Von Roger Köppel
Die Kanzlerin ist seit zehn Jahren im Amt, bewundert, umstritten, aber für viele
immer noch eine grosse Unbekannte. Ihre Kritiker nennen sie eine Opportunistin. Persönliche
Begegnungen und Gespräche ergeben ein differenzierteres Bild.
Das erste Mal traf ich Angela Merkel vor elf Jahren an einem privaten Abendessen, das ein gemeinsamer Freund in Berlin veranstaltete. Sie war damals Oppositionsführerin in Deutschland. SPD-Kanzler Gerhard Schröder hatte eben seine Reformagenda 2010 lanciert. Sogar seine Gegner waren beeindruckt. Der Sozialdemokrat lockerte den Kündigungsschutz und kürzte die Arbeitslosenhilfe, um Stellensuchende schneller in den Arbeitsmarkt zurückzuführen.
Niemand hätte damals auf einen Sieg Merkels in den Wahlen des nächsten Jahres gewettet. Auch ich war eher unterwältigt vom Auftritt der CDU-Politikerin, die während des ganzen Abends weder auf- noch abgefallen war, aber eben auch keinen einzigen erinnerungswürdigen Satz geäussert hätte. Sie wirkte freundlich, zurückhaltend, leicht unsicher, obschon sie schon damals eine der grössten Parteien Deutschlands steuerte.
Höhnende Gegner
Die meisten Politiker, mit denen ich damals sprach, nahmen Merkel nicht ernst. Kanzler Schröder grinste, wenn man die Herausforderin erwähnte. Die männlichen CDU-Kollegen Merkels setzten ein selbstzufrieden herablassendes Lächeln auf, sobald man sie in vertraulichen Momenten erwischte. Die Frau werde bald Geschichte sein, höhnten sie. Als bürgerliche Favoriten sahen sich Friedrich Merz, Roland Koch und Christian Wulff. Keiner der Genannten spielt heute politisch in Deutschland noch eine Rolle.
Interessanterweise brauchte Merkel keine Intrigen gegen ihre Widersacher. Es war nicht nötig, es hätte aber auch nicht ihrem Charakter entsprochen. Ihre männlichen Rivalen setzten sich selber schachmatt. Die Unterschätzte, die vermeintlich Blasse allerdings blühte auf nach ihrer überraschenden Wahl. Das Unsichere, Verschupfte verflog. Es schien, als ob bei Merkel eine wundersame, geradezu körperliche Verwandlung einsetzte, kaum hatte sie den Sprung ins Kanzleramt geschafft. Sie fand dank der Macht zu sich selbst, als ob sich etwas bei ihr eingerenkt hätte. So kam es uns damals jedenfalls vor.
Kissingers Sicht
In einem Interview bestätigte der frühere US-Aussenminister Henry Kissinger diesen Eindruck. «Merkel wurde auf ihrem Weg nach oben systematisch unterschätzt, und doch wurde sie immer dann, wenn sie ihre Ziele erreicht hatte, als perfekter Ausdruck ihrer Zeit empfunden.» Kissinger sah präzis, dass hier eine Politikerin antrat, die darauf achtet, mit dem «Zeitgeist» in Berührung zu bleiben, auch Strömungen in ihre Politik aufzunehmen, die ursprünglichen Überzeugungen widersprechen mögen. Das Ideologische spielt bei Merkel eine untergeordnete Rolle. Deutsche Betrachter nennen es ihren «Hyperpragmatismus».
Was auffällt: Merkel ist trotz ihrer langen, zehnjährigen Amtszeit und dem hohen internationalen Ansehen, das sie mittlerweile geniesst, bescheiden und am Boden geblieben. An Tischrunden macht sie sich instinktiv kleiner. Sie sitzt nach vorne gebeugt da, ihre Hände formen sich an den Fingerspitzen zur inzwischen berühmten «Merkel-Raute», was ihrem Auftritt etwas Verbindliches verleiht. Sie wirkt aufmerksam und hört eher zu, als dass sie etwas sagt. Deutsche Politiker neigen im Gespräch zum Monolog und zur rhetorischen Prachtaufwallung. Merkel redet von unten nach oben. Ihre Nüchternheit, ihre, was keineswegs abwertend gemeint ist, hausfrauenhafte Sachlichkeit hebt sich wohltuend ab.
Ich habe mich oft gefragt, ob sie eine grosse oder ob sie nur eine fähige Politikerin ist. Zu ihren Leistungen gehört sicher, wie sie in der Finanzkrise in Deutschland eine Panik verhinderte. Als die Deutschen plötzlich um ihre Bankeinlagen zu fürchten begannen, stellte sie sich hin und sagte, die Ersparnisse seien sicher. Alle Journalisten und Politiker, mit denen ich für diesen Artikel gesprochen habe, bestätigen, dass Merkel als Krisenmanagerin ein enorm hohes Vertrauen geniesse. Merkel hat während der Euro- und der Griechenland-Wirren die EU mit sicherer Hand zusammengehalten. Man traut ihr zu, in brenzligen Situationen das Machbare zu tun und im Bereich des Machbaren die jeweils weniger schlechte Lösung auszuwählen.
Erstaunlich primitive Machttechnik
Ihre Kritiker vermissen die klare politische Linie, das grosse Projekt, das über die alltagspraktische Problembewältigung hinausweist. Der frühere, inzwischen verstorbene deutsche Wehrminister Peter Struck prägte das Bonmot, dass Merkel eine hervorragende Pilotin sei, die alle Kunstgriffe der Aviatik wie im Schlaf beherrsche, nur wisse man bei ihr nie, wohin die Reise gehe. Diesen Mangel an Vision versuchen ihre Gegner jeweils gegen die Kanzlerin in Anschlag zu bringen, bis jetzt allerdings vergeblich. Man kann irgendwie nachvollziehen, dass es viele Deutsche an Merkel gerade ausgesprochen schätzen, dass sie auf die grossen Würfe und Experimente verzichtet, die in der deutschen Geschichte so viel Unheil angerichtet haben.
Ungeachtet dessen: Ihre Beweglichkeit bleibt staunenswert. Merkel startete 2003 am legendären Leipziger Parteitag als, wie die Deutschen sagen, «marktliberale» Reformerin. Als sie die Wahl wegen ihrer Liberalität um ein Haar verloren hätte, schwenkte sie deutlich nach links. Sie machte sogar einige der Sozialreformen ihres Vorgängers Schröder rückgängig. Ich kann mich gut an ein Abendessen erinnern, als wir die Kanzlerin auf ihre Spitzkehren ansprachen. Sie entgegnete nur: «Wenn ich Deutschland nach den Rezepten Ihrer Wirtschaftsredaktionen regiere, werde ich abgewählt.»
Merkel geht davon aus, dass die Bundesrepublik ein zutiefst sozialdemokratisches Land ist und dass die Deutschen aus der linken Mitte heraus regiert werden wollen. Aus dieser Einsicht hat sie eine einfache, ja geradezu primitive Machttechnik abgeleitet: Sie macht mit Blick auf die Wahlen immer das Gleiche wie ihre Gegner, um ihre Gegner zu schwächen. Merkel war gegen den Atomausstieg. Nach Fukushima war sie dafür und nahm den Grünen ihr Kernthema weg. Bei den Sozialreformen kam sie den Sozialdemokraten weit entgegen, und auch neuerdings bei der Flüchtlingspolitik hat sie in einem kühnen Vorstoss die Linken schwindlig gespielt. Es ist heute unmöglich, die CDU in Deutschland als gruslige «Rechtspartei» zu verunglimpfen. Merkel besetzt das politische Zentrum Deutschlands unverrückbar wie ein Gebirge. Die Gegner haben keine Ahnung, wie sie dieses Gebirge abtragen wollen.
Allerdings: Merkel zu verstehen, heisst nicht, alles gut zu finden, was sie macht. Ihre Migrationspolitik ist für Aussenstehende haarsträubend und brandgefährlich. Die nonchalante Willkür, mit der sich die Kanzlerin notstandsmässig über geltendes Recht hinwegsetzte, hat nicht nur Deutschland erschüttert. Bezeichnenderweise sah sich Merkel jetzt auch zum ersten Mal genötigt, ins dröhnende Pathos nibelungendeutscher Rhetorik zu verfallen, als sie den Leuten unbeirrbar ihren Durchhalteslogan «Wir schaffen das» einhämmerte.
Mehr als eine Million Migranten haben die Grenzen inzwischen überschritten. Um welchen Faktor diese Zahl sich durch den Familiennachzug vervielfältigen wird, ist Gegenstand von Spekulationen. Die Institutionen des deutschen Rechtsstaats waren eine Zeitlang ausser Kraft. Merkel scheint inzwischen gemerkt zu haben, dass sie den Bogen überspannte. Am letzten Parteitag in Karlsruhe gelobte sie, in Zukunft die EU-Aussengrenzen besser zu schützen und die Zuwanderung zu begrenzen. Es sieht so aus, als ob die ins Schleudern geratene Kanzlerin die Kurve gerade noch kriegt.
Europa über alles
Wie also muss man Merkel bewerten? Ist sie die seelenlose Opportunistin, die ihre Kritiker zu erkennen glauben? Ist die Macht für sie ein blosser Selbstzweck? Nach all meinen bisherigen Treffen und Gesprächen mit ihr zu schliessen, auch nach den Diskussionen, die ich über die Jahre mit Kollegen in Deutschland geführt habe, würde ich es etwas weniger kritisch sehen. Merkel verfolgt am Ende einigermassen klare, wenn auch sehr allgemein gehaltene Zielsetzungen für Deutschland. Sie will Frieden, Freiheit und Wohlstand. In der Verfolgung dieser Ziele ist sie wendig, aber sie ist keine totale Opportunistin.
Merkel wandelt sogar ziemlich berechenbar in den Spuren ihres Vorvorgängers und einstigen Förderers Helmut Kohl, der zwar ebenfalls keine Margaret Thatcher war, aber Deutschland mit seiner vielfach gebrochenen Geschichte ist auch kein Grossbritannien. Merkel steht für die deutsche Westbindung, eine Anbiederung an Putin wie unter Schröder gäbe es bei ihr nicht. Sie ist überzeugte «Europäerin», eine Rückkehr zum Nationalstaat ist für sie kein Thema. Die europapolitischen Lockerungsübungen der Briten verfolgt sie mit Grauen. Wenn sie in der Griechenkrise und im Migrationsdebakel beherzt durchgreift, sieht sie sich als Retterin der EU. Für den Schweizer Unabhängigkeitswillen bringt sie wenig Verständnis auf. Wer sie darauf anspricht, erntet immerhin freundliche Ironie.
«Vorwärts immer, rückwärts nimmer»: Das Motto des früheren DDR-Regierungschefs Erich Honecker gilt auch für die Europapolitik der Kanzlerin. Merkel sieht die Zukunft Deutschlands nur als Teil einer politisch immer enger verschweissten Europäischen Union. Dass die EU an einem heiklen Punkt ihrer Entwicklung steht, weiss Merkel, aber sie wäre nie bereit, die EU als institutionelle Fehlkonstruktion zu bezeichnen. Sie ist im Gegenteil davon überzeugt, dass notfalls deutsche Interessen geopfert werden müssen, um die EU zu stärken. Sie wird alles unternehmen, um nicht als Kanzlerin in die Geschichte einzugehen, unter deren Führung die EU demontiert worden ist.
Das ist vermutlich die einzige, allerdings auch eine zentrale Schwäche ihrer Politik. Die promovierte Physikerin hat ihr Handeln ausschliesslich auf ein Gebilde zugeschnitten, dessen Widersprüche und Konstruktionsfehler immer deutlicher aufbrechen. Merkel ist nicht willens, vielleicht auch nicht in der Lage, über die für Deutschland immer noch identitätsprägende EU hinauszudenken. Sie könnte als tragische Heldin enden, die ihre erheblichen Talente in eine verlorene Sache investieren musste. Ich würde es ihr allerdings sogar noch hier zutrauen, dass sie den Kurs wechselt, wenn es die Not-Wendigkeit erfordert.
Roger Jürg Köppel ist Chefredakteur der schweizer Wochenzeitschrift DIE WELTWOCHE und Politiker (SVP). Dieser Beitrag erschien zuerst in DIE WELTWOCHE.