Das Missverständnis beginnt damit, dass man mit Griechenland eine große Zeit verbindet. Kein Nachrichtenbild ohne Akropolis. Der Westen hält das Land nicht nur für einen Ausläufer der Antike, sondern gleich für einen Repräsentanten dieser Hochkulturphantasie. Was er sich selbst symbolisch angeeignet hat, hält er insgesamt für symbolisch transportierbar.
Griechenland aber ist nicht Griechenland. Es ist es nie gewesen. Das heutige Griechenland gibt es seit dem frühen 19. Jahrhundert und seine Traditionen beruhen auf dem Bekenntnis zur Ostkirche und zu deren politischer Ausmalung, zu Byzanz. Byzanz war, als ideeller und realer Mittelpunkt der Orthodoxie, nie an Reformen beteiligt, weder an kirchlichen noch an weltlichen.
Die zweite Prämisse für das Wesen des heutigen Griechenland stellt eine jahrhundertelange osmanische Herrschaft dar, die, ähnlich wie auf dem Balkan, mentalitätszerstörerisch wirkte, indem sie den gesamten Raum, einschließlich Griechenland, von der westlichen Entwicklung seit der Renaissance abgeschnitten hat.
Auch in Griechenland gab es im 19. Jahrhundert, getragen von der Welle europäischer Gedankenflüge und des Kontaktes mit diesen, eine ausgeprägte nationale Idee. Mehr aber auch nicht. Der Unterschied zwischen der Nationalvorstellung, wie sie im Westen Fuß fassen konnte und jener im Osten Europas ist einfach: Die einen hatten zwingende Gründe und Vorgaben durch Industrialisierung und laufende Auswertung der Schriftkultur, die anderen hatten Träume. Griechenland gehörte zu den Träumern.
Nun liebt man bekanntlich die Träumer nirgends so sehr als im Westen Europas. Sie sind dort früh zur kollektiven Fantasie gestoßen. Die französische Revolution hat den Hang zur Imagination noch verstärkt und die Romantik hat ihres dazu beigetragen, dass die Folklore über den Helden diesen zu einer der wichtigsten Imaginations- und Denkfiguren der westlichen Öffentlichkeit machen konnte. Die Kämpfer für Freiheit und Gerechtigkeit wurden spätestens mit der Einführung der Presse zu Serienhelden gekürt. So wurde der Rebell zum Inidvidualisten.
Dieser Hang des Westens, die Realität durch die Imagination zu ergänzen und es zu goutieren, kann dem Abendland nichts anhaben, und kommt zunächst einmal dem östlichen Rand Europas zugute. Er hilft den Stillstand der osmanischen Herrschaft zu überwinden. Die das wollten, waren kleine Gruppen aus der einheimischen Oberschicht, die aufgrund ihrer Privilegien und Besitztümer den Westen kennen gelernt hatten.
Ihre Chance war die geopolitische Situation im Europa des 19. Jahrhunderts. Die Zerstrittenheit der sehr verschiedenen Großmächte. Für Länder wie Griechenland war der zukünftige Zerfall des Osmanischen Reiches entscheidend, und das in Verbindung mit den Interessen Russlands an den Dardanellen, dem Flotten-Zugang vom Schwarzen Meer in die Ägäis, sowie den Mittelmeerplänen der westlichen Kolonialakteure, deren Ziel es war, die osmanische Herrschaft zu beenden, um näher an die Rohstoffe des vorderen Orient, zu kommen.
Fantasien und Interessen des Westens brachten die Griechen in die Rolle der Freiheitskämpfer. Ihr Image entstand nicht aus der eigenen Situation, sondern aus deren Instrumentalisierung. Ihre Chance bestand nicht darin, einen lang gehegten kollektiven Wunsch zu verwirklichen, sondern die instrumentalisierte Situation zu nutzen.
So hatte der Vorgang von Anfang an mehr mit seiner Darstellung als mit der in ihm enthaltenen Wahrheit zu tun. Schlimmer aber ist, folgenreicher, dass die Griechen, wie die Balkanvölker insgesamt, lernten, wie man sich angesichts der Großmachtinteressen am besten durchmogelt, und von den Divergenzen und Konflikten zwischen den Großmächten profitiert bzw. buchstäblich Kapital daraus schlagen kann.
Griechenland war nicht nur keine ganz gewöhnliche Demokratie, wie es ab und zu gesagt wird, es war nicht einmal eine nach modernen Kriterien installierte Gesellschaft. Die Institutionen waren Scheininstitutionen, flankiert von der dazugehörenden Verwaltungskorruption. Und das wichtigste: Griechenland lebte nie von der wirtschaftlichen Leistung, es lebte von seiner geopolitischen Lage. Solange es gegen das Osmanische Reich ging, war es Brückenkopf für Russland und für die Entente, im Kalten Krieg war es unverzichtbar für die Sicherung der Südostflanke der NATO. Es gab stets einen Grund, Griechenland zu alimentieren.
Griechenland ist ein Opfer von 1989 geworden. Das Ende des Kalten Krieges war nicht nur die Stunde der Freiheit in Europa, sondern für nicht wenige, die sich in den symbolischen Schützengräben bequem eingerichtet hatten, auch die Stunde der Wahrheit. Griechenland hatte gewissermaßen ein ähnliches Problem wie das Tito-Jugoslawien. Der Staatshaushalt war gar nicht mit eigenen Mitteln zu erwirtschaften, wurde aber von den Supermächten stillschweigend ausgeglichen.
Die heutige Katastrophe, in die Griechenland geraten ist, beruht auf einem Missverständnis zwischen EU und Griechenland. Griechenlands Beitritt zur EU und zur Eurozone ist mit einem klassischen politischen Denken in Athen zu erklären. Man schließt sich dem Imperium an. Das Missverständnis war, die EU als klassisches Imperium zu betrachten. Die EU hat zwar eine imperiale Rolle, aber sie legt Wert darauf, dieses Imperiale selbst zu definieren und es erst, wenn es als Notwendigkeit erscheint, zuzulassen.
Der Unterschied zur klassischen Konstellation im Europa des 19. und 20. Jahrhunderts besteht vor allem darin, dass die Fronten der Welt nicht mehr durch Europa verlaufen, dass Europa kein Schauplatz der Konflikte mehr ist. In welcher Weise sollte Griechenland sich in Brüssel und Straßburg nützlich machen können? Es gibt keinen einzigen sinnvollen Grund, den Staat Griechenland, wenn er nicht lebensfähig ist, weiter am Leben zu halten. Jede Nation hat zwar nach europäischen Vorstellungen, spätestens mit der französischen Revolution, das Recht auf einen eigenen Staat, aber nicht das Recht auf europäische Standards, wenn sie nicht durch eigene Leistung aufgebracht werden können.
Es gibt keinen Anspruch auf die Mitgliedschaft in der Eurozone, es gibt nur das Recht auf einen Antrag zu einer solchen Mitgliedschaft. In der Griechenland Frage müssen alle Beteiligten die Lüge erkennen und überwinden können. Die Wahrheit ist brutal. Entweder man schließt Griechenland aus der Eurozone aus und riskiert ein Chaos im Lande oder man stellt es unter eine direkte Verwaltung der Europäischen Union. Es wäre eine Art Konkursverwaltung. Damit kollidiert man aber mit dem ausgeprägtem griechischen Nationalbewusstsein und bekommt es ebenfalls mit Unruhen zu tun. Kurzum, wer eine Ordnung ins Griechische System bringen will, wird, so oder so, auf große Schwierigkeiten stoßen. Also sollte man das Protektorat, als effektivstes Mittel des Krisenmanagements in Erwägung ziehen