Das Frühstück war wieder einmal frugal ausgefallen. Jetzt wartete Olaf auf den allmorgendlichen Anruf aus Margot Honeckers Büro, wo SIE neuerdings Hof hielt.
Seine Ex-Chefin war immer noch aktiv wie ein Dachs beim Tunnelbau, kein Wunder, dass sie auch im „Ruhestand“ neun Mitarbeiter brauchte. Aber er hatte viel von ihr gelernt, und er lernte immer noch. Nicht unbedingt, mit vielen Worten nichts zu sagen, das konnte er schon vorher. Es war ja schließlich fast 20 Jahre her, dass ihm dieser ZEIT-Journalist den Spitznamen „Scholzomat“ eingebracht hatte. Wenn schon, er hatte den Aufsatz „How Not To Answer Questions In Political Interviews“ von Peter Bull und Kate Mayer eben rechtzeitig gelesen.
Aber ja, er hatte IHR viel zu verdanken, von ihr fast alles gelernt. Die wichtigsten Lektionen jedenfalls. Hatte sich, wie sie, ausschließlich mit politischen Minderleistern umgeben und sie darin sogar übertroffen. Jemanden wie den Irren ins Gesundheitsministerium zu holen, das hätte selbst sie sich nicht getraut. Oder eine Frau, die Proteste von Bürgern nicht auf der Straße sehen will und selbst für eine vom Verfassungsschutz beobachtete Gruppe einen Artikel schrieb, zur Innenministerin zu machen. Eine Hochstaplerin an die Spitze des Auswärtigen Amtes zu berufen, die kaum einen unfallfreien Satz zustande brachte. Mehr Kakistokratie wagen!
Jetzt musste er noch eine Fähigkeit perfektionieren, die SIE auch immer aus dem Effeff beherrscht hatte: sich unsichtbar zu machen, wenn es brenzlig wurde. Einfach abtauchen. Sich totstellen. Bisher war es ganz gut gelungen, er hatte es sogar schon in die Rubrik „Was macht eigentlich…?“ geschafft, und das nach weniger als 100 Tagen im Amt. Andererseits stellten sich die Kabinettskollegen noch blöder an als vorgesehen, die Beliebtheitswerte seiner Regierung waren schon jetzt im Keller. Und Ungemach drohte an allen Fronten. Vor allem diese Virusgeschichte musste langsam mal vom Eis. Da war es nicht gerade hilfreich, dass sich der Irre erst gerade eben wieder in einer Talkshow um Kopf und Kragen gefaselt hatte. „Die Idee, dass das jetzt immer harmloser wird, demnächst eine Erkältungskrankheit, das ist eine ganz gefährliche Legende. Das mag in 30, 40 Jahren so sein, aber nicht für die nächsten zehn Jahre.“ Während die Nachbarländer alle Maßnahmen abschafften! Wie sollte er, Olaf, da eine eh schon komplizierte Exit-Strategie entwickeln, ohne sich völlig zum Horst zu machen?
Den Irren im Rhein verklappen
Das Telefon klingelte auf die Sekunde pünktlich um 7.00 Uhr. „Ja, guten Morgen… ja… verstehe… Hmm… gut, mach‘ ich. Aber wenn man…? Ach so, ja, klar… und dann? Ja sicher… geht in Ordnung… setz' ich um, kein Problem...“ Keine drei Minuten später legte er auf. Wie gut, dass er SIE hatte! Gerade jetzt, wo ihm so einiges um die Ohren zu fliegen drohte. Das Pandemie-Management war eine einzige Katastrophe, er selbst hatte sich zuerst gegen eine Impfpflicht ausgesprochen, dann unbedingt dafür, wollte es auf Biegen und Brechen durchziehen, klare Kante gegen die Schwurbler zeigen, keine roten Linien… Und jetzt knickten sie sogar in Wien ein. Wie sollte er bloß aus der Nummer wieder rauskommen? Eine tödliche Jahrtausendseuche, die man jetzt mit Nasenspray und Lutschpastillen bekämpfte, das glaubte doch langsam nicht mal mehr das verblödete Volk!
Andererseits: Es gab immer einen Ausweg. Notfalls musste er den Irren opfern, der trieb sich sowieso mehr in Fernsehstudios herum als im Ministerium. Wenn man ihn doch nur mit sizilianischen Betonschuhen im Rhein verklappen könnte… Kein Genosse würde ihn vermissen, das stand mal fest. Olaf grinste schlumpfig. Er hatte schon ganz andere Situationen überstanden. Wie damals beim G20-Gipfel, als der Schwarze Block in Hamburg ganze Straßenzüge zerlegt hatte, während er in der Elphi einem Konzert lauschte. Von Cum-ex, Warburg-Bank und Wirecard gar nicht zu reden. Zum Glück hatten im Wahlkampf auch die politischen Gegner seine heikle Vorgeschichte gemieden wie der Irre das Salz. Und vor dem Untersuchungsausschuss hatte er erfolgreich Gedächtnislücken vortäuschen können: „Keine detaillierte Erinnerung…“, „keine eigene Erinnerung…“, ein ums andere Mal. Alles gut, am Ende.
Die Morgenlage um 8.30 Uhr war so semi gewesen, das Aktenstudium deutlich spannender. Dann die öde Gedenkveranstaltung und danach Empfang des Staatspräsidenten von Burkina Faso, er hatte den Namen schon wieder vergessen, mit anschließendem Mittagessen. Morgen würde er mit dem Bundes-Uhu tafeln. Frank-Walter hatte ihn nach Bellevue auf ein Feine Sahne Fischfilet eingeladen. Am Nachmittag musste er nach Wilhelmshaven, eine neue Fregatte der Bundesmarine taufen. Auf den Namen „Walter Ulbricht“ übrigens, was wieder mal die rechtsextremen Demokratiefeinde triggern würde. Aber die Transformation des Landes in ein Arbeitslosen- und Biobauern-Paradies war in vollem Gange, man musste einen mutigen Schritt nach dem anderen tun, aber behutsam; den Frosch nicht verschrecken, sondern die Temperatur im Topf langsam, aber stetig erhöhen...
Beim Phrasen-Bingo immer noch der King im Ring
Ach, da kam ja endlich die Rede, die er am nächsten Vormittag halten sollte! Olaf überflog das Manuskript und legte es beiseite. Heute sollte er noch im heute-journal zugeschaltet werden, Thema Ukraine-Krise. Olaf legte sich ein paar Floskeln zurecht. „Ich gehe davon aus, dass wirksame Resultate ohne effektive Ergebnisse nicht zu erreichen sein werden, das werde ich bei meinen Gesprächen in Kiew und Moskau auch sehr deutlich machen… Es ist ganz klar, dass wir weitreichende Maßnahmen auf den Weg bringen müssen… Wir müssen dafür Sorge tragen, dass dies im Geiste des Respekts geschieht…“ Beim Phrasen-Bingo steckte er sie immer noch alle in die Tasche, har har!
22.45 Uhr. Alles gutgegangen, von den Öffis war ja ohnehin nichts Böses mehr zu erwarten. Hofberichterstatter. Zeit, endlich mal die Füße hochzulegen! Olaf machte es sich im Sessel bequem und schaltete den Fernseher ein. Oh nein, bei Lanz saß schon wieder der Irre. Eine veritable loose cannon, Olaf hielt jedes Mal die Luft an, wenn der Minister seine neuesten Endzeitvisionen kundtat. Was habe ich mir mit dem nur angetan, dachte Olaf, und für einen Wimpernschlag nistete sich ein Anflug von Verzweiflung in seiner hohen Stirn ein.
Der Tag war gelaufen. Noch ein Telefonat, dann zog er sich ins Bad zurück. Das Bett rief, und er gedachte diesem Ruf Folge zu leisten. Olaf inspizierte die Lektüre auf seinem Nachtschränkchen. Marx oder Machiavelli? Oder den Bildband „Alena"? Der Kanzler zog die Stirn in Falten. Die Autobiographie von Egon Krenz würde ja leider erst im Juni erscheinen. Schade. Das Treffen mit dem Genossen hatte er noch in guter Erinnerung. 1984 war das gewesen, schon eine Ewigkeit her, damals hatte er noch Locken. Tempi passati! Er und die anderen in der Juso-Delegation hatten ihre Gastgeber seinerzeit natürlich nicht mit kritischen Fragen behelligt, vielmehr erklärt, das Bild der DDR in den BRD-Medien müsse positiver werden. Olaf grinste. Alles längst erreicht. Jetzt musste eben das ganze Land umgebaut werden, sozial-listig und, wenn es denn sein musste, auch ökologisch oder „klimagerecht". Er war auf einem guten Weg. Olaf streckte sich behaglich auf seine gesamten 170 cm aus, gähnte und griff nach dem Bildband.
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