Volker Seitz / 06.03.2022 / 16:00 / Foto: Erwin Wickert Stiftung / 3 / Seite ausdrucken

Ein streitbarer Geist aus der alten Bundesrepublik

Ulli Kulke hat mit seinem Buch über das bewegte Leben von Erwin Wickert ein Stück fesselnder Geschichte deutscher Diplomatie geschrieben. Wickert war ein kultivierter und kosmopolitischer Diplomat, wie er sonst nur im französischen und angelsächsischen Sprachraum zu finden ist.

Ulli Kulke hat in seinem hoch lesenswerten Buch „Erwin Wickert. Abenteurer zwischen den Welten – Ein Leben als Diplomat und Schriftsteller“ über das bewegte Leben von Erwin Wickert ein Stück fesselnder Geschichte deutscher Diplomatie geschrieben. Der Diplomat, Schriftsteller, Essayist, Romancier, und Dramatiker war ein selten unabhängiger Geist und ein unangepasster Zeitzeuge des 20. Jahrhunderts.

Seine bekanntesten Romane „Der Auftrag des Himmels“ (1960) spielen im kaiserlichen China und „Der Purpur“ (1965) im alten Rom, im dritten Jahrhundert n. Chr. Wickerts Lieblingsthema war auch hier der Machtmissbrauch eines Herrschers. 

Wickert studierte 1934 in Berlin Philosophie und Germanistik. Mit Hilfe eines Stipendiums setzte er seine Studien am Dickinson College in Carlisle/Pennsylvania fort und erlangte 1936 den Bachelor of Arts. Anschließend reiste er als Tramp oder Hobo, teilweise auf Güterzügen, durch die USA. Er hat Japan, Korea und China bereist, bis ihm in Shanghai das Geld ausging. Nach seiner Rückkehr nach Deutschland wurde er in Heidelberg zum Dr. phil. promoviert und wurde 1939 als wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Kulturabteilung des Auswärtigen Amts eingestellt und als Rundfunkattaché ins japanisch besetzte Shanghai versetzt.

1941 folgte eine weitere Versetzung als Rundfunkattaché nach Tokio, wo er den Sowjetspion Richard Sorge kennenlernte. Nach dem Zweiten Weltkrieg kehrte Wickert mit seiner Familie (sein Sohn Ulrich, der Fernsehjournalist, wurde in Tokio geboren) auf einem amerikanischen Truppentransporter nach Deutschland zurück, wo er in Heidelberg als freier Schriftsteller und Hörspielautor lebte. 1952 war Erwin Wickert der erste Träger der heute immer noch bedeutendsten Auszeichnung für Hörspiele, dem Hörspielpreis der Kriegsblinden. Er schrieb zehn Hörspiele. 

Skeptisch gegenüber allen Rangordnungen und Autoritäten

Ende 1955 wurde Wickert in den diplomatischen Dienst der neugegründeten Bundesrepublik übernommen. Während dieser Zeit war er ein enger Mitarbeiter des Außenministers Gerhard Schröder, für den er programmatische Reden schrieb. Wickert bedauerte später, nie wieder unter einem Dienstherrn vom seriösen Format eines Gerhard Schröder gedient zu haben.

Eine Doppelkarriere eines kultivierten und kosmopolitischen Diplomaten, wie sie sonst nur im französischen (Paul Claudel, Jean Giraudoux, Romain Gary) und angelsächsischen Sprachraum (Lawrence Durrell, Nicholas Henderson) zu finden ist. Außerdem war er außenpolitisch sehr einflussreich. Seine großen politischen Würfe, sein Einfluss auf die Strategen im Auswärtigen Amt und auf einige Bundeskanzler brachten vieles in Bewegung. Dank seiner Unabhängigkeit und seines Freigeistes (heute würde man im besten Sinne „Querdenker“ sagen) war er seiner Zeit weit voraus. Er war skeptisch gegenüber allen Rangordnungen und Autoritäten. 

Wickert schlug in einem Memorandum der Leitung des Auswärtigen Amts bereits 1966 konkrete Schritte zur Rüstungskontrolle und zur europäischen Sicherheit vor. Sie führte zur Verständigung und Entspannung mit Ländern Osteuropas. So schrieb sich Wickert auch in das Geschichtsbuch der deutschen Einheit.

Die Chinesen wussten, was sie von ihm zu erwarten hatten

Für seine literarischen Ambitionen nahm er sich schon einmal für ein Jahr unbezahlten Urlaub vom Amt. Seine Auslandsposten waren Paris (NATO), London (Gesandter) sowie als Botschafter Bukarest (zur Zeit des Diktators Ceaușescu) und 1976 Peking. Mao starb einen Tag nachdem Wickert sein Beglaubigungsschreiben übergeben hatte. 

Der Posten in Peking war der Höhepunkt seiner Diplomatenlaufbahn. Er erwarb sich rasch den Respekt der Chinesen, weil er sagte, was er meinte, und dies auch durchsetzte. Die Chinesen wussten, was sie vom ihm zu erwarten hatten. Er war nicht nur mit der chinesischen Sprache vertraut und als Experte der chinesischen Geschichte geschätzt. Auch in der klassischen chinesischen Literatur und Philosophie kannte er sich aus.

Wickert brachte vieles politisch in Bewegung. Unmittelbar nach Maos Tod vermittelte er dem neuen mächtigen Mann, dem Pragmatiker Deng Xiaoping, mit Kanzler Schmidts Unterstützung westdeutsche Wirtschaftsberater aus der ersten Garde. Wirtschaftliche Themen standen für Wickert jetzt im Vordergrund. Zehn Jahre später hatte sich der bilaterale Handel vervierfacht. Mit seiner Hilfe kamen auch die ersten chinesischen Studenten nach Deutschland. 

Sein Hörspiel „Der Klassenaufsatz“ wurde übersetzt und als erstes ausländisches Hörspiel im chinesischen Rundfunk gesendet. Im Ruhestand schrieb er „China von innen gesehen“. Der Bestseller über Entwicklungen im China der Nach-Mao-Ära gilt heute noch als Klassiker. Es ist eines der ersten grundlegenden Werke über die chinesische Politik. Sein literarischer Nachlass ist im Literaturarchiv Marbach einzusehen. 

Ulli Kulke hat es geschafft, ganz abgesehen vom informativen Gehalt, ein sehr gutes Buch über einen sehr außergewöhnlichen Zeitzeugen zu schreiben. Stil, Sprache, Zusammenhang und Textfluss transportieren den ausgezeichnet recherchierten Inhalt mit unterhaltsamer Leserlichkeit. Die Lektüre lohnt sich: Das Buch bietet in seiner ganzen Fülle einen tiefen Einblick auch in die deutsche Außenpolitik und Diplomatie nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Wer hat schon so viel vom 20. Jahrhundert miterlebt wie Erwin Wickert?

„Erwin Wickert. Abenteurer zwischen den Welten – Ein Leben als Diplomat und Schriftsteller“ von Ulli Kulke, 2021, Langen Müller: München. Hier bestellbar.


Volker Seitz war von 1965 bis 2008 in verschiedenen Funktionen für das deutsche Auswärtige Amt tätig, zuletzt als Botschafter in Kamerun, der Zentralafrikanischen Republik und Äquatorialguinea mit Sitz in Jaunde. Er gehört zum Initiativ-Kreis des Bonner Aufrufs zur Reform der Entwicklungshilfe und ist Autor des Bestsellers „Afrika wird armregiert“. Die aktualisierte und erweiterte 11. Auflage erschien am 18. März 2021. Volker Seitz publiziert regelmäßig zu afrikanischen Themen und hält Vorträge (zum Beispiel „Was sagen eigentlich die Afrikaner“, ein Afrika-ABC in Zitaten).

Foto: Erwin Wickert Stiftung

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G. Böhm / 07.03.2022

Vielen Dank für den Hinweis zum Lesestoff! - “Der Posten in Peking war der Höhepunkt seiner Diplomatenlaufbahn. Er erwarb sich rasch den Respekt der Chinesen, weil er sagte, was er meinte, und dies auch durchsetzte. Die Chinesen wussten, was sie vom ihm zu erwarten hatten. Er war nicht nur mit der chinesischen Sprache vertraut und als Experte der chinesischen Geschichte geschätzt. Auch in der klassischen chinesischen Literatur und Philosophie kannte er sich aus.” - Ich möchte Sie ja nicht direkt fragen Herr Seitz, als einer aus der Garde der Alten, aber wie sollte Putin unter solchen Prämissen gegenüber einer Frau B. oder einem Herrn Sch. Respekt aufbringen können, für mich ist dies nicht vorstellbar.

Gerhard Maus / 06.03.2022

Sie haben mich neugierig gemacht. Ich werde mir das Buch anschauen und vermutlich auch kaufen. —- p.s. Die Buchempfehlungen bei achgut (u.a. Vera Lengsfeld) sind oft ansehens- und auch kaufenswert!

Christian Feider / 06.03.2022

tja,da haben wir ja dann den Namen des Diplomaten,der dem chinesischen Streben nach Wirtschaftsspionage mittels kopieren Tür ud Tor geöffnet hat. ich erinnere mich immer noch mit Grausen an die DB, die de deutsche Hochgeschwindigkeitstechnik in China in einer Fabrk in Lizenz bauen liess ,woraus eine 80% Monopolstellung der Chinesen heute auf diesem Markt geworden ist. Bravo also insgesamt!

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