Was ist Zeit? Immer wieder gern zitiert wird Augustinus: Er sagt, er wisse es, wenn er nicht gefragt würde, sobald er aber gefragt würde, dann wisse er es nicht. Zeit ist für ihn ein Gefühl. Und tatsächlich gibt es Zeitgefühle; die berühmte innere Uhr, die mich sonntags punkt Sieben hochschrecken lässt, weil ich zur Arbeit müsste – aber nicht muss; die seltsame Uhr, die mir die Sommerferien ewig erschienen ließ und jetzt den Sommer zu einem flüchtigen Ding verkürzt, vielleicht, weil ich statt Ferien nun eher Pflichten habe. Dummerweise erscheint auch der Sommerurlaub jetzt kürzer als vierzehn Tage, obwohl es immer noch zwei Wochen sind, wie in meiner Kindheit die Osterferien, und auch die waren lang, damals.
Klar, sagen die Soziologen, je eingebundener du bist in die soziale Zeit, die von Kalendern, Uhren, Terminen und also Normen diktiert wird, desto schneller vergehe die subjektive Zeit, weil die Fixpunkte in der Zeit schon vorab festgelegt seien – und das hässliche Bewusstsein der Endlichkeit, auch der eigenen, zunehme. Elias Canetti, sonst nicht gerade durchgehend konservativ, sah darin eine Art Beleidigung seiner Existenz. Nicht nur die Nazis bedrohten sie, die Zeit selbst ließ alles vergehen, seine bulgarische Herkunft, sein Land, seine Kindheit und Jugend, nur eines war zu retten, die Sprache, ein wunderbares Buch: Die gerettete Zunge.
Noch klarer, sagen die Physiker – aber einig sind sie sich da keineswegs, viel eher geneigt, den Laien zu verwirren. Der klassische Physiker beharrt, die Naturgesetze seien zeit-invariant, gälten vorwärts wie rückwärts. Auf den Einwand, immer sähe man ein Glas vom Tisch fallen und in tausend Scherben zerspringen, nie jedoch tausend Scherben sich vom Boden erheben und sich zu einem Glas zusammensetzen, das intakt auf dem Tisch steht, entgegnen sie, das sei der entropische Zeitpfeil, der eben chaotische Zustände begünstige.
Mein Leben muss ein chaotischer Zustand sein. Theoretisch müsse ich nur genügend Zeit vergehen lassen, dann sei auch dieser Vorgang der Selbstreparatur des Zerbrochenen möglich. Selbst die Chaostheorie erzeuge immer wieder Inseln der Struktur und Harmonie. An dieser Stelle stieg ich zum ersten Mal aus. Müsste doch derjenige, der das behauptet, nicht nur die Thermodynamik dazu bringen, jedes Quäntchen Wärme des zerbrochenen Glases wieder seinem Scherbchen zuzuführen, sondern auch die lästige Gravitation auszuknipsen. Und ewig Zeit haben für das Chaos, das sich doch irgendwann wiederholt.
Kein Problem, sagen die Physiker, das liegt nicht an der Zeit, sondern am kosmologischen Zeitpfeil, der in meiner Ecke des Universums blöderweise ein Sonnensystem hat entstehen lassen, das Planeten mit Gravitation erzeugt hat. So mancher liebe Gegenstand, darunter der WMF-Aschenbecher meines Vaters, ging diesen Weg alles Irdischen. Die Zeit, auf seine Selbstrekonstituierung zu warten, die Äonen dauern kann, habe ich leider nicht. Ich habe einen identischen nachbestellt; leider erinnere ich mich, dass es nicht derselbe Aschenbecher ist, sondern nur der gleiche. Vater würde es nicht auffallen, muss es auch nicht, er hat das Zeitliche gesegnet.
Reicher Anlass zu ständigen Fehlschlüssen
Doch es kommt schlimmer; die Physiker behaupten, Zeit sei relativ. Abhängig vom Bewegungszustand meines Bezugssystems könnte ich den selben Vorgang mal als gleichzeitig, mal als vorher und mal als nachher beschreiben – und hätte immer Recht. Für die Kausalität ist das eine Katastrophe und reicher Anlass zu ständigen Fehlschlüssen, die alle gleichberechtigt sind, selbst wenn sie den Aschenbecher reparieren, der in meinem dämlichen Bezugssystem für immer kaputt bleibt.
Es kommt noch schlimmer. Es gibt Physiker, und schon Einstein zählte zu ihnen, die behaupten, die Zeit sei eine Illusion, sie existiere überhaupt nicht; sie sei nur die einzige Möglichkeit, Bewegungen zueinander in Beziehung zu setzen. Sorry, mir ist noch kein Saurier begegnet, ich lebe nicht mehr auf der Stufe des Einzellers. Irgendetwas muss sich also doch ereignet haben.
Es kommt noch viel schlimmer: In der Viele-Welten-Theorie sind die Saurier nie ausgestorben, es ist nur so, dass ich in dem Paralleluniversum lebe, in dem die Saurier ausgestorben sind. Im Paralleluniversum der Saurier gibt es mich nicht, da der Tyrannosaurus rex meinen letzten geeigneten Vorfahren, einen winzigen Nager mit Raubtier- und Affenpotenzial, längst zum Abendessen genossen hat. Entsprechend bin ich in einem Paralleluniversum auch mit meiner ersten Freundin verheiratet und habe mit ihr ca. vier Kinder, hätte ich nicht 1997 den Heiratsantrag vergessen. Eine Interpretation der Quantentheorie erlaubt das, nur mir nicht. Oder doch? Ein anderes Ich in einer anderen Welt... Oder doch nicht? Irgendwo in der Quantentheorie gibt es Vorgänge, die nicht zeit-invariant sind. Ist das die winzige Hintertür, durch die sich die Zeit eingeschlichen hat?
Es kommt noch sehr viel schlimmer, denn mit der Schleifen-Quantengravitation komme ich sogar dorthin, wohin ich nicht unbedingt wollte: Zurück vor den Urknall alles pulsiert nur, expandiert und zieht sich zusammen, die Welt ist ewig, zyklisch; der mathematische Formalismus ist einfacher als der der Stringtheorie – juhuu, was ein „String“ ist, und dass er nahezu alles erklärt, weil er fast nichts der Phantasie überlässt, weiß ich. Dafür weiß die Stringtheorie, dass alles als Hologramm auf der Oberfläche Schwarzer Löcher gespeichert ist, und am Rande des Universums auch. Ist das jetzt die „Matrix“ oder Rilkes „Weltinnenraum“?
Ach, ja: politische Zeit. Zeitgeist. Moden.
Mein Pastor – ja, es gibt ihn wirklich, und er heißt Bernd, ich darf ihn duzen – hält die Zeit auch für eine Illusion, aber wegen eines Psalms, der tröstet: Meine Zeit steht in deinen Händen. Soziale Zeit, psychologische Zeit, entropische Zeit, kosmologische Zeit, relativistische Zeit, quantentheoretische Zeit? – Zeit ist das, was eine Uhr misst. Kalenderzeit, Uhrzeit: Ich habe keine Zeit! Ach, ja: politische Zeit. Zeitgeist. Moden.
Am Ende bleibe ich mit den Fragen allein, den banalen wie den zynischen; und ich denke, es gibt sie, die politische Zeit, den Zeitgeist, den edlen, den gemeinen, den banalen, den hochherzigen, und eine politische Konstante gibt es, es ist der Mensch. Er ändert sich, macht Erfahrungen, trifft Entscheidungen. Und je mächtiger, einflussreicher, oft genug rücksichtsloser er sie trifft, so herrlich neutral, „ohne Ansehen der Person“, umso tiefgreifender betreffen sie die Lebenszeit, vor allem die der anderen.
Und so wie die Glasscherben sich nicht vom Boden erheben und zum Glas werden, so grausam entropisch, endgültig sind die Entscheidungen der Mächtigen, vor allem dann, wenn sie sie für eine „Idee“ treffen oder aus alternativloser Ideenlosigkeit. Vielleicht bin ich deshalb ein Konservativer, weil ich heile Gläser mehr mag als das Zusammenkleben der Scherben, heile Menschen und Gesellschaften mehr als den angeblichen Kitt der „Integration“ dessen, das anderswo zerbrochen ist oder auch hier?
Vielleicht mag ich den Blick ins Geschichtsbuch und in den Spiegel deshalb eher als den in die Glaskugel, das Gedankenexperiment eher als das Experiment? Vielleicht ziehe ich es deshalb vor, mit dem zu arbeiten und in dem zu denken, was hier vor Ort relevant ist, nicht mit und in der Relativität der größten Geschwindigkeiten, der Bedeutungslosigkeit der vielen Welten und der quantenmechanischen Kausalitätslosigkeit ihrer kleinsten Bestandteile, ihrer ganzen, wunderbar mürrischen Indifferenz.
Irgendwann, 2008, waren Job weg und Freundin auf und davon. Ich kaufte mir einen Stapel Bücher über „Zeit“, denn plötzlich hatte ich dreieinhalb Monate Zeit, und es störte mich niemand. Ich entkorkte zuviel Wein, das erleichterte die Erkenntnis. Es kam aber gar keine dabei heraus. Irgendwann stand auf einem Zettel, den ich aufbewahre, als wäre er eine Kostbarkeit: Nicht die Dinge verändern sich, weil Zeit vergeht, sondern Zeit entsteht, weil die Dinge sich verändern. Ob das soziale Zeit ist, physikalische Zeit, persönliche Zeit oder – politische Zeit, jene, die wir verändern oder auch nicht: Das interessiert mich seitdem nicht mehr. Ich weiß es nicht; es scheint mir alles dasselbe. Nur, was ein „String“ ist, das glaube ich immer noch zu wissen. Aber es kommt eine Zeit, da werde ich auch das vergessen. Eine Macke muss man gehabt haben.