Peter Grimm / 03.11.2024 / 16:00 / Foto: Rudolf Wildermann / 24 / Seite ausdrucken

Ein paar Wahrheiten ohne Konsequenzen

Das Lindner-Papier zur Wirtschaftspolitik wird wohl zu einem weiteren FDP-Rohrkrepierer.

Eigentlich wollte FDP-Chef und Bundesfinanzminister Christian Lindner demonstrieren, dass er von der Ampel jetzt endlich richtig Abstand nimmt. Am Ende wird man wohl nur sehen, dass er den Mund gespitzt, aber nicht gepfiffen hat. Es sollte wie ein Scheidungsurteil für die ungeliebte Ampel-Koalition aussehen, dieses sogenannte Grundsatzpapier, in dem Lindner eine Neuausrichtung der Wirtschaftspolitik fordert, mit der die bisherige Ampel-Politik über den Haufen geworfen werden müsste. Dass darin bürokratiefördernde Gesetzesvorhaben, wie das Tariftreuegesetz, das Lieferkettengesetz oder das Entgelttransparenzgesetz, für wirtschaftsschädlich und verzichtbar erklärt wurden, ist wahrscheinlich noch zu verschmerzen. Aber dass Lindner in seinem Papier dafür plädiert, sich von den sogenannten Klima-Zielen zu verabschieden und alle „unnötigen klimapolitischen Regulierungen und Subventionen“ abzuschaffen, geht ja fast ans Allerheiligste. 

Die sichere und bezahlbare Energieversorgung hält er für wichtig, einen gesetzlich festgelegten Zeitpunkt für den Kohleausstieg für „nicht notwendig“. Er stellt den Zeitpunkt, an dem Heizungen vollständig klimaneutral sein müssten, infrage. Bei den sogenannten Erneuerbaren Energien sollten die Vergütungen für die Einspeisung in den nächsten Jahren auf Null abgesenkt werden. Die Förderung in diesem Bereich hätte „mittlerweile untragbare finanzielle Dimensionen erreicht“. Das klingt nach einem Generalangriff auf die für Rot-Grün nahezu heilige Energiewende.

Auf europäischer Ebene solle Deutschland zudem durchsetzen, dass Regulierungen zur sogenannten Energie- oder Gebäudeeffizienz oder auch Flottengrenzwerte für PKW aufgegeben würden. Um die Koalitionspartner in Schnappatmung zu versetzen, hätte es die Forderung nach einschneidenden Reformen beim Bürgergeld nicht mehr gebraucht, wie auch die Vorschläge zur Streichung von Subventionen.

Dass solche Vorschläge bei den Bürgern ankommen, ist von Lindner sicher richtig kalkuliert. Aber können sie wirklich die im Zustimmung-Absturz befindliche FDP noch retten? Das Publikum fragt sich doch, warum der Bundesfinanzminister all diese von ihm beklagten Irrwege drei Jahre lang tatkräftig mit beschritten hat. Wie will er das vergessen machen? Hofft er, die Wähler würden es honorieren, wenn er jetzt doch noch der ungeliebten Ampel-Regierung ein Ende macht? Das würde möglicherweise klappen, wenn er es denn täte.

Jeder scheut jede Verantwortung

Mit seinem Papier hat er in gewisser Weise den einstigen FDP-Wirtschaftsminister Otto Graf Lambsdorff kopiert, der 1982 einen ähnlichen Scheidungsbrief mit Wirtschaftspolitikreform-Forderungen an seinen SPD-Koalitionspartner schrieb, welcher auch – wie erwartet – zum Ende der damaligen sozialliberalen Koalition führte. 

Allerdings gibt es einen gewaltigen Unterschied zwischen 1982 und 2024. Nämlich den, dass jemand den angekündigten Bruch auch vollstrecken und dafür die Verantwortung übernehmen muss. 1982 kündigte Bundeskanzler Helmut Schmidt die Koalition auf. Mit ihrem vorherigen Rücktritt kamen die FDP-Minister nur ihrer Entlassung zuvor. Aber heutzutage bleibt der kleine Fehdehandschuh des Christian Lindner vielleicht einfach liegen. Verantwortung wird schließlich lieber verschoben als übernommen.

Kann sich jemand vorstellen, dass Olaf Scholz die Koalition kraftvoll und mit klaren Worten aufkündigt? Oder dass die FDP-Minister die Konsequenzen aus dem falschen Ampel-Kurs ziehen und zurücktreten? Zwar drängen Gegner der Ampel in den Reihen der FDP schon länger zum Ausstieg aus der Koalition, wie die FDP-Basisinitiative Weckruf-Freiheit. Aber werden die Herren Lindner, Wissing, Buschmann und Frau Stark-Watzinger wirklich freiwillig ihre Kabinettssessel räumen wollen? Ich halte das für unwahrscheinlich.

Auch die Reaktionen aus der SPD lassen erwarten, dass es allenfalls verbale Verwerfungen geben wird, begleitet von immer neuen Varianten der eigentlich bekannten Ampel-Formelkompromisse. Natürlich hat die SPD-Vorsitzende Saskia Esken Lindners Forderungen lautstark zurückgewiesen und erklärt, dass diese auf die Arbeit der Bundesregierung keinen Einfluss hätten. Ihr Co-Vorsitzender Lars Klingbeil erklärte bereits seine Gesprächsbereitschaft über die wirtschaftspolitischen Vorschläge von Christian Lindner. „Wenn sie dazu beitragen können, unsere Wirtschaft zu stärken und Arbeitsplätze zu sichern, reden wir darüber“, zitiert ihn die Augsburger Allgemeine.

Und der Bundeskanzler schweigt

Klingbeil habe zugleich die Spekulationen über einen Bruch der Ampelkoalition als Verunsicherung der Menschen in Deutschland kritisiert. „Ich merke, dass gerade in diesen Tagen das politische Berlin supernervös ist und viel spekuliert wird, wie es weitergeht“, habe der SPD-Vorsitzende erklärt. „Aber genau das ist es, was die Menschen in diesem Land nervt. Mich übrigens auch.“

Die meisten Menschen in diesem Land nervt wohl die Politik der Ampel-Regierung noch viel stärker, als die Diskussion über ihr Ende. Aber das interessiert den genervten Genossen sicher weniger. Deutlich wird aber: Die Scheidung vollziehen, will die SPD offenbar nicht. Wenn Ampel-Bruch, dann soll ein anderer Partner verantwortlich sein.

FDP-Verkehrsminister Volker Wissing will offensichtlich ebenfalls vermeiden, dass seine Partei die volle Verantwortung fürs Ampel-Aus übernimmt. In einem Gastbeitrag für die Frankfurter Allgemeine hatte er sich am Freitag für den Verbleib seiner Partei in der Koalition ausgesprochen. Er wäre überzeugt, dass die Regierung „auch in den kommenden Monaten“ gute Kompromisse finden werde, heißt es darin. 

Und der Bundeskanzler? Der schweigt erst einmal. Aber wer hätte schon etwas anderes erwartet? 

Vielleicht ist das Lindner-Papier nach der US-Wahl ohnehin schon wieder vergessen, und die Ampel-Regierung kann ihrem planmäßigen Ende entgegen taumeln, weil niemand den Schneid hat, den notwendigen Bruch vorher zu vollstrecken.

 

Peter Grimm ist Journalist, Autor von Texten, TV-Dokumentationen und Dokumentarfilmen und Redakteur bei Achgut.com.

Foto: Illustration Rudolf Wildermann

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Dr. med. Jesko Matthes / 03.11.2024

Ein anderer wesentlicher Unterschied: Das Lambsdorff-Papier führte 1982 zu einem echten Politikwechsel. Mit wem als Kanzler wäre ein solcher denn heute zu erwarten? Ein weiterer: 1982 reichte die Mehrheit der Sitze von CDU/CSU und FDP für Helmut Kohl und gegen Helmut Schmidt im Konstruktiven Misstrauensvotum. Heute ginge das nur mit den Stimmen der AfD. So weit ist aber noch keine Brandmauer eingestürzt, dass das realistisch wäre. Ein dritter: 1982 hatte die FDP noch genügend Bedeutung, sogar die eigene Zerreißprobe zu überleben, weil der Politikwechsel einfach war und gelang. Und damit dreht sich die Argumentation dann leer im Kreis. Neuwahlen? Schön und gut, nur bieten auch sie keine einfache Perspektive. Das Ende der Liberalen, starke Dämpfer für SPD und Grüne, und dann ist wieder die Frage, wer mit wem denn regieren soll. Unter Ausschluss der AfD sind es CDU/CSU, SPD und/oder Grüne. Oder BSW? Wie sollte das gut gehen? - Also: mit oder ohne FDP kein nennenswerter Politikwechsel.

Sepp Kneip / 03.11.2024

Der Wisch ist das Papier nicht wert, auf dem er gedruckt ist. Erstens kommt das Ding viel zu spät und zweitens ist es das Papier eines Koalitionsmitgliedes, das die anderen düpiert. Was ist nur aus diesem Lindner geworden, der einmal gute Ansätze hatte. Diese Koalition ist eine Ansammlung von Versagern. Nach Wissing sei es respektlos gegenüber dem Souverän, würde die FDP vorzeitig die Ampel verlassen. Nein, respektlos ist es, den Amtseid zu verletzen und dem deutschen Volk einen derartigen Schaden zuzufügen, wie es die Koalition, auch die FDP, gemacht hat. Die müssten alle sofort aus ihren Ämtern gejagt werden. Sollte es stimmen, dass die Rentenkassen leer sind, müssten alle mit Schimpf und Schande des Landes verwiesen werden.

Karsten Dörre / 03.11.2024

Warum sollte der Bundeskanzler nicht schweigen? Das Lindner-Papier war nicht für die Öffentlichkeit bestimmt. Und Aktionismus sollte keinem Bundeskanzler oder Bundesminister einfallen, weil wer eigentlich nichtöffentliche, koalitionsabtrünnige Papiere verfasst. Man darf vermuten, dass das durchgestochene Lindner-Papier von Lindner selbst geleakt wurde, um das deutsche Volk bei Ampellaune zu halten und Glaube zu verbreiten, die FDP in der Bundesregierung sei besonders aktiv. Denn alle FDP-Minister in dieser Ampelregierung haben spätestens nach der nächsten Bundestagswahl innerhalb der FDP nichts mehr zu bestellen, geschweige zu melden. Also sind Rücktritte bis dahin ausgeschlossen. Die einzige Hoffnung, die dieser desaströsen Ampelregierung unter einem Bundeskanzler - der antrat, um nicht Bundeskanzler zu werden und trotzdem die Wahl annahm - ist, dass man nicht vor der nächsten Bundestagswahl aus dem Amt gejagt wird.

Joe Roth / 03.11.2024

Das ist alles nicht falsch aber immer noch zu kurz gedacht. Deutschland hat seit Jahrzehnten nicht in neuen Technologien geführt. Wie will man das wieder aufholen? Und wie soll die Zuwanderung geregelt werden? Das sind fundamental wichtige Fragen die Antworten benötigen.

Jörg Themlitz / 03.11.2024

Herr Klingbeil hat gerade im DDR Fernsehen 2.0 erklärt, dass er mehr Schulden machen will und diese Schulden investieren will, in Klima und noch irgendetwas. Aktuell sitzen diese Herrschaften wohl gerade beim Bundeskanzler. Schon auf den neuen Stühlen? Gibt es schon Wetten, für wieviele Silberlinge Herr Lindner seinem Positionspapier die Position nehmen wird? Das Papier kann er eh im Rundordner ablegen. Sollte es Neuwahlen geben, mit ein paar Prozentpünktchen mehr für die FDP, müsste Herr Lindner mit dem BAM (Bündnis Angela Merkel) früher mal CDU koalieren. Und das BAM wird nicht dem Herrn Lindner zu Liebe den Merkelkurs, den v. Leyenkurs und den US Democratskurs aufgeben.

Gustav Kemmt / 03.11.2024

Vielen Dank! Erkennt man einen Krieg darin, wie die jeweiligen sog. Regierungen seit 4 - 9 Jahren gegen die Deutschen vorgehen - mittenmang alle Parteien außer der AfD - , so muss man annehmen, dass eine Nebelkerze, besser Vernebelungskerze geworfen wurde. So auf die Kubickitour. Wir spenden dem Feind - der Bevölkerung - ein bisschen Hoffnung. Auf dass diese nicht auf die Straße gehe. Für Demokratie gar.

Ralf.Michael / 03.11.2024

Diese ” Entscheidung ” käme ohnehin viel zu spät, weil der Zug schon lange abgefahren ist. Die FDP ist TOT. Sie weiss es, will es aber noch nicht zugeben ! Aber in 11 Monaten sind die weg, Alle ! Und niemals kehren Sie wieder !

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