Dass der „Spiegel“ einst ernsthaft als „Sturmgeschütz der Demokratie“ bezeichnet werden konnte, ist wahrscheinlich nur noch den Älteren verständlich. Das stammt noch aus einer Zeit, als Recherche zwar ein Fremdwort, den deutschen Journalisten aber keineswegs fremd war, sondern im Gegenteil fester Bestandteil des Arbeitsalltags. Wenn überhaupt, so zeigte man Haltung auf der Grundlage eines möglichst festen Faktenfundaments.
Das sind natürlich Geschichten aus einer Zeit, die schon alt und vergangen war, als unsere Politiker den Begriff der „neuen Normalität“ noch gar nicht erfunden hatten. Den neuen Journalismus, in dem vor allem Haltung zählt und Recherche eigentlich nur dann einen Platz hat, wenn sie dazu dient, die gute und richtige Haltung zu untermauern, gibt es schon länger. Klaus Brinkbäumer führte seine Redaktion wohl eher im Sinne des neuen Journalismus. In seiner Amtszeit als Chefredakteur des „Spiegel“ hatte er so einige Glanzleistungen der neuen deutschen Journalismus-Welt zu verantworten. Unter seiner Regentschaft wurde der berühmte und kreative Schreiber-Star Claas Relotius fest in der Redaktion angestellt. Berühmt wurde dieser bekanntlich mit Reportagen, in denen er beispielsweise in wohlgesetzten Worten Landstriche in der Südsee wegen des Klimawandels untergehen ließ, die von ihrem Untergang selbst gar nichts wussten. Faktisch stimmte es also nicht ganz, aber weltanschaulich lagen seine Reportagen immer goldrichtig, wenn man weltanschaulich mit der politischen Elite übereinstimmte.
Claas Relotius konnte nicht nur die reportierten Geschichten aus der Südsee den weltanschaulichen Wünschen wichtiger deutscher Redaktionsleiter und Politiker anpassen – auch was Ort und Inhalt anging, war er durchaus flexibel. Und gut geschrieben waren die Geschichten, warum also sollte sich ein Chefredakteur daran nicht erfreuen. Die Freude von Chefredakteur Brinkbäumer an den Preiskrönungen seines Edel-Mitarbeiters währte bedauerlicherweise nicht allzu lange. Immerhin gelang es ihm, seinen „Spiegel“-Posten rechtzeitig zu räumen, bevor die Lügen-Geschichten des Claas Relotius überall in der deutschsprachigen publizistischen Welt Thema waren.
Auch anderen Innovationen ließ Brinkbäumer beim Spiegel ihren Raum. Gerade wenn es galt, mit allen Mitteln den unerwarteten und ungewollten US-Präsidenten Donald Trump publizistisch zu bekämpfen. Plötzlich konnte man erstaunlich platte Propaganda-Kunst auf den Spiegel-Titeln bestaunen. Mal sah man den US-Präsidenten als einen Mann, der gerade bluttriefend die Freiheits-Statue geköpft hatte. Dann wieder raste der Kopf des US-Präsidenten als zerstörerischer Meteorit auf die Erde zu, verbunden mit der „Spiegel“-Prophezeiung, das sei das Ende der Welt, wie wir sie kannten.
Hilfe gegen Prestige-Verlust?
Jetzt – am Ende der Amtszeit von Donald Trump – existiert die Welt immer noch, und dass sie in der Tat nicht mehr so aussieht, wie wir sie vor vier Jahren kannten, liegt nun wirklich nicht am noch amtierenden US-Präsidenten.
Jedenfalls hatte Chefredakteur Brinkbäumer in seinen Amtsjahren einen Kurs gehalten, auf dem etliche zahlende Leser nicht mehr mitsegeln wollten, doch was bedeutet das schon, wenn es um die richtige Haltung geht?
Dummerweise gab es 2018 noch nicht die Idee, man könne private Medienhäuser auch vom Staat finanzieren lassen. Der Abschied von Teilen der Leserschaft mit den einhergehenden Verlusten, die niemand ausgleichen wollte, drängten Brinkbäumer deshalb in jenem Jahr zum Abschied von seinem Chefposten beim „Spiegel“.
Armut bedrohte den ausgemusterten Chefredakteur nicht. Aber dennoch ging sein folgender Broterwerb mit einem vielleicht schmerzhaften Prestige-Verlust einher. Gab es nicht irgendwo einen Chefposten, auf dem man noch als relevant gilt und den Hang zur Haltung völlig ungeachtet der Zufriedenheit des zahlenden Publikums ausleben kann? Wo ist man bei dieser Stellenbeschreibung besser aufgehoben als im öffentlich-rechtlichen Rundfunk?
Niemand weiß genau, warum die MDR-Intendantin Wille sich dafür entschieden hat, Klaus Brinkbäumer zum Programmdirektor in Leipzig vorzuschlagen. Beschließen muss das dieser Tage noch der Rundfunkrat, aber das gilt als Formsache. Trotzdem bleiben die Gründe für diese Entscheidung ebenso rätselhaft wie der überstürzte und begründungslose Abgang von Brinkbäumers Vorgänger Wolf-Dieter Jacobi einige Monate zuvor.
Kein guter Zeitpunkt
Der Zeitpunkt der jetzigen Berufung ist vielleicht etwas unglücklich gewählt, denn in diesen Tagen eskaliert die Regierungskrise in Sachsen-Anhalt um die Erhöhung des Rundfunkbeitrags. Der CDU-Ministerpräsident hat den CDU-Innenminister gerade entlassen, nachdem der die CDU-Fraktion im Landtag darin bestärkt hatte, trotz eines drohenden Koalitionsbruchs gegen eine Erhöhung der Zwangsabgabe für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk zu stimmen. Der geschasste Innenminister Stahlknecht hatte dies u.a. damit begründet, dass die gebührenfinanzierten Anstalten die Lebenswirklichkeit im Osten nur ungenügend abbilden würden. Sachsen-Anhalt ist ein MDR-Land. Mit besonderer Kenntnis des MDR-Sendegebiets ist der designierte MDR-Programmdirektor bislang allerdings nicht aufgefallen. Mithin dürfte die Personalie nicht dazu angetan sein, widerspenstige Christdemokraten von einer Beitragserhöhung zu überzeugen.
Doch auch wenn man diese Ost-West-Frage völlig ausblendet, lässt sich diese Wahl nicht verstehen. Die Bilanz seiner Zeit als Spiegel-Chefredakteur ist wahrlich nicht dazu angetan, Brinkbäumer einen Chef-Posten anzudienen. Auf Unwissenheit kann sich Intendantin Wille nicht herausreden. Sie hätte nur einen oberflächlichen Blick in die Archive ihres Senders werfen müssen.
„Das Altpapier“ ist das, was man im MDR-Universum für eine medienkritische Kolumne hält. Hier auf mdr.de kann man in ein paar Absätzen nachlesen, wie die „Altpapier“-Kollegen im August 2018 Brinkbäumers Chefredakteurs-Leistung zusammenfassen:
„Was aber hinterlässt Brinkbäumer? Wohl nicht unbedingt ein zukunftsfähiges Nachrichtenmagazin mit unverwechselbarem Profil, darin sind sich viele Medienmenschen einig. ‚Von einer Ära Brinkbäumer kann man nicht sprechen‘, schreibt z.B. Stefan Winterbauer bei Meedia.
‚Mit strategischen Projekten ging es unter Brinkbäumers Leitung nur holprig voran. Neue Print-Objekte, wie das Best-Ager Heft Spiegel Classic oder die TV-Zeitschrift Spiegel Fernsehen floppten. Letztere schaffte es sogar nicht einmal bis über den Markttest hinaus. Die 'digitale Tageszeitung' Spiegel Daily, die schon lange entwickelt, aber unter Brinkbäumer eingeführt wurde, erwies sich ebenfalls als herbe Enttäuschung, was die Zahl der Abos betraf.‘
In der Frankfurter Rundschau wirft Simon Berninger einen Blick auf die ursprünglichen Intentionen Brinkbäumers. ‚In dreieinhalb Jahren wurde Brinkbäumer seinem eigenen Anspruch (…) nicht gerecht.‘ Er hoffe, dass er die Auflage weiter stabilisieren könne, sagte er bei seinem Antritt 2015, und ‚ich glaube auch daran – sonst wäre ich der Falsche in diesem Job.‘ Aber die heutigen Zahlen zeigten:
Die Zahlen sähen nicht gerade rosig aus, wie Joachim Huber und Kurt Sagatz in einem gemeinsamen Artikel beim Tagesspiegel schreiben:
‚Die Abberufung von Brinkbäumer wollte der Dortmunder Zeitungsforscher Horst Röper zwar nicht kommentieren, er erinnert aber an den dramatischen Auflagenverlust des Nachrichtenmagazins, 'der aktuell sogar noch stärker ausfällt als zuvor'. Zwar sei fraglich, inwieweit der Chefredakteur im insgesamt rückläufigen Markt daran etwas ändern könne, doch am Ende werde er dafür verantwortlich gemacht. In den vergangenen drei Jahren sank die verkaufte Auflage des 'Spiegel' von 823 000 auf 705 000 Exemplare. Zusammen mit den Verlusten im Anzeigengeschäft ergaben sich daraus 2017 Mindereinnahmen von elf Millionen Euro.‘
Wie genau diese Summe zustande kommt und ob es sich dabei nur um Verluste im Printgeschäft handelt oder auch Zuwächse im Digitalbereich miteingerechnet sind, steht leider nicht in dem Artikel. Auch wenn man Brinkbäumers Wirken, was die generelle Entwicklung des Magazins angeht, kritisieren kann, es wäre doch fatal eindimensional, in diesen Umbruchzeiten die Einnahmen aus einer solch kurzen Zeit als DIE Zahl darzustellen, die die Leistung oder Fehlleistung eines Chefredakteurs verkörpert.“
Damit kann man sich also für öffentlich-rechtliche Führungsaufgaben qualifizieren. Der Spiegel war schon vor Amtsantritt Brinkbäumers längst kein „Sturmgeschütz der Demokratie“ mehr. Vielleicht wird Brinkbäumer nun ein Sturmgeschütz im MDR. Nur, was alles zerschossen wird, ist noch offen.