Der Autor des Romans „Itamar K.“ ist ein Bruder des israelischen Ministerpräsidenten, was ihm nicht unbedingt nützt. Jetzt wurde er ins Deutsche übersetzt. Lesenswert ist er allemal.
Um es vorweg zu nehmen: Der Autor dieses aufregenden und amüsanten Romans, Iddo Netanyahu, ist der jüngere Bruder des derzeitigen israelischen Premierministers. Was sich eher als Hindernis für die Wahrnehmung seines literarischen Werkes erweist. Die Rezeption seiner Bücher ist von Tagespolitik überlagert wie von Schutt und Geröll. Dabei ist Iddo Netanyahu ein begabter, vielleicht sogar bedeutender Autor, wie sein Roman „Itamar K.“ vermuten lässt, der nun nach englischer, russischer und italienischer auch in deutscher Übersetzung erschienen ist.
Der Protagonist des Romans, Itamar Koller, ein hoffnungsvoller junger Mann, ursprünglich Violinist, nach einem Unfall an wahrer Virtuosität auf seinem Instrument gehindert, studiert an einer Filmhochschule in New York. Wo er eine Idee hat, die Idee zu einem Film. Er schreibt ein Drehbuch und kehrt damit in sein Geburtsland Israel zurück. Im Laufe des Romans muss er erleben, wie seine Idee von Vertretern des herrschenden Kulturbetriebs ruiniert wird. Am Ende entsteht ein Film ohne ihn, der so ziemlich das Gegenteil seines ursprünglichen Konzepts realisiert. Der patriotische Sänger Melamed, den er mit seinem Film würdigen wollte, wird nun als Feindfigur demontiert. Frustriert zieht sich der junge Itamar aus dem Kulturbetrieb zurück und verdient sein Geld mit Violin-Unterricht – ein Entschluss, zu dem man ihn nur beglückwünschen kann.
Denn dieser Kulturbetrieb ist nicht mehr zu retten. Er versteht sich als „links“ und von höheren Absichten getragen und ist doch nur profan und niedrig. Ein Panoptikum wahnhafter Selbstdarsteller, alle haben etwas mitzureden und zu bestimmen, weil ein Film – das ist das Problem dieses Genres – nicht ohne Geld und Mitwirkung anderer Menschen zustande kommt. Und der junge Itamar, musikalisch, sensibel, sinnlich, ist leicht beeinflussbar. Geduldig hört er sich die Monologe von Egomanen und Paranoikern an, von durch Eitelkeit und ständiges Lügen Entstellten; er lässt sich auf eine Liebesbeziehung ein mit einer älteren, wohlhabenden Frau aus Tel Aviv; er geht einer bösen Interviewerin in die Falle, die das Gespräch mit ihm in einer führenden Tageszeitung verzerrt und voller Unwahrheiten wiedergibt.
Wer die neunziger Jahre des vorigen Jahrhunderts in Israel miterlebt hat, erinnert sich an die ideologischen Stereotype der sogenannten „Friedenspolitik“, die in diesem Roman über viele Seiten wiedergegeben werden. Die Tiraden der Mitglieder der „Nationalakademie für die Förderung vorbildlicher Kunst“ wirken daher ganz realistisch, die Darstellungen aus dem israelischen Kulturbetrieb schmerzhaft wahr. Da es sich bei dieser Dosis von Irrsinn offensichtlich um Satire handelt, können die Figuren des Romans seitenlang sprachliche Plattitüden von sich geben, ohne dass der Eindruck von Trivialliteratur entsteht. Sie sind – mit Ausnahme des Protagonisten Itamar und seiner Geliebten Rita – auch weniger als lebendige Menschen angelegt, eher (wie Marx einst Schillers Theaterfiguren nannte) als „Sprachröhren des Zeitgeistes“.
Hinter der snobistischen Fassade lauert das Autoritäre
Selten hat man so viel absurdes Gerede narzisstischer Selbstdarsteller gelesen wie in diesem Roman. Als hätte der Autor auf einer Intellektuellen-Party im Tel Aviv der späten Neunziger Jahre ein Aufnahmegerät laufen lassen. Das meiste von diesem Gerede ist heute vergessen, weil es von einer stärkeren Realität außer Kraft gesetzt wurde. Die „Friedenspolitik“ der Achtziger und Neunziger Jahre erwies sich als Illusion, ihre Ideologie als falsch. Zugleich entlarvt die Sprache der Figuren den Mechanismus von dieser Art „Linkssein“, dieser Art „Kulturbetrieb“. Die Verstiegenheit einer angemaßten „Elite“ ist Bedingung, wenn man dazu gehören will. „Ich arbeite gerade parallel zum Seminar an meiner Diplomarbeit ‚Die Zigarette im israelischen Film. 1948–1958‘. Furchtbar interessant!“ Hinter der snobistischen Fassade lauert das Autoritäre: In der Akademie gibt es „eine spezielle Kommission, die darüber entscheidet, welche Bücher einen ledernen Rücken bekommen und welche nicht.“ Der ahnungslose Protagonist, dem es um einen Film, eine künstlerische Botschaft geht, findet sich wieder in einer Welt kalter Masken, die an die Totentanzbilder von James Ensor erinnert. Ja, es ist ein Betrieb des geistigen Todes und der Selbstzerstörung. Hier werden Projekte zur Strecke gebracht und Talente vernichtet. Das impotente, giftige Produkt, das dieser „Kulturbetrieb“ am Ende ausstößt, nennt Autor Iddo Netanyahu „eine Melange aus Lügen und Spott“.
Zunächst ist es ein Zeichen von Talent, wenn Netanyahu das trübsinnige Milieu „linken“ Kulturschwindels auf amüsante Weise widerspiegeln kann. Doch diesem Autor werden Talent und Scharfsinn nicht zugute gehalten, sondern verübelt: Er ist der Bruder eines umstrittenen, in bestimmten Kreisen verhassten Politikers. Das verschafft ihm zunächst eine Aufmerksamkeit, die mit Interesse an Literatur wenig zu tun hat. Ferner treffen ihn, ohne dass er dafür könnte, zahlreiche Antipathien, die seinem Bruder gelten. In Deutschland gingen die politischen Bedenken gegen den Schriftsteller so weit, das ihn bestimmte Veranstalter nachträglich wieder ausluden. Ein verschärfter Fall von cancel culture gegen einen belletristischen Autor. (Ich schrieb darüber auf Achgut.)
Insgesamt liegt die Versuchung nahe, Iddo Netanyahu für einen politischen Autor zu halten und „Itamar K.“ für einen politischen Roman. Für mein Gefühl greifen solche Interpretationen zu kurz. Eigentlich ist „Itamar K.“ ein klassischer, dabei sehr moderner Entwicklungsroman, eine psychologisch fein gezeichnete éducation sentimentale. Wir erleben das Reifen des jungen Protagonisten vom ahnungslosen Träumer zu einem Mann, der sich mit dem Möglichen zufrieden gibt. Manches nimmt für ihn ein: seine erfrischende Taktlosigkeit, seine erotische Sensibilität, seine Liebe zur Musik, schließlich auch sein Scheitern in einem durch und durch verdorbenen Milieu.
Mangel an Rückgrat
Der israelische Kulturbetrieb krankt, wie die israelische Linke insgesamt, an seiner Anpassungssucht an geistige Moden des Auslands. Es liegt zum einen daran, dass in Europa und bei gewissen liberalen, israel-feindlichen Juden in den USA immer noch viel Geld zu holen ist, als finanzielle Unterstützung für ihre Projekte. Zum anderen ist die israelische Kultur-Schickeria von psychischen Mustern aus der Zeit des Exils geprägt: Servilität gegenüber mächtigen Nichtjuden, Hochmut gegenüber Juden, besonders ihren israelischen Landsleuten. Ich erinnere mich an die zwei Gesichter des bekannten israelischen Autors A. B. Yehoshua: Einst sprach ich mit ihm als Israeli, noch dazu als Wüstenbewohner und Provinzler, fern vom Epizentrum Tel Aviv, da war er schroff und von oben herab, ein andermal rief ich ihn an als Sekretär eines ausländischen PEN-Zentrums, da war er von servilem Entgegenkommen.
Dieser Mangel an Rückgrat, diese ständigen Angst, den Beifall der Linken Europas zu verlieren, hat die israelische Linke im eigenen Land weitgehend um ihre Bedeutung gebracht. Iddo Netanyahu hat sie verewigt in den Tagen ihrer Dominanz und Deutungshoheit, als man hier in Israel auf Gedeih und Verderb auf ihre Gnade angewiesen war. Und wie sie in Netanyahus Buch vorgeführt wird, anmaßend, im Höhenflug, am Rande des Größenwahns, bedauert man auch nicht, dass sie heute auf unter zehn Prozent der Wählerstimmen abgestürzt ist. Die eigentliche, selbst erklärte Aufgabe der Linken, sich für soziale Gerechtigkeit einzusetzen, für erschwingliche Wohnungen und Kindergärten, für Preisstopp bei Lebensmitteln, für den Ausbau bezahlbarer Infrastruktur, diese Aufgabe hat sie nie wirklich in Angriff genommen. Stattdessen Weltpolitik, großspurige Ideologie, grandiose Projekte zur Beglückung der Menschheit.
So ist, was der israelischen Linken geschehen ist, eine symbolische Geschichte, eine allgemeine Menschengeschichte. Lifnej chishalon govah ruach, heißt es im biblischen Buch der Sprüche Salomos, Hochmut kommt vor dem Fall. Die arroganten Intellektuellen, die sich in diesem Buch durch ihr Gerede decouvrieren, mögen sich selbst als Sprecher einer edlen politischen Haltung verstehen, doch im Kern bleiben sie kleine Leute, getrieben von Eitelkeit, Geltungssucht und Gier. Iddo Netanyahu ist ein begabter, scharf beobachtender Schriftsteller, dem es dabei weniger ums Politische geht als um Literatur, um die Umsetzung einer von ihm als absurd empfundenen Realität in künstlerische Bilder.
Er schreibt mit Verve. Sein Stil ist dynamisch, seine kompositorischen Ideen sind originell, seine Szenerien präzise. Dass diese Prosa überzeugt, liegt auch an der spritzigen Übertragung von Artur Abramovych, der hier erstmals seine Fähigkeiten in deutschsprachiger Belletristik bewies. Das Zusammentreffen von Autor und Übersetzer war ausgesprochen glücklich. Am Ende entstand ein Roman, den zu lesen ein Vergnügen ist. Mit Szenen, die man nicht vergisst, mit Dialogen, die nachklingen, und einem sympathischen Protagonisten, der sanft und ohne Tragödie aus der Handlung geht. Anders als Autor Netanyahu fürchtet: „So ist es immer mit den positiven Figuren: sie bereiten uns ständig Probleme.“
Iddo Netanyahu, Itamar K. Ins Deutsche übertragen von Artur Abramovych. Hess Verlag Stuttgart, 2023, 299 S., Euro 20. Eine stark gekürzte Version dieses Textes erschien in der Zeitschrift Cato, Heft 2/2024. Über Netanyahus gecancelte Veranstaltungen lesen Sie auch hier.
Chaim Noll wurde 1954 unter dem Namen Hans Noll in Ostberlin geboren. Seit 1995 lebt er in Israel, in der Wüste Negev. Chaim Noll unterrichtet neben seiner schriftstellerischen Tätigkeit an der Universität Be’er Sheva und reist regelmäßig zu Lesungen und Vorträgen nach Deutschland. In der Achgut-Edition ist von ihm erschienen „Der Rufer aus der Wüste – Wie 16 Merkel-Jahre Deutschland ramponiert haben. Eine Ansage aus dem Exil in Israel“.