Der US-Vizepräsident mahnte Europa in öffentlicher Rede, Demokratie und Freiheit nicht der Angst vor eigenen Bürgern mit anderer Meinung zu opfern. Es klang wie einst die Stimme aus dem freien Westen, doch deutsche Politiker sind empört.
Die Älteren aus dem Sendegebiet erinnern sich vielleicht noch an die Selbstbeschreibung des RIAS – die Abkürzung stand für Rundfunk im amerikanischen Sektor, betrieben im Auftrag der US Information Agency: „Eine freie Stimme der freien Welt“. Gesendet wurde vor allem in die unfreie Welt, also konkret in die DDR. Und gelegentlich klangen Kommentare ein wenig nach einem Grundkurs in Sachen Freiheit und Demokratie, gern auch mal mit Pathos gewürzt, um Emotionen zu wecken.
Streckenweise erinnerte der Ton der gestrigen Rede des US-Vizepräsidenten JD Vance auf der Münchner Sicherheitskonferenz an diese „Stimme der freien Welt“. Nein, das soll jetzt weder ein billiger DDR-Vergleich sein, noch soll das erlesene Publikum im „Bayerischen Hof“, dem traditionellen Veranstaltungsort der Konferenz, mit dem RIAS-Hörer im SED-Staat verglichen werden. Aber es ist selten geworden, dass Demokratie und Freiheit in so klaren, einfachen Sätzen hochgehalten werden. Auch dass es einem Zuhörer inzwischen auffällt, wenn in einer offiziellen Rede eines Regierungsmitglieds nur von Demokratie und Freiheit die Rede ist und nicht von „unserer Demokratie“ oder „unserer Art, die Freiheit zu leben“, ist bemerkenswert.
Dass es mittlerweile fürs hiesige Publikum ebenso auffällig ist, wenn es einem Regierungsmitglied in freier oder frei wirkender Rede gelingt, eine halbe Stunde lang in klaren Sätzen einen Gedankengang stringent zu verfolgen, liegt allerdings wohl nur daran, dass das rhetorische Niveau des deutschen Führungspersonals schon vor geraumer Zeit in den Energiesparmodus heruntergefahren wurde.
Aber zurück zum Vizepräsidenten. Zuerst schienen eine ganze Reihe seiner Zuhörer in München nach der Rede in eine Art Schockstarre verfallen zu sein. Auch das sonst stets dienstbereite Medien-Kommentariat schwieg zunächst auffällig. Das war einigermaßen verwunderlich, weil sowohl Politiker als auch Meinungsbildner vor der Vance-Rede in München in ängstlichen Erwartungen wetteiferten. Der aussichtsreiche CDU-Kanzlerkandidat Friedrich Merz sprach am Vorabend im ZDF sogar von der nächsten Zeitenwende, die diese Rede markieren könnte. Bei solch vollmundig beschriebenen Erwartungen rechnet man doch dann wohl mit allem, oder?
Anmahnen auf Augenhöhe?
Offenbar hatte man sich nur darauf vorbereitet, dass Vance im Wesentlichen zur Verteidigungspolitik und vor allem über Trumps Telefonat mit Putin über neue Verhandlungs-Initiativen zur Beendigung des Ukraine-Kriegs sprechen würde. Bundeskanzler Olaf Scholz hatte mehrfach öffentlich angekündigt, dass er bei den Amerikanern die Beteiligung der Ukraine an Friedensgesprächen auf Augenhöhe anmahnen werde. Immerhin hat er nicht das Anmahnen selbst auf Augenhöhe versprochen, denn das wäre eine zu offenkundige Selbstüberschätzung. Zumal außer ihm selbst sicher niemand glaubt, dass er noch einmal eine Amtszeit als Kanzler vor sich hat. JD Vance hatte denn auch in München auf eine Begegnung mit dem Noch-Kanzler verzichtet und sich stattdessen dem vermutlichem Nachfolger Merz zugewandt.
Aber Vance sprach nicht über die Ukraine in seiner Rede, sondern über die Bedrohungen von Europas Freiheit und Demokratie von innen. Waren denn die hiesigen Zuhörer seiner Rede davon wirklich so sehr überrascht?
Vance hatte Europa und Deutschland zuvor in einem Interview mit dem Wall Street Journal bereits aufgefordert, „den Aufstieg der Anti-Establishment-Politik“ anzuerkennen. Er werde deutschen Politikern daher auch raten, mit allen Parteien, einschließlich der AfD, zusammenzuarbeiten.
Der US-Vizepräsident ruft zum Abriss der Brandmauer auf. Ein Ruf, der wie Donnerhall in der deutschen Politik wirken musste, wenn die doch schon durch ein Pro-AfD-Statement von Elon Musk in helle Aufregung versetzt wurde.
Auch auf das Vance-Interview hatten deutsche Politiker erwartungsgemäß ablehnend reagiert, wenn auch bei Weitem nicht so lautstark wie auf Elon Musk. Wollten sie erst seinen offiziellen Auftritt in München abwarten? Hatten sie damit gerechnet, dass er auf eine Wiederholung dessen in diesem Rahmen diplomatisch verzichten würde? Zumindest waren sie sichtlich nicht darauf vorbereitet.
Freiheit auf dem Rückzug?
Die Politiker, die in deutschen Medien gern die Verteidiger „unserer Demokratie“ geben, mussten sich nun Sätze wie diese anhören:
„Wir müssen mehr tun, als nur über demokratische Werte zu reden. Wir müssen sie auch leben. Innerhalb der lebendigen Erinnerung vieler hier im Raum stellte der Kalte Krieg die Verteidiger der Demokratie gegen weitaus tyrannischere Kräfte auf diesem Kontinent. Und wenn man sich die Seite in diesem Kampf ansieht, die Dissidenten zensierte, Kirchen schloss und Wahlen absagte – waren sie die Guten? Sicherlich nicht.
Und Gott sei Dank haben sie den Kalten Krieg verloren. Sie verloren, weil sie weder die außergewöhnlichen Segnungen der Freiheit schätzten noch respektierten – die Freiheit, zu überraschen, Fehler zu machen, zu erfinden, zu bauen. Es stellt sich heraus: Man kann Innovation oder Kreativität nicht verordnen, genauso wenig wie man Menschen vorschreiben kann, was sie denken, fühlen oder glauben sollen. Und wir glauben, dass diese Dinge eng miteinander verbunden sind.“
Oder Sätze, die zeigten, dass Vance seine Warnungen nicht nur an Europa richtet, sondern den Demokratie- und Freiheitsverlust auch aus den USA kennt:
Freiheit der Meinungsäußerung, fürchte ich, sind auf dem Rückzug. Und in meinem Land war es nicht viel anders. Die vorherige US-Regierung hat soziale Medien gezwungen, sogenannte "Fehlinformationen" zu zensieren – zum Beispiel die Theorie, dass das Coronavirus möglicherweise aus einem Labor in China stammte.
Ich komme heute also nicht nur mit einer Beobachtung, sondern mit einem Angebot. Während die Biden-Regierung verzweifelt versucht hat, Menschen zum Schweigen zu bringen, die ihre Meinung äußern, wird die Trump-Regierung genau das Gegenteil tun – und ich hoffe, dass wir gemeinsam daran arbeiten können.
In Washington gibt es einen neuen Sheriff. Und unter der Führung von Donald Trump mögen wir anderer Meinung sein als Sie, aber wir werden dafür kämpfen, Ihr Recht zu verteidigen, diese im öffentlichen Raum zu äußern. Stimmen Sie zu oder nicht?“
"Was keine Demokratie überleben wird"
Freiheit aushalten? Andere Meinungen aushalten? Sie nicht versuchen, aus dem öffentlichen Raum zu verdrängen? Muss man das nicht, um die Welt zu einem besseren Ort zu machen? All jene, denen es zu anstrengend erscheint, sich auch den Zumutungen der Freiheit der Anderen auszusetzen, dürften die Vance-Aussagen ebenso als unzumutbar empfinden:
„Für viele von uns auf der anderen Seite des Atlantiks sieht es immer mehr so aus, als würden alte, festgefahrene Interessen sich hinter hässlichen Wörtern aus der Sowjetzeit wie Fehlinformation und Desinformation verstecken, die einfach nicht mögen, dass jemand mit einer alternativen Sichtweise eine andere Meinung äußern oder, Gott bewahre, anders wählen oder noch schlimmer, eine Wahl gewinnen könnte.“
Und wenn es darum geht, was die Demokratie wirklich bedroht, ist Vance ganz klar nicht auf der Linie deutscher Regierungspolitik oder den Vorstellungen im EU-Apparat:
„Aber was keine Demokratie – weder die amerikanische, noch die deutsche oder eine andere europäische – überleben wird, ist, Millionen von Wählern zu sagen, dass ihre Gedanken und Sorgen, ihre Hoffnungen und ihre Bitten um Hilfe ungültig sind oder nicht einmal in Betracht gezogen werden müssen.
Die Demokratie beruht auf dem heiligen Prinzip, dass die Stimme des Volkes zählt. Es gibt keinen Platz für Brandmauern. Entweder man hält sich an dieses Prinzip oder nicht. Europäer – das Volk hat eine Stimme. Europäische Führer haben eine Wahl. Und ich bin fest davon überzeugt, dass wir keine Angst vor der Zukunft haben müssen.“
Da war sie wieder, die Kritik an der Brandmauer. Die Brandmauerwächter, die sich selbst bekanntlich gern zu Rettern der Demokratie erklären, sind für den Vizepräsidenten der Vormacht der westlichen und damit des größten Teils der demokratischen Welt eher ein Teil der Demokratie-Abrisskolonne. Das muss mancher von ihnen sicher erst noch verdauen. Nur ein begleitender Kommentator bei Phoenix wusste sofort, was er da gehört hatte: „Vulgärliberalismus“.
"Bizarrer intellektueller Tiefflug"
Am Abend waren fast alle deutschen Medien immerhin schon wieder fest auf Einordnungs-Kurs. In München hatte Verteidigungsminister Boris Pistorius seinen Auftritt zu einer Gegenrede genutzt, über die berichtet werden konnte. Schlagzeilen wie „Pistorius kontert Schwurbel-Rede von Vance – ‚Nicht akzeptabel‘“ oder Vance liefert skurrilen Auftritt ab, begleiteten die Medienkonsumenten in den Freitagabend.
"Nach der Rede von US-Vizepräsident Vance auf der Münchner Sicherheitskonferenz hat Bundeskanzler Scholz dessen Äußerungen scharf kritisiert. Solche Aussagen zur europäischen und deutschen Innenpolitik seien schon an sich ausgesprochen ungewöhnlich", meldete der Deutschlandfunk. Weiter hieß es dort:
"Er weise aber auch ausdrücklich zurück, was Vance inhaltlich gesagt habe. Deutschland habe aus guten Gründen eine Brandmauer gegen extrem rechte Parteien. Das sei angesichts der Erfahrung mit dem Nationalsozialismus der Konsens demokratischer Parteien und müsse auch so bleiben, hob Scholz hervor."
Und die bekannte FDP-Politikerin Marie-Agnes Strack-Zimmermann kommentierte:
"Die Rede von US-Vizepräsident Vance war ein bizarrer intellektueller Tiefflug und hat mit einer internationalen Sicherheitskonferenz nichts zu tun."
Wer nun dem US-Vizepräsidenten einen brüskierenden und undiplomatischen Auftritt vorwirft, sollte sich vergegenwärtigen, wie der deutsche Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier zuvor gegenüber der US-Regierung aufgetreten ist.
„Die neue amerikanische Administration hat ein anderes Weltbild als wir. Eines, das keine Rücksicht nimmt auf etablierte Regeln, auf gewachsene Partnerschaft und Vertrauen“, sagte Steinmeier zum Auftakt der Sicherheitskonferenz. Und weiter: „Ich sage Ihnen offen: Als Demokrat macht es mir Sorge, große Sorge, wenn eine kleine unternehmerische Elite die Macht, die Mittel und den Willen hat, einen wesentlichen Teil der Spielregeln liberaler Demokratien neu zu bestimmen.“
Grundsätzlich mag die Sorge wegen der Macht einer "kleinen unternehmerischen Elite" ja berechtigt sein, nur hätte diese ihn dann auch in der Amtszeit von Trumps Vorgängern umtreiben müssen.
Auch noch ein Treffen mit Alice
Direkt hatte Vance auf Steinmeier nicht reagiert. Dessen Vortrag hatte auf die Vance-Rede sicher keinen Einfluss. Aber der Abgrenzungs-Ton des Disputs war schon gesetzt, bevor der US-Vizepräsident ans Rednerpult trat. Während nun verhaltene Empörung über die Vance-Rede die veröffentlichte Meinung dominierte, entdeckten die Medien am Abend einen weiteren Fehltritt des US-Vizepräsidenten:
„Nach seiner kontroversen Rede bei der Münchner Sicherheitskonferenz hat sich US-Vizepräsident J.D. Vance am Rande der Veranstaltung mit AfD-Spitzenkandidatin Alice Weidel getroffen. Ein Sprecher von Alice Weidel bestätigte dem SPIEGEL, dass ein etwa 30-minütiges Treffen zwischen der AfD-Politikerin und dem Republikaner in dessen Münchner Hotel stattgefunden habe.“
Nicht nur, dass dieser US-Vizepräsident den Brandmauerfall fordert, er scheint auch aktiv an ihrem Abbau mitwirken zu wollen. Deutschland befindet sich in der Endphase des Wahlkampfs, und Vance trifft sich mit der AfD-Kanzlerkandidatin, also einer Frau, der deutsche Spitzenpolitiker möglichst aus dem Wege gehen. Ist das Einmischung in den Wahlkampf? Diesen Vorwurf wird es geben, dabei behandelt er sie halt so, wie Vertreter anderer Parteien, die er getroffen hat, auch. Und aller Voraussicht nach wird die AfD als zweitstärkste Partei in den Bundestag einziehen. Dennoch ist es heutzutage schon ein beinahe ungewöhnliches Statement, sie wie eine normale Partei zu behandeln. Einen US-Vizepräsidenten kann man dafür allerdings nicht sanktionieren.
Etwas schwieriger wird der Einsatz des gern und viel genutzten Anti-AfD-"Arguments", dass ein starkes Ergebnis dieser Partei überall im Ausland mit Angst und Schrecken wahrgenommen und allein schon deshalb Deutschland schaden würde. Jetzt dürfte sich mancher Wahlbürger denken, dass das zumindest auf den Teil der Welt, den JD Vance repräsentiert, nicht zutreffen kann.
Im Vergleich zu Musks Bekenntnis zur AfD, bleibt die Empörungseskalation bei der Kritik am Vance-Auftritt noch recht gedämpft. Wahrscheinlich überlegen die sich gerade einige der sich mächtig dünkenden deutschen Politiker und Meinungsbildner gerade, welche Auswirkungen es auf den eigenen Umgang mit den Ausgegrenzten haben sollte, dass die jetzt vielleicht mächtige Verbündete haben. Gerade für die Gratismutigen könnte sich da etwas verschieben.
Die vollständige Rede im Wortlaut auf Deutsch lesen hier
Die Rede sehen und anhören hier
Peter Grimm ist Journalist, Autor von Texten, TV-Dokumentationen und Dokumentarfilmen und Redakteur bei Achgut.com.