Julian Marius Plutz, Gastautor / 15.09.2020 / 06:25 / Foto: NARA / 66 / Seite ausdrucken

Eine kleine Geschichte über Cancel Culture

Auseinandergeh‘n ist schwer, das wusste nicht nur die Band Wanda. Doch manchmal passiert es eben und man kann nichts daran ändern. Menschen leben sich auseinander, falls sie jemals aneinander waren. Das tut weh. Und ganz selten ist eine Trennung auch so etwas wie ein Neustart in eine ganz andere Sphäre mit dieser Person.

Manchmal aber ist es weniger verkopft, dafür umso banaler und nicht mit Schmerzen verbunden, sondern idiotisch und intellektuell dürftig. Das Beenden einer guten Bekanntschaft, unter anderen aufgrund politischer Überzeugung, ist für mich neu. Aber gut, Ziehende soll man bekanntermaßen nicht aufhalten, auch wenn man bei stehengelassenen Weinflaschen nicht nur einen angenehmen Abend verbrachte.

Cancel Culture ist weder links noch rechts – Sie ist illiberal

Dieses Stück soll weder Abrechnung noch Trauerschrift werden. Für beides fehlt es mir an Motivation und am Ende des Tages auch, da bin ich ehrlich, fehlt es an letzter Relevanz. Wer Kontakte und gar Freundschaften an ein Gelöbnis einer bestimmten Richtung knüpft, mindestens jedoch auf das Lossagen anderer, unliebsamer Auffassungen erwartet, der begeht einen schweren, sozialen Fauxpas. Und dennoch: Dieses Verhalten passt wie der Arsch auf den Eimer und untermalt den hiesigen Zeitgeist. Wird doch seit längerer Zeit so allerhand Meinung, respektive derer, die sie ausdrücken, ausgesperrt. 

Das ist also diese Cancel Culture, die es laut der Kritiker an dem Begriff gar nicht gibt. Für sie ist der Begriff ein Narrativ sogenannter Rechter, um einen verschrobenen Freiheitsbegriff zu proklamieren. Die Wahrheit ist aber, das übersehen die wohl situierten Kritiker in den Redaktionsstuben, dass eine Kultur des Mundtotmachens fremder Standpunkte die Pluralität der Meinungen einschränkt. Wenn Sarrazin sein Buch nicht vorstellen kann, weil Antifanten dies zu verhindern wissen, oder Bernd Lucke von einer Horde von Wahnsinnigen niedergebrüllt wird, eine Mozart-Oper nicht aufgeführt wird, weil unter anderem Mohammed geköpft wird, oderoderoder, kann das nicht im Sinne der freien Meinungsäußerung sein. Cancel Culture betrifft übrigens auch linke Aktivisten. Wenn „Feine Sahne Fischfilet“ bedroht wird und Probleme hat, aufzutreten, dann ist das ebenso zu verurteilen.

Cancel Culture ist keinesfalls links, geschweige denn rechts. Sie kennt keine Richtung, außer die der Beschneidung der Freiheit. Nichts anderes machte McCarthy in der nach ihm benannten Ära der Hatz auf alles, was irgendwie kommunistisch sein könnte. Zum Beispiel wurde der Atomphysiker Robert Oppenheimer von der US-amerikanischen Atombehörde entlassen, schlicht weil er den Herrschenden zu links war. Auch vor der Kunst machte die Rechte in den Staaten nicht halt. 151 Namen umfasste die schwarze Liste, darunter Drehbuchautoren, Schauspieler und Filmemacher, die McCarthys Schergen zu weit nach links abbogen – die Listung kam einem Berufsverbot gleich. Die Gelisteten waren in ihrem Metier gebrandmarkt und keiner wollte sie mehr beschäftigen, aus Angst, selbst gelistet zu werden. Es handelte sich hier um Kontaktschuld der brutalsten Art. 

Ansichten sind durch unliebsame Menschen kontaminiert

Die Zeiten haben sich gottlob gewandelt. Heute ist es eher ungewöhnlich, als Vertreter der Kunst- und Kulturszene keine linken Überzeugungen zu vertreten, was auch im Prinzip kein Problem ist. Es wird erst dann zu einem, wenn sich ein Antiliberalismus etabliert, der zwar nicht, wie im Falle McCarthy, von oben angeordnet ist, jedoch trotzdem nicht weniger wirkt. Impliziter kommt sie daher, die neue Cancel Culture, raffinierter, wenn auch nur auf den ersten Blick. Denn schaut man ein wenig genauer hin, ist die Haltung hinter den Zensoren die gleiche wie die von McCarthy und Konsorten: „Wir wollen euch nicht. Wir wollen eure Meinung nicht ertragen. Hier ist nur Platz für uns.“ Dieses inzestuöse Verhalten, was die Pluralität von Meinungen angeht, wird absolutistisch und gefährlich. Denn nur in der Kontroverse liegt die Chance auf Erkenntnis. 

Daher halte ich den Aufruf Appell für freie Debattenräume von Milosz Matuschek und Gunnar Kaiser für so unfassbar wichtig. Menschen wie Hamed Abdel-Samad, Günter Wallraff, Vince Ebert oder Prof. Susanne Schröter, letztere – wie viele Unterzeichner selbst – von Cancel Culture bedroht, gehörten zu den Ersten, die ihre virtuelle Unterschrift setzten. Menschen aller politischen Couleur, die eines gemeinsam haben: Sie sorgen sich um die freie Rede in Deutschland.

Übrigens: Die Recherchen der Süddeutschen zu dem Appell, die in diesen schrecklichen Artikel mündeten, führten zu einem weiteren Beispiel von Cancel Culture. Der Kulturschaffende Alexander Kluge zog seine Unterschrift zurück, nachdem ihm die Zeitung mitteilte, wer da noch so alles unterschrieben hatte. Genau von diesem Mechanismus lebt die Cancel Culture: Es ist nicht wichtig, was man sagt. Wichtig ist, welche Personen es noch sagen. Es kann sein, dass ein Rechter einmal etwas Vernünftiges sagt oder sich für etwas Unverfängliches, ja sogar Positives einsetzt. Und jetzt? Ist die vernünftige Sache nun kontaminiert, weil eine sogenannte persona non grata sich ebenfalls um diese Sache schert? Und vor allem: Wer entscheidet das?

Ohne freie Rede kann die Würde des Menschen einpacken

Der Autoritarismus beginnt zu sprießen, wenn Selbstverständlichkeiten aufgegeben werden. Eine davon in der liberalen Gesellschaft ist die Pluralität der Argumente. Doch Linke können noch so laut ihre selbstkreierte Vielfalt beschwören: Wenn diese da endet, wo ihre eigenen Ansichten enden, ist sie wertlos. Dann wird der bunte Regenbogen zu einem entsättigten Strahl, bei dem der eine Grauton wie der andere aussieht. So verspießt, so fad, ganz ohne Erkenntnis und ganz und gar ohne Chance auf Mehrwert in Diskussionen, geht es bei vielen Zensoren zu.

Das sind die, die behaupten, es gäbe keine Cancel Culture. In Wahrheit „canceln“ sie, bis der Doktor kommt, weil sie genau wissen: Sie haben den Mainstream auf ihrer Seite. Ihnen ist klar, dass sie vom Absetzen fremder Meinungen profitieren, was logisch ist. Denn in dem Moment wird ihre, in der Regel völlig unmaßgebliche Sicht der Dinge, exklusiv. Im „Schuhladen des einen Schuhs“ ist selbst der Gesundheitslatschen der heiße Scheiß. 

Die Ironie meiner „Cancel Culture Erfahrung“ ist, dass ein Auslöser ein Kommentar von mir war, der „Die Einsamkeit der Zweifler“ hieß. Ein klein wenig allein fühlt man sich dann doch. Es hört aber schnell wieder auf, wenn man weiß, dass es viele andere gibt, für die freie Rede noch etwas bedeutet und einen Wert an sich darstellt. Denn genau das ist sie. Dieses ganze Gerede von Verfassungspatriotismus ist nicht eine Mark wert, wenn die Meinungsfreiheit mit Füßen getreten wird. Dann kann die Würde des Menschen einpacken. 

Die Würde der freien Rede ist absolut. Sie ist radikal. Sie kann verzeihen und sich zurücknehmen. Sie ist aber immer da, selbst wenn sie keine Rolle spielt. Denn am Ende geht es um Bekanntschaften, um Liebe und lange Abende mit stehengelassenen Weinflaschen. 

Dieser Beitrag erschien zuerst auf Julian Marius Plutz' Blog.

Sie lesen gern Achgut.com?
Zeigen Sie Ihre Wertschätzung!

via Paypal via Direktüberweisung
Leserpost

netiquette:

Frank Dom / 15.09.2020

Hatte mich schon gewundert, warum Alex K unterschrieben hatte. Jetzt passt es aber wieder.

Andreas Mertens / 15.09.2020

Die Armee der Maulkorbverteiler eifert einfach nur Mark Twain nach. Sagte der doch schon: “Tiere sind die besten Freunde. Sie stellen keine Fragen und kritisieren nicht.” Vielleicht auch daher das Bedürfnis aller rechten wie linken Ideologien ihre Gegner zu Tieren zu reduzieren bevor man sich ihrer dann endgültig entledigt. Hildgard Hamm-Brücher antwortete mir einst auf die Frage was die Liberalen von den Rechten und Linken (Parteien) unterscheidet: “Junger Mann sie müssen noch viel lernen, aber eines müssen sie sofort lernen. Echte Liberalität unterscheidet nicht zwischen Rechts und Links, sondern nur zwischen einem mehr und einem Weniger an Freiheit” Klarer hat es seit dem Niemand mehr auf den Punkt gebracht.

Wilfried Cremer / 15.09.2020

Wobei McCarthys Theorie des Dominoeffekts nicht falsch begründet war, nur in der Praxis übertrieben. Der Vergleich ist also substanziell daneben. Ansonsten: Daumen hoch!

Rainer Nicolaisen / 15.09.2020

Daß das linksradikale Blatt SZ Leute um Rechtfertigung anruft, ist erstens eine Schande, daß dann auch Angerufene, statt sofort aufzulegen, meinen, sich rechtfertigen zu müssen, eine große Schwäche.

beat schaller / 15.09.2020

Sehr treffend Herr Plutz, ich bin beeindruckt. Vielleicht hilft es, wenn, wie in diesem Artikel, die Sprache etwas rauer daher kommt und dafür vielleicht sogar verständlicher ist? Danke! b.schaller

Harald Unger / 15.09.2020

“Cancel Culture ist keinesfalls links, geschweige denn rechts. Sie kennt keine Richtung, außer die der Beschneidung der Freiheit.” Das wäre die hochspannende Einflugschneise gewesen, sich dem Thema zu nähern. Stattdessen entscheidet sich Julian Marius Plutz, noch einmal zusammenzufassen, mit vielen schönen Beispielen, wie ein Wasserläufer (Gerridae) die CC wahrnimmt, der sich des Ozeans unter der Oberfläche nicht gewahr werden kann. - - - Will man wirklich verstehen, den Dingen auf den Grund gehen, die Mechanik offenlegen, muss man einmal den Schritt wagen, von der immer und immergleichen Beschreibungsebene abzuspringen. - - - So aber bleibt die CC in einem vagen Sosein, sie ist irgendwie entstanden und hat sich seither irgendwie entfaltet und jetzt ist sie halt irgendwie da. Was natürlich auch irgendwie nicht so gut ist. Wie die stehengelassenen Weinflaschen.

Uwe Schäfer / 15.09.2020

Einspruch! Wenn die asoziale und menschenverachtende, zu Terror aufrufende, sogenannte Band “Feine Sahne Fischfilet” daran gehindert wird ihren Dreck zu verbreiten, ist das nicht zu verurteilen! Es ist anständig. Es sei denn, man hat verinnerlicht, dass auch der ekelhafteste Schund, der dazu aufruft Menschen abzuschlachten, ein Existenzrecht hat. Für mich gehört solches Gesocks nicht auf eine Bühne, sondern für lange Zeit in ein knüppelhartes Arbeitslager, für die geistige Gesundung.

Andreas Rühl / 15.09.2020

Das Persönliche ist ein Ding, irre Isolation, in die der abtrünnige geraten kann. Aber viel wichtiger ist doch der Sinn der freien Rede und, korrespondieren, die fähigkeit der Rezipienten, die Meinung des abtrünnigen zu ertragen und in den diskurs aufzunehmen. Der Sinn und Zweck der freien Rede in einer offenen Gesellschaft ist es, eine gemeinsame Entscheidung, dass heißt hier mehrheitsentscheidung, kurz einen Beschluss, herbeizuführen. Die schwarmintelligenzforschung lehrt uns, wie schon Popper, dass die Entscheidungen um so besser sind, je mehr daran beteiligt sind. Meinungspluralismus ist also keine Frage eines ethischen Diskurses, sondern bezweckt, fuer die Gemeinschaft nützliche oder weniger schädliche Beschlüsse zu treffen. Das war der Sinn und Zweck aller Auseinandersetzungen in Versammlungen, ob in einem Thing oder im Rat der 500 oder im römischen Senat. Streitkultur ist kein Selbstzweck wie trockenuebungen im soziologischen oberseminar. An ihr entscheidet sich die zukunft aller, sie ist angewandte Vernunft. Darum geht es uns nicht darum, dass man den Wein am Ende selbst saufen muss.

Weitere anzeigen Leserbrief schreiben:

Leserbrief schreiben

Leserbriefe können nur am Erscheinungstag des Artikel eingereicht werden. Die Zahl der veröffentlichten Leserzuschriften ist auf 50 pro Artikel begrenzt. An Wochenenden kann es zu Verzögerungen beim Erscheinen von Leserbriefen kommen. Wir bitten um Ihr Verständnis.

Verwandte Themen
Julian Marius Plutz, Gastautor / 07.06.2023 / 14:00 / 23

Arbeitsmarkt im Mai: Viele ungelernte Migranten

In Deutschland haben 2,5 Millionen Menschen zwischen 20 und 34 keine Berufsausbildung – jeder zweite davon hat Migrationshintergrund. Diese Ungelernten haben auf dem Arbeitsmarkt kaum eine…/ mehr

Julian Marius Plutz, Gastautor / 05.05.2023 / 16:00 / 26

Arbeitsmarkt im April: Jobs verschwinden, das Bildungsniveau sinkt

Während die Klebekinder Paul Lafargues Motto „Das Recht auf Faulheit“ ins 21. Jahrhundert transportieren, sinkt das Bildungsniveau in Deutschland. Einwanderung hilft da kaum, denn es…/ mehr

Julian Marius Plutz, Gastautor / 03.04.2023 / 16:00 / 12

Arbeitsmarkt im März: Agenda-Erfolge und Migranten-Arbeitslosigkeit

Fachkräfte werden fast überall gesucht, selbst ältere sind auf dem Arbeitsmarkt gefragt, derweil sind Menschen „mit Migrationshintergrund“ unter Arbeitslosen und Bürgergeldempfängern deutlich überrepräsentiert. Ich weiß…/ mehr

Julian Marius Plutz, Gastautor / 02.03.2023 / 16:00 / 26

Arbeitsmarkt im Februar: Massenentlassungen angekündigt

Etliche große Unternehmen kündigen massiven Stellenabbau an. Derweil gefällt sich die Bundesanstalt für Arbeit in Symbolpolitik. Ein weitverbreitetes Phänomen ist die kognitive Dissonanz. Die Psychologie…/ mehr

Julian Marius Plutz, Gastautor / 06.02.2023 / 14:00 / 25

Arbeitsmarkt im Januar – Die Fachkräfte verlassen Deutschland

Die offiziellen Arbeitslosenzahlen blenden weiterhin viele Arbeitslose aus, und beim Fachkräftemangel soll Zuwanderung helfen. Dabei wird gerade die Abwanderung der deutschen Fachkräfte zunehmend zum Problem. Andrea…/ mehr

Julian Marius Plutz, Gastautor / 03.01.2023 / 14:00 / 12

Arbeitsmarkt 2023: Ein Ausblick ohne viel Hoffnung

Haben Sie auch die Nase voll von 2022? Rückblicke des Grauens, des Grusels und der Gräueltaten? Ähnlich ging es bei einem meiner Themen, dem Arbeitsmarkt,…/ mehr

Julian Marius Plutz, Gastautor / 02.12.2022 / 12:00 / 21

Arbeitsmarkt im Dezember – kaum Entspannung

Die Lage am Arbeitsmarkt bleibt prekär. Und das geplante „Bürgergeld”, das erst recht keinen Anreiz schafft, eine Beschäftigung anzunehmen, ist geeignet, die sozialen Spannungen im Land weiter zu…/ mehr

Julian Marius Plutz, Gastautor / 03.11.2022 / 16:00 / 19

Arbeitsmarkt im Oktober: Azubis fehlen an allen Ecken

Azubis werden in allen Branchen händeringend gesucht. Dax-Konzerne wie Continental oder Commerzbank können nicht alle ihre Ausbildungsstellen besetzen. Das Zauberwort als Lösungsvorschlag der Linken ist…/ mehr

Unsere Liste der Guten

Ob als Klimaleugner, Klugscheißer oder Betonköpfe tituliert, die Autoren der Achse des Guten lassen sich nicht darin beirren, mit unabhängigem Denken dem Mainstream der Angepassten etwas entgegenzusetzen. Wer macht mit? Hier
Autoren

Unerhört!

Warum senken so viele Menschen die Stimme, wenn sie ihre Meinung sagen? Wo darf in unserer bunten Republik noch bunt gedacht werden? Hier
Achgut.com