Eingedenk der anstehenden Interviews beschloss Ricarda, ihre Phrasendreschmaschine anzuwerfen, die ständig im Stand-by-Modus war und nach dem Zufallsprinzip immer neue grüne Themen generierte. „Einwanderungsfaire Gleichberechtigungsinklusion“, warum nicht?
Um sieben klingelte der Wecker. Ricarda seufzte. Irgendwie hatte sie sich noch immer nicht daran gewöhnt, dass der Tag so früh begann. Damals, als sie die sieben Jahre in Heidelberg und Berlin stud… – oder, naja, wenigstens eingeschrieben war, musste es schon was Verlockendes in der Mensa geben, dann stand sie manchmal sogar schon mittags auf. Jetzt war der Terminkalender voll, wenn sie nicht aufpasste. Die vielen Sitzungen und Presseauftritte zwischen den TikTok-Aufnahmen konnten ganz schön nerven. Vielleicht sollte ich doch mittelfristig eine Karriere als Influencerin anstreben, dachte Ricarda.
Nicht, dass sie glaubte, es könnte sie bald erwischen. Inkompetenz war nie der Grund, der einen Abstieg einleitete. Aber der Politikbetrieb war ein Haifischbecken, das war ihr klar. Bei den Grünen so wie bei allen anderen. Wenn sie einen richtigen Bock schießen sollte, könnten ihr vielleicht auch die Attribute jung, weiblich und – theoretisch – bisexuell nicht mehr helfen. Außerdem hatte die Identitätspolitik auch ihre Tücken. Sollte eines Tages eine Leptosomenquote beschlossen werden, ist keiner mehr sicher, dachte Ricarda, irgendeine Minderheit wird sich immer finden, der die Grünen etwas Gutes tun wollen. Hatte sie nicht selbst mal gefordert, Bewohnern pazifischer Inselstaaten, deren Heimat vom steigenden Meeresspiegel bedroht sei, die EU-Staatsbürgerschaft anzubieten?
Eigentlich wär’ da doch mal eine Dienstreise fällig, dachte Ricarda, während sie den Kühlschrank inspizierte, in der Südsee war sie noch nie gewesen. Möglicherweise ließ sich auch in Brasilien ein indigener Stamm finden, dem die Abholzung des Regenwaldes den Lebensraum zu nehmen droht. Möglichst viel mitnehmen, dachte Ricarda, man macht ja nicht ewig Politik, und leider hatte sie ja nichts Richtiges gelernt. Nicht mal Kochen, weshalb sie wieder einmal zu den YumYum-Nudeln aus dem Späti griff.
Der Phrasengenerator glühte
„Krass lecker“, dachte Ricarda, während sie das asiatische Fertigfutter löffelte, und sah sich zum fünften Mal hintereinander das TikTok-Reel an, in dem sie sich in 30 verschiedenen Outfits präsentierte. 103.000-mal aufgerufen. Ricarda kicherte. Das war ihre Rache an den Spackos, die sie in der Schule immer gehänselt hatten. Har, har! Vorsitzende einer Regierungspartei, Bundestagsabgeordnete. Und Ihr so?
Noch eine Viertelstunde, bis das Lastenfahrrad eintraf. Ricarda beschloss, eingedenk der anstehenden drei Interviews heute ihre Phrasendreschmaschine anzuwerfen, die rund um die Uhr im Stand-by-Modus war und nach dem Zufallsprinzip immer neue grüne Themen generierte. Vorgestern die „queerfeministische Klimagerechtigkeit“, gestern die „ökosoziale Friedensdiversität“. Tastendruck. „Digitalnachhaltige Transgenderumwelt“. Na ja. Nochmal. „Einwanderungsfaire Gleichberechtigungsinklusion“. Schon besser. Gleich noch welche für morgen und übermorgen. „Demokratieverträgliche Reformpositivity“, „Basisfundierte Grundlagenplattform“. Ja, das war gut! Ricarda übte ein paarmal. Damit ließ sich jeder Journo entweder zur Verzweiflung bringen oder narkotisieren, das hatte sie neulich ja eindrucksvoll bewiesen.
„Einwanderungsfaire Gleichberechtigungsinklussion. Einwanderungsfaire Gleichberechtigungsinkluss- ssion“. Das mit dem weichen S kriegte sie einfach nicht hin. War aber auch notfalls nützlich, dann konnte sie Kritiker abmeiern, indem sie ihnen Hass auf Menschen mit Sprachstörung unterstellte. Der Hass ist ja allgegenwärtig, dachte Ricarda. Die arme Anne! Zum Rücktritt gedrängt, nur weil sie eine Frau war! So jedenfalls sah sie das.
Auswendiglernen, das konnte sie wie ein Papagei
Die Sitzung in der Parteizentrale verlief glimpflich, zum Glück. Das fehlte mir noch, dass jetzt die Flügelkämpfe ausbrechen, dachte Ricarda. Die Annalena war zurzeit unangreifbar, der Robert auch. So ein Krieg hat ja manchmal auch was Gutes, huschte ein ketzerischer Gedanke durch ihren Kopf. Und eine Nachfolgerin für die Anne würde sich schon finden lassen, Kompetenz war ja keine Voraussetzung. Der menschenverachtende Leistungsgedanke war Ricarda, wie der ganzen Partei, ohnehin zuwider.
Dann trat sie vor die Presse. Man werde jetzt, wenn die großen Themen erst mal abgearbeitet seien, verstärkt grüne Positionen in den Vordergrund rücken: „Ssehen Ssie, unssere Possition ist klar: Wir wollen die einwanderungsfaire Gleichberechtigungsinklussion vorantreiben, und wir wollen, dass diesse einwanderungsfaire Gleichberechtigungsinklussion ins Grundgessetz aufgenommen wird. Und ich denke, dass es das ist, was unssere Wählerinnen und Wähler berechtigterweisse von uns erwarten.“ Keine Nachfragen, was man unter diesem Begriff eigentlich verstehen soll. Das war noch mal gutgegangen.
Das mit der einwanderungsfairen Gleichberechtigungsinklusion würde sie heute Abend in der Schalte zur tagesschau wiederholen, und dann noch mal bei Maybrit Illner. Auswendiglernen, das konnte sie wie ein Papagei, dachte Ricarda nicht ohne Stolz. Wichtig war, das einfach stur durchzuziehen, bis zum Exzess, bloß nicht so hilflos aufzutreten wie die Anne neulich. Dazu noch ein paar Allgemeinplätze zu Russland und Corona, ein bisschen Gestik, das müsste reichen.
Ricarda griff zum Smartphone. Es war mal wieder Zeit, ihrer hedonistischen Ader zu frönen. Sie hob das Weinglas, machte eine Reihe von Selfies und lud zwei davon auf den diversen Social-Media-Kanälen hoch. Das sollte die Hater triggern, dachte Ricarda, und warf den Mantel über. Vor dem Talkshow-Termin machte sie noch Halt beim Bäcker. „Drei Zimtschnecken, bitte!“, sagte sie. „Wussten Ssie übrigens, dass ich bei einer alleinerziehenden Mutter aufwuchs, die ihren Tschopp verlor? Das schärfte mein Bewusstsein für die ssoziale Frage.“ „Ääh … warum erzählen Sie mir das?“, fragte die Bäckereifachangestellte irritiert. Ricarda strahlte. „Ich erzähle es JEDEM!“
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