Henryk M. Broder / 07.02.2007 / 00:41 / 0 / Seite ausdrucken

Einat Wilf: Palästinenser sind selbst schuld an ihrem Elend

Politiker, Gremien und Gruppen von allüberall zeigen mit dem Finger in dieselbe Richtung: Löst endlich den israelisch-palästinensischen Konflikt! Das Baker-Hamilton-Komitee argumentiert, dass „die USA ihre Ziele im Nahen Osten nicht erreichen können, solange sie sich nicht direkt mit dem arabisch-israelischen Konflikt befassen“. Der britische Premier Tony Blair erklärt, dass „jede Lösung der Irak-Krise eine Gesamtstrategie für den Nahen Osten erfordert, die mit der Hinwendung zum israelisch-palästinensischen Konflikt beginnen muss“. US-Präsident George W. Bush sagte nach dem Besuch der deutschen Kanzlerin in Washington: „Wenn wir dieses Problem lösen, wird eine Reihe anderer Probleme leichter zu lösen sein.“

Der israelisch-palästinensische Konflikt hat einen mythischen Rang erreicht, der seine tatsächliche Bedeutung bei weitem übertrifft. Seit mehr als einem Jahrhundert beansprucht er die Aufmerksamkeit der Führer der Welt, von UN-Foren und der Öffentlichkeit. Es handelt sich um einen Konflikt, zu dem Menschen selbst dann eine leidenschaftliche Meinung haben, wenn sie Tausende von Kilometern von der Gegend entfernt wohnen. Dennoch: Es ist ein lokaler Konflikt, welcher bisher das Leben von knapp 100 000 Menschen auf allen Seiten gekostet hat. Es gibt Konflikte, Naturkatastrophen und Epidemien, die für Tod und Not in einer ganz anderen Größenordnung verantwortlich sind, die aber nicht ein Prozent der Aufmerksamkeit des israelisch-arabischen Konflikts erhalten.

Angesichts der enormen Hoffnungen, die viele im Westen in die Lösung dieses Konflikts setzen – und des Aufwands an Energie dafür –, mag es der Mühe wert sein, einmal eine Möglichkeit zu prüfen: nämlich, dass dieser eiternde Konflikt ein Schlüssel zu gar nichts ist, nicht im Nahen Osten und nicht in der Welt – sondern bloß eine effektive Ausrede, die von arabischen und muslimischen Regierungen benutzt wird, um sich mit den wirklichen Problemen nicht befassen zu müssen. Eine Ausrede, die der Westen ihnen fälschlicherweise abkauft.

Muslimische und arabische Kulturen sind von der Unfähigkeit geplagt, Verantwortung für das eigene Schicksal zu übernehmen. Es gibt kein äußeres Hindernis, das Araber und Muslime davon abhält, Freiheit, Wohlstand und intellektuellen Fortschritt zu erreichen. Palästinenser, Araber und Muslime haben absolut keinen Grund, anderen für ihren bedauernswerten Zustand Vorwürfe zu machen. Sie haben alle Werkzeuge in Reichweite, die man zum Regieren, für Wirtschaft und Kultur braucht. Dass sie sich dafür entscheiden, sie nicht zu benutzen, haben sie sich selber zuzuschreiben. Menschen und Nationen, die Ausreden für ihr Verhalten suchen, haben keine Absicht, dieses zu ändern. Sie suchen bloß Wege, es zu rechtfertigen und den Veränderungsdruck abzuwehren.

Der israelisch-palästinensische Konflikt ist eine besonders gute Ausrede, da der Westen sie zu akzeptieren scheint. Bei den wenigen Anlässen, bei denen muslimischen und arabischen Führern ihre Demokratie-Defizite, Menschenrechtsverletzungen, ökonomische Rückständigkeit oder Terror-Akte im Namen des Islam vorgeworfen werden, müssen sie nur rufen: „Israel tötet Palästinenser!“ Und schon sind sie entschuldigt. Zumindest erhalten sie Verständnis.

Einige Denker und Führer im Westen gestehen zu, dass radikale Araber und Muslime den israelisch-palästinensischen Konflikt als Ausrede benutzen, um Angriffe auszuführen, die nichts mit dem Konflikt zu tun haben. Aber auch sie argumentieren, dass es wert sei, den Konflikt zu lösen, und wenn auch nur, um die Ausrede vom Tisch zu bekommen. Was diese Führer nicht begreifen, ist Folgendes: Wenn eine Ausrede dermaßen gut ist, gibt es keinen Anreiz, sie aufzugeben. Es liegt im Interesse arabischer und muslimischer Führer von Iran und Syrien bis Saudi-Arabien, die Flamme des Konflikts zu schüren – ob durch Geld, Waffen oder hasserfüllte Koran-Schulen. Und dies zur selben Zeit, da sie dem Westen erzählen, ihn lösen zu wollen. Auf diese Art gewährleisten sie, dass ihnen ihre beste Ausrede immer zum Gebrauch und Missbrauch zur Verfügung steht.

Solange der Westen die arabischen und muslimischen Führer nicht direkt mit den wirklichen Problemen ihrer Gesellschaften konfrontiert, solange er deren Ausrede akzeptiert, das Problem des Nahen Ostens sei der israelisch-arabische Konflikt – so lange macht er die Lösung des Konflikts unwahrscheinlich. Solange der Westen diese Ausrede akzeptiert, haben muslimische und arabische Führer ein Interesse daran, ihn am Leben zu halten. Die westliche Logik, diesen Konflikt betreffend, muss vom Kopf wieder auf die Füße gestellt werden. Bevor man versucht, den Konflikt zu lösen, in der Hoffnung, dass sich dadurch Friede und Goodwill in der Welt ausbreiten, muss man zunächst einmal mit Muslimen und Arabern daran arbeiten, mit den grundlegenden Problemen autoritärer, furchtgeprägter, hasserfüllter Gesellschaften fertig zu werden.

Die Vorstellung, dass die Lösung des palästinensisch-israelischen Konflikts ein Schlüssel zum Weltfrieden ist, ist eine Illusion. In Wahrheit ist es eher anders herum. Dieser Konflikt nimmt das Wesen aller globalen Konflikte an, die es nur gibt. Diese Konflikte nährten und benutzen ihn als Experimentierfeld. Früher wurde er durch Kolonialkriege, später durch den Kalten Krieg genährt. In den neunziger Jahren passte er sich kurz dem Zeitgeist globaler Versöhnung an, aber sogar damals hatten palästinensische und arabische Führer keineswegs im Sinn, diese so wunderbare Ausrede für ihr Elend einfach gehen zu lassen. Nun, da die Welt von neuen globalen Spannungen sowie einem existenziellen Konflikt gegensätzlicher Lebensstile gequält wird, findet in dem Konflikt dieses globale Duell seinen Ausdruck.

Europa ist mit Recht stolz darauf, ein System auf der Grundlage von Vernunft, Verhandlungen und unendlicher Geduld errichtet zu haben. Aber wenn jetzt das Nahost-Quartett wieder aktiv wird, sollte nicht vergessen werden, dass es erst der vollständigen und eindeutigen Niederlage aller gewalttätigen Kräfte bedurfte, damit Europa dieses System des Friedens errichten konnte. Im Nahen Osten dagegen gibt es immer noch zu viele jener Kräfte, die Gewalt jeder Verhandlungslösung vorziehen. Erst wenn sie erschöpft sind und nicht mehr durch globale Konflikte genährt werden, wird sich in der Region das Fenster zum Frieden öffnen.

Deutsche Fassung, erschienen in der SZ AM 5.2.07
Einat Wilf, 36, war bis 2005 die außenpolitische Beraterin von Israels Vize-Premier Schimon Peres.  Sie gehört der Arbeitspartei in Israel an. Mehr über sie hier:
http://www.wilf.org/english.html

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