Wissenschaft und Forschung werden an der Uni groß geschrieben, aber auch, wie in diesen Landen üblich, Football und Basketball. Und damit hat es sich eigentlich normalerweise mit dem Fanatismus. Wären da nicht mehr oder weniger symbolische Überreste aus dem vor über einhundertfünfzig Jahren von den Sklavenhaltern verlorenen Bürgerkrieg, eine "Schande", die die verbohrtesten Südstaatler nie überwunden haben.
In den Zwanzigern des letzten Jahrhunderts, während der Jim Crow-Zeit, als Afroamerikanern viele der mühsam erkämpften Bürgerrechte wieder abgeknöpft wurden und das Lynchen schwarzer Männer fast schon zur Tagesordnung zählte, spendierte ein reicher Bürger seiner Stadt Charlottesville überlebensgroße Reiterstatuen der Bürgerkriegsgeneräle Robert E. Lee und Stonewall Jackson -- wohl damit sie vom Feld ihrer Niederlage gegen die Nordstaaten nach Jahrzehnten der Schmach in glorreicher Bronze wieder auferstehen sollten.
Um diese Denkmäler zweier Verräter der amerikanischen Union, die einst ihren Offiziersschwur auf die Vereinigten Staaten gebrochen und sich an die Spitze rassistischer Rebellen gestellt hatten, ging es in den vergangenen Tagen, zumindest vordergründig. Denn erst in den letzten Jahren wurde eine fruchtbare öffentliche Debatte über den Sinn oder Unsinn solcher Monumente gewagt. (Man stelle sich vor, in Deutschland wären Jahrzehnte nach der Weltkriegsniederlage plötzlich Rommel- und Dönitz-Standbilder auf den Marktplätzen von Tübingen oder Freiburg errichtet worden, möglichst nach Originalentwürfen von Arno Breker...)
Ein Richter ordnet eine Pause an
Als sich der Stadtrat von Charlottesville nach Bürgeranhörungen und Fachsimpeleien über technische Schwierigkeiten und juristische Stolpersteine sowie Geschwafel über den künstlerischen Wert der Patina-Generäle vergangenen Winter entschied, diese Dinger loszuwerden (durch Verkauf oder Umbettung in eine weniger symbolträchtige Umgebung), brach bei den "Südstaatlern" die Hölle los. Sie rannten zum Kadi, der sich nicht gleich entscheiden mochte und erstmal ein mehrmonatiges Moratorium anordnete. Und schon witterte das Rechtsaußenlager, allen voran zunächst der Ku Klux Klan, die Chance, im Zeitalter seines Maulhelden Trump ein Exempel statuieren zu können.
Der ersten Versuche liefen ziemlich schief. So umringten Mitte Juli über tausend meist einheimische Bürger ein tristes Häuflein von ein paar dutzend weißen Bettlaken mit Augenschlitzen und überdröhnten die Haßtiraden der Spitzhüte. Eine Medienniederlage der Extremisten, denen nicht viel anderes übrig blieb, als sich mit eingezogenen Schwänzen auf ihre hinterwäldlerische Basis in North Carolina zu verdrücken. Also mußte größeres Kaliber her; und so kam es am vergangenen Wochenende zu den Bildern, die um die Welt gingen, und den Vorkommnissen, die inzwischen allüberall ausgiebig durchgehechelt wurden.
Noch während das Chaos live war, meldeten sich manche unserer Freunde und Bekannten besorgt und wollten wissen, wie es uns so vor Ort erging. Immerhin richteten sich wegen der rechtsradikalen Umtriebe und Neonazi-Gewalttaten, einschließlich eines Mordes, die Augen der Welt auf unser normalerweise friedliches und schönes Universitätsstädtchen, Heimatstadt von Thomas Jefferson, dem dritten Präsidenten der USA, Verfasser der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung und Gründer der University of Virginia, eine Wiege der amerikanischen Demokratie.
"Sieg Heil!" und "Blut und Boden"
Am Freitagabend setzte sich auf dem Campus, wo meine Frau als Professorin lehrt, ein unangemeldeter Fackelzug von etwa dreihundert am Nachmittag in die Stadt geströmten Knobelbechern und Glatzen in Bewegung, unter "Sieg Heil!"-Gejohle, Schwüren von "Blut und Boden" und "Juden raus"-Gegröle. An der mitten auf dem Campus stehenden Statue von Thomas Jefferson schlugen sie mit Knüppeln auf ein Grüppchen herbeigeeilter Studenten ein; dabei wurde unter anderen der Dekan für Studentenangelegenheiten, der die antisemitischen Haßprediger zu beschwichtigen versuchte, von einer als Speer benutzten Fackel blutig verletzt.
Warum die Universitätspolizei nicht gleich erschien und dem Treiben ein Ende machte, ist bislang unklar, vor allem da die seit Wochen schrille rechtsradikale Propaganda der für den nächsten Nachmittag in der Stadtmitte angekündigten Demo genügend Warnung hätte sein sollen. Wahrscheinlich, möchte man hoffen, war es lediglich fahrlässige Naivität der Univerwaltung, denn zur Zulassung der Samstagdemo war die Stadt unter Bezug auf die verfassungsrechtlich ganrantierten Redefreiheit von einem Bundesrichter gezwungen worden.
Von dem allen bekamen meine Frau und ich nichts mit, als wir am Freitagabend zu unserem Tangoclub in der Stadtmitte gingen, nur ein paar Schritte entfernt von der Mordszene des nächsten Tages. Gegen Mitternacht fuhren wir zum Emancipation-Park neben der Stadtbibliothek, um uns die Vorbereitungen für die Ariershow anzusehen. Zwölf Stunden später sollte ein bis an die Zähne bewaffneter rassistischer Pöbel hier Haßtiraden brüllen und nicht nur Hakenkreuzfahnen, sondern auch Fäuste, Keulen und Gardinenstangen schwingen.
Der Himmel über Charlottesville
Aber noch war dort, in Sichtweite der Polizeistation und der Gerichte und einen Steinwurf entfernt von der Synagoge, alles ruhig. Das gelbe Neonlicht der provisorischen Umleitungstafeln kündigte an, dass die Straße in wenigen Stunden geschlossen würde. Der kleine Park, in dem sich normalerweise an milden Freitagabenden die Jugend tummelt, war mit Metallbarrikaden verrammelt, während das Standbild von Robert E. Lee, dem Oberbefehlshaber der südlichen Sklavenhalterarmee im Bürgerkrieg, vor dem Hintergrund des diesigen Himmels verschwamm.
Wie gesagt, und man kann es nicht oft genug wiederholen: Dieses Denkmal für die konföderierten Verräter war erst 1924 aufgestellt worden, knapp sechzig Jahre nach der Niederlage, in arroganter Pose gegen den siegreichen Norden und die Sklavenbefreiung, eine der vielen rassistischen Gesten während jener Jahre in der ersten Hälfte des Zwanzigsten Jahrhunderts.
Ich widerstand der Versuchung, mit meiner Kamera aus dem Wagen zu springen, um Fotos von der gespenstischen Szene zu machen; wer weiß, wer da bereits in den Büschen lauern mochte. Immerhin hatten Arbeiter wenige Stunden zuvor beim Aufstellen der Barrikaden ein verstecktes Messer gefunden.
Meine Frau und ich hatten bereits beschlossen, uns getreu den Empfehlungen des Southern Poverty Law Center, unserer bevorzugten Bürgerrechtsorganisation, von der rechtsradikalen Veranstaltung fernzuhalten. Wir zogen es vor, nachmittags zur Uni zu fahren und dort an einer Gegendemonstration von Professoren und Studenten teilzunehmen. So verfolgten wir zunächst über lokale Twitternachrichten, wie das Muskelspiel mehrerer tausend Rechtsradikaler mit ihren Ku-Klux-Klan-Verbündeten und nazistischen Untergruppierungen bereits Stunden vor der gerichtlich sanktionierten Zeit in Schwung kam und gewalttätige Ausschreitungen schließlich dem Gouverneur von Virginia einen legalen Grund boten, den Notstand auszurufen, die Versammlung für aufgelöst zu erklären und SWAT-Teams der Staatspolizei anrücken zu lassen.
Gleichzeitig schloß die Universität und sagte aus Sicherheitsgründen auch die Proteste gegen die Nazis ab, um diesen kein Hintertürchen zu bieten. Über den Twitter-Kanal eines Lokaljournalisten sahen wir am frühen Nachmittag mit Grausen, wie im Einkaufszentrum der Stadt, wenige Blocks vom inzwischen wieder menschenleeren und abgeriegelten Emancipation Park, ein Auto mit Kennzeichen des Staates Ohio Anlauf nahm, um mit vollem Karacho in die friedliche Menge einheimischer Gegendemonstranten zu rasen.
Täter und Opfer in einen Topf
Wir erstarrten vor dem Bildschirm, während der Horror sich wie eine Krake ausbreitete - gleichzeitig im Zeitlupen- und Zeitraffertempo. Endlich erschien der auf einem seiner Golfkurse urlaubende Präsident des Landes auf dem Fernsehbildschirm. Mit aufsteigendem Brechreiz lauschten wir dem kaltschnäuzigen Geschwätz, mit dem sich Trump selbst überbot, mit dem er Täter und Opfer in einen Topf schmiss.
Per Telefon und Internet erreichten uns bald besorgte Fragen von Familie und Freunden: Seid ihr betroffen? Geht es euch gut? Und wir fragten uns selbst: Sollten wir ein schlechtes Gewissen haben, weil wir weiterhin in der relativen Sicherheit unseres Hauses verweilten, etwa fünf Kilometer entfernt von dem Schrecken, der unseren Frieden als eine Schimäre entlarvt hatte?
Gegen Abend fuhren wir nach Richmond, die knapp einhundert Kilometer von Charlottesville entfernte Hauptstadt von Virginia, die einst, während des Bürgerkrieges, auch die Hauptstadt der Südstaaten war. Auf einem Umweg, um die direkte Route durch die belagerte Innenstadt zu vermeiden, hörten wir von dem Absturz des Polizeihubschraubers und dem Tod der zwei Piloten. Wir hatten Eintrittskarten für ein Theaterstück, "The View Upstairs" von Max Vernon, erst kürzlich in New York uraufgeführt.
Trotz allem wurde es ein gutes Theatererlebnis, obwohl sicher nicht eines, das eskapistische Unterhaltung bot; das Stück basiert auf der Geschichte einer Brandstiftung, die 1973 in einer Schwulenbar in New Orleans zweiunddreißig Menschen das Leben kostete. (Die Täter wurden nie gefaßt.) Eine zeitgemäße Mahnung in unseren Tagen unter dem trumpschen Regime der Intoleranz und der mörderischen Mentalität seiner fanatischsten Anhänger – Leuten wie jene, die an diesem Augustwochenende in Charlottesville, Virginia Hakenkreuzfahnen schwenkten und faschistische Embleme zur Schau stellten, während sie unter "Sieg Heil"-Gegröle brutal auf Gegendemonstranten einprügelten und auch vor Mord nicht zurückschreckten.
Als wir aus Richmond zurückkehrten, war es Mitternacht. Unser Städtchen schaute friedlich drein wie sonst, die Straßen still und leer. Da ein leichter Regen fiel, mußten wir unsere Hoffnung aufgeben, den Sternschnuppenschwarm der Perseiden zu beobachten, den Astronomen für diese Nacht angekündigt hatten.