ohnehin einen höheren Stellenwert hat.
- Weniger Konkurrenzkampf dank sozialer Netze: weniger Zwang, sich in einer von Konkurrenz bestimmten Umwelt behaupten zu müssen, stärkt die GM-Tendenzen in Europa mehr als in den USA.
- Weniger Beteiligung an militärischen Konflikten: Europa hat seine frühere militärische Bedeutung verloren und war nach dem Zweiten Weltkrieg in viel geringerem Maß als die USA in militärische Konflikte verwickelt. Das hat die Ansicht gefördert, dass sich alle Konflikte ohne Gewalt lösen lassen.
(West-) Deutschland ist vielleicht das Land in Europa, in dem sich GM am stärksten durchgesetzt hat. Die vier Faktoren, die GM in Europa mehr Rückhalt geben als in den USA, sind in Deutschland besonders ausgeprägt. Dazu kommt das chronisch schlechte Gewissen vieler Deutscher wegen der Nazi-Verbrechen im Zweiten Weltkrieg.

Warum ist GM besonders bei der gesellschaftlichen Elite verbreitet?
Die Elite ist aus mehreren Gründen empfänglicher für GM:
- Höherer Wohlstand:  ebenso, wie die Steigerung des durchschnittlichen Wohlstands mehr Spielraum für GM-Tendenzen erzeugt, neigen innerhalb einer Gesellschaft eher die privilegierten Schichten zu GM.
- Höhere Bildung: Schul- und Universitätsbildung vermitteln nicht nur Wissen, sondern auch moralische Werte. Lehrer und Professoren neigen heute in besonderem Maße zu GM. Sie verstärken die GM-Tendenzen der gesamten Elite.
- Nutzung von Medien mit höherem Niveau: Medien mit höherem Niveau sind, was die Vermittlung moralischer Werte angeht, eine Fortsetzung der Schulbildung. Journalisten in diesem Teil der Medien spielen eine ähnliche Rolle wie Lehrer und Professoren.
Warum neigt die Elite nicht immer zu GM? Altruistische Tendenzen bei den oberen Schichten werden in Gesellschaften mit extremen Einkommens- und Vermögensunterschieden und extremer Armut der unteren Schichten durch die Furcht der Reichen vor den Folgen einer Umverteilung stark gebremst. Das ist ein Grund dafür, warum man z. B. bei der lateinamerikanischen Oberschicht kaum GM-Tendenzen findet. Bei der westeuropäischen Ober- und vor allem der Mittelschicht ist dagegen GM sehr verbreitet.

Warum wird GM meistens nicht konsequent umgesetzt?
Wenige GM-Anhänger leben konsequent nach ihren Idealen. Konsequente Priorität für moralisch bestimmtes Handeln auf allen Gebieten würde z. B. bedeuten, dass GM-Anhänger einen großen Teil ihres Einkommens an Bedürftige im In- und Ausland abgeben und auf die Verwendung von Autos und Flugzeugen ganz verzichten müssten. GM-Engagement ist aber umso konsequenter, je weniger es kostet. Mülltrennung verlangt z. B. keine allzu großen persönlichen Opfer. Oft werden auch GM-Forderungen an „die Gesellschaft“ oder den Staat gerichtet, wobei offen bleibt, wer die Rechnung bezahlen soll. Warum ist GM meistens so inkonsequent?
Die Menschheit hat viele tausend Jahre im Mangel gelebt. Erst seit kurzer Zeit genießt eine Minderheit Wohlstand. Altruistisches Verhalten hatte zwar auch in der Mangel-Welt einen beachtlichen Nutzen. Evolutionär hat sich aber vor allem auch eine überwiegende Bevorzugung des eigenen Vorteils bzw. des Vorteils der eigenen Verwandten ausgezahlt und darum als eine grundlegende menschliche Eigenschaft durchgesetzt. Auch GM-Anhänger haben die Veranlagung, sehr auf ihren eigenen Vorteil zu achten.

Die heute etwa Sechzigjährigen in den Ländern der Westlichen Welt sind die erste Generation in der Geschichte der Menschheit, die überwiegend im Wohlstand aufgewachsen ist. Das Verhältnis der Intensitäten von eigennützigen und altruistischen Antrieben ist aber biologisch von den Bedingungen des Mangels geprägt. Offenbar wirkt sich das so aus, dass das altruistische Verhalten zwar zugenommen hat, aber eigennütziges Verhalten immer noch dominiert und der Druck der Gewissensbisse entsprechend zugenommen hat.

Warum wird GM sehr selten systematisch kritisiert?
Moralischen Werten die höchste Priorität zu geben, kann doch nicht schlecht sein, oder? Weil jeder Mensch auch moralische Triebfedern hat, ist ein innerer Widerstand zu überwinden, bevor man Kritik am GM üben kann. Weil diese Triebfedern gerade bei Menschen mit höherer Bildung besonders entwickelt sind und andere Menschen weniger dazu in der Lage sind, GM zu analysieren, ist eine systematische GM-Kritik so selten.

Was ist schlecht am Gutmenschentum?
GM ist eine Denkfalle
GM behindert die freie und unvoreingenommene Analyse gesellschaftlicher Zusammenhänge, weil sie von vorneherein bestimmten Aspekten ein Übergewicht gibt und die Beschäftigung mit anderen Fragen als moralisch fragwürdig erscheinen lässt. Ein kleines Beispiel ist die Behandlung der Geschichte der Sklaverei in den USA in den Medien. Die Aufmerksamkeit konzentriert sich gewöhnlich ganz auf die Aspekte der Ausbeutung, der Brutalität und des Freiheitskampfes. Die Funktionsweise des Systems, die Frage seiner Wirtschaftlichkeit und andere interessante Aspekte werden äußerst selten angesprochen.

Widersprüchlichkeit von GM-Zielen und -Mitteln
In der Realität sind GM-Ziele untereinander und GM-Ziele und –Mittel häufig widersprüchlich. Z. B. setzt die Verwirklichung von Menschenrechten wie ausreichende Ernährung, Bildung, Gesundheitsversorgung etc. eine wirtschaftliche Basis voraus, die ohne Beeinträchtigung der natürlichen Umwelt meistens nicht zu erreichen ist. Wirtschaftlicher Erfolg erfordert auch, sich gegen Konkurrenten durchzusetzen und dabei anderen zu schaden.  Menschenrechte wie das Recht auf freie Meinungsäußerung sind nicht immer nur mit friedlichen Mitteln erreichbar.

GM-Anhänger neigen in solchen Konfliktfällen dazu, lieber den ihren Zielen widersprechenden Zustand hinzunehmen, als die ihrer Ansicht nach unzulässigen Mittel zur Änderung des Zustands einzusetzen. Am deutlichsten erweist sich das bei der generellen Ablehnung militärischer Mittel, weil sie im schärfsten Gegensatz zur GM-Haltung stehen. Mit unrealistischen Lösungsvorschlägen versuchen GM-Anhänger, sich aus dieser Widersprüchlichkeit zu befreien. Damit stellen sie sich dem Einsatz der tatsächlich erforderlichen Mittel in den Weg und verschärfen die Probleme.

Die Diskreditierung des Eigennutzes
Höchste Priorität für moralische Ziele steht im Gegensatz zu persönlicher Freiheit. Andererseits kann durch Einschränkung der persönlichen Freiheit zur Förderung der typischen GM-Ziele (Umweltschutz, Verhinderung absoluter Armut etc.) unter Umständen der Gesamtnutzen für die Gesellschaft vergrößert werden. Problematisch am GM-Denken ist nicht, dass es solche Ziele anstrebt, sondern dass es ihnen generell (zumindest in der Theorie) den Vorrang einräumt und eigennütziges Verhalten diskreditiert, weil Eigennutz die stärkste Triebfeder menschlichen Handelns ist, die nicht nur den Stärkeren nützt, sondern für die gesamte Gesellschaft unverzichtbar ist.

Die Ideen von Adam Smith sind vielleicht die bekannteste wissenschaftliche Theorie, nach der Bestrebungen von Menschen mit der Absicht, nur ihren eigenen Nutzen zu mehren, sich letztlich auf wirtschaftlichem Gebiet zum Vorteil vieler anderer Menschen auswirken können, obwohl das Glück dieser Menschen den Urhebern der Entwicklung völlig gleichgültig gewesen sein kann. Die Erfahrung, dass nur marktwirtschaftliche Systeme, die dem eigennützigen Streben viel Freiheit lassen, einen Wohlstand für die Mehrheit der Bevölkerung ermöglicht haben, spricht dafür, dass Smith Recht hatte. Alle Versuche, ohne die Triebfeder des Eigennutzes auszukommen oder ihre Bedeutung zumindest stark einzuschränken, sind gescheitert.

GM kann Eigennutz nicht ersetzen. Auch GM-Anhänger könnten sich davon leicht selbst überzeugen. Warum ändert das ihre Denkweise nicht? Das Problem liegt wohl darin, dass keine unmittelbare Verbindung zwischen dem eigennützigen Handeln und dem gesellschaftlichen Nutzen besteht. Nur eine solche direkt erfahrene Verbindung könnte aber von Gewissensbissen entlasten. Von ihrem moralischen Impuls geleitet, neigen GM-Anhänger deshalb dazu, den indirekten Zusammenhang zu übersehen.

Wenn Eigennutz vermittelt über die Funktionsweise des Marktes allen Mitgliedern einer Gesellschaft hilft, schadet die Herabsetzung des Eigennutzes letztlich allen. Priorität für das Gute führt in diesem Fall zum Schlechten.

Auch Machtpolitik zum eigenen Nutzen kann letztlich vielen Menschen einen „Kollateralnutzen“ bringen, der sonst für sie unerreichbar wäre, vor allem wenn fortgeschrittene Länder ihren Machtbereich in eigennütziger Absicht ausdehnen. Beispiele sind das Römische Reich in der Antike und der heutige Einflussbereich der USA. Allerdings ist Machtpolitik nicht immer zum Nutzen anderer. Voraussetzung für eine positive Wirkung ist ein aufgeklärtes Verständnis der Mächtigen von Eigennutz, nach dem für andere eine partnerschaftliche Rolle vorgesehen ist. So haben die USA nach dem 2. Weltkrieg erkannt, dass ein wiederaufgebautes florierendes Deutschland mit eigenständiger Politik ihnen viel mehr nutzen würde als ein auf einen Agrarstatus herabgedrücktes Land, und haben eine entsprechende Entwicklung gefördert, sehr zum (Kollateral-)Nutzen des gerade besiegten Kriegsgegners.

Wer wegen der GM-Ziele der Gleichberechtigung aller Länder und Kulturen Machtpolitik zum eigenen Nutzen generell ablehnt und bekämpft, schränkt die Entwicklungsmöglichkeiten von Ländern ein, die aus eigener Kraft nicht so weit kommen können wie unter dem Einfluss einer aufgeklärten Weltmacht.

Eine Alternative zum Gutmenschentum
„Schlechtmenschentum“ ist keine Alternative
Eine erstrebenswerte Alternative zum Gutmenschentum ist nicht ein rücksichtsloses „Schlechtmenschentum“, bei dem jeder gegen jeden nur für seine eigenen Interessen eintritt und nur das Recht des Stärkeren gilt. Eine völlig einseitige Vertretung eigener Interessen bringt dem Individuum nicht den größten Nutzen. Der Altruismus in der Natur des Menschen ist evolutionär entstanden, weil er dem Individuum die Kooperation mit anderen erleichtert. Es ist darum letzten Endes für jeden einzelnen Menschen vorteilhaft, sich auch von dieser Triebfeder leiten zu lassen. Ebenfalls ist es für das Individuum vorteilhaft, alle Ziele, gleich ob altruistisch oder eigennützig, so weitgehend wie möglich mit friedlichen Mitteln anzustreben.

Ablehnung der Beschränkung auf GM-Ziele und -Mittel
In vielen Fällen ist es notwendig, bestimmte GM-Ziele zurückzustellen, um andere zu erreichen. Zur Erreichung der Ziele sind auch mit GM nicht vereinbare Mittel einzusetzen, wenn nur so eine positive Gesamtbilanz zu erreichen ist. Z. B. hat Wohlstand für alle Menschen auf der Welt seinen Umwelt-Preis. Solange weite Teile der Welt weit von den rechtsstaatlichen Verhältnissen der Europäischen Union oder der USA entfernt sind, kann auf den Einsatz militärischer Mittel nicht generell verzichtet werden. Dabei rechtfertigt nicht nur das weltweite Engagement für Menschenrechte Militäreinsätze, sondern u. U. auch die Verfolgung legitimer eigennütziger Ziele wie einer gesicherten Energie- und Rohstoffversorgung. Beispielsweise könnte ein Militäreinsatz westlicher Staaten geboten sein, wenn Saudi-Arabien von einem islamistischen Umsturz bedroht wäre, ungeachtet einer ungünstigen Menschenrechtsbilanz der bisherigen Machthaber in diesem Land.

Gegen die Diskreditierung des Eigennutzes
Sehr negativ wirkt sich die GM-Tendenz aus, eigennütziges Verhalten herabzusetzen und moralischen Zielen generell Priorität zu geben. In der Wirtschaft wie in der Politik ist der Eigennutz die wichtigste, unverzichtbare Kraft, die Menschen aktiviert. Der höchste Gesamtnutzen für die Gesellschaft ist nur zu erreichen, wenn diesem Eigennutz keine moralischen Fesseln angelegt, sondern nur moralisch bestimmte Grenzen gesetzt werden.

Haben wir das nicht heute schon? Ist das wirklich neu? Ja, das wäre tatsächlich eine Umorientierung. Wir haben zwar heute z. B. in Deutschland eine Marktwirtschaft, in der viele Akteure zum eigenen Nutzen wirken und die Entwicklung vorantreiben. Nur deshalb geht es uns noch verhältnismäßig gut. Gleichzeitig sind den wirtschaftlichen Aktivitäten durch Gesetze zum Arbeits- und Umweltschutz und vieles andere Grenzen gesetzt. Das sollte im Grundsatz so bleiben. Ändern sollte sich aber die Einstellung insbesondere der Elite, die die Legitimität und den gesellschaftlichen Nutzen eigennützigen Verhaltens immer weniger anerkennt und ihre GM-Vorstellungen über Schulen und Medien immer stärker durchsetzt. Welcher Junge (von Mädchen ganz zu schweigen) hat denn heute noch das Ideal, ein reicher Unternehmer zu werden oder ein starker Politiker, der viel dazu beiträgt, den Interessen Deutschlands, Europas oder des Westens weltweit Geltung zu verschaffen (oder gar ein General zu werden– igitt!)? Wenn er das möchte, tut er in dem heutigen Klima gut daran, darüber zu schweigen und so zu tun, als wollte er am liebsten Klimaschützer oder etwas Ähnliches werden. Es gilt, sich mit der hinter diesen Berufswünschen stehenden Denkweise auseinanderzusetzen. Ein aufgeklärter Eigennutz mit einem Schuss Altruismus sollte Leitlinie der Erziehung werden.

Schlussbemerkung
Das Gutmenschentum ist nach Ansicht des Autors heute in den westlichen Ländern eine starke Tendenz, die viele Probleme verursacht und eine scharfe Auseinandersetzung erfordert. Dabei ist aber nicht zu vergessen, dass der reine „Gutmensch“ ein geistiges Konstrukt ist, wenn auch ein nützliches. Eine scharfe Trennung zwischen Gutmenschen und anderen Menschen existiert nicht. Es gibt auch keine Patentrezepte, die GM-Vorstellungen als die einzig wahre Alternative gegenüber gestellt werden könnten. GM-Kritiker sollten nicht vergessen, dass in jedem Einzelfall auch ein „Gutmensch“ gegen seine Kritiker immer Recht haben kann. Gerade in den Blogs, die sich mit GM auseinandersetzen, werden solche eigentlich trivialen Grundsätze nicht immer beachtet.

Alexander Schertz ist Diplom-Physiker

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