Henryk M. Broder / 07.07.2017 / 06:15 / Foto: Mark Fahey / 15 / Seite ausdrucken

Ein nordkoreanischer Moment im Bundestag

Erika Steinbach, 1943 in Westpreußen geboren, trat 1974 der CDU bei und war 27 Jahre, von 1990 bis zum Ende der laufenden Legislaturperiode in wenigen Wochen, Abgeordnete im Deutschen Bundestag. Am 15. Januar dieses Jahres gab sie ihren Austritt bekannt,  sowohl aus der Partei wie aus der Fraktion. Sie sei nicht mehr in der Lage, erklärte sie, die Politik der Kanzlerin mitzutragen; diese entscheide über die Köpfe der Abgeordneten hinweg, „notfalls auch unter Außerachtlassung von Recht und Gesetz“ und aufgrund einer „diffusen Gesinnung“. Steinbach blieb fraktionslose Abgeordnete und wurde von ihren ehemaligen Parteifreunden fortan wie eine Aussätzige behandelt.

Vorigen Freitag, am selben Tag, an dem der Bundestag das Gesetz über die „Ehe für Alle“ mit großer Mehrheit verabschiedete, nahm auch Erika Steinbach Abschied von ihren Kollegen. In einer knapp vier Minuten langen Rede vor dem Hohen Haus äußerte sie Kritik an der „Ehe-für-Alle“-Regelung. Ehe und Familie stünden unter dem besonderen Schutz der staatlichen Ordnung, die Ehe sei eine der Verbindung von Mann und Frau vorbehaltene Institution. Vom neuen Bundestag, so Steinbach, erhoffe sie sich, „dass er seine Kontrollfunktion gegenüber der Bundesregierung verantwortungsvoller wahrnimmt als es in den letzten Jahren geschehen  ist.“

Keine Hand im Hohen Haus rührte sich. Eisige Stille füllte den Raum. Da ergriff der Präsident des Bundestages, Norbert Lammert, das Wort. „Frau Kollegin, ich möchte eine Bemerkung in Ihrer Rede zum Anlass für eine Klarstellung nehmen.“ Steinbach, schon auf dem Weg zu ihrem Platz im Plenum, drehte sich intuitiv um und machte ein paar Schritte auf das Rednerpult zu. Worauf der Bundestagspräsident die Contenance verlor. „Sie haben jetzt nicht nochmal das Wort. Ich habe nicht die Absicht, mit ihnen eine Debatte zu führen.“

Steinbach blieb wie versteinert stehen. Einige Abgeordnete lachten schadenfroh und Präsident Lammert fuhr mit seiner Belehrung fort: Laut Verfassung „entscheidet jeder einzelne Abgeordnete, wie er sich zu welchem beliebigen Punkt auf der Tagesordnung des Bundestages verhält...“ Das war keine Sternstunde des Bundestages, es war ein bis dahin nie erlebter Tiefpunkt an Arroganz. Für Steinbach ein kurzer peinlicher Moment, für Lammert eine Selbstentleibung.

Zuerst erschienen in der Zürcher Weltwoche

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Leserpost

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Ralf Schmode / 07.07.2017

Sehr geehrter Herr Broder, das widerwärtige Verhalten Lammerts und seiner Kollegen hat übrigens auf Twitter schnell die Runde gemacht (Frau Steinbach ist dort sehr aktiv und hat eine große Follower-Gemeinde) und dazu geführt, dasss der Hashtag “#DankeErikaSteinbach” für einen Abend in den Top Ten der deutschen Trends war. Kann sich jemand vorstellen, dass irgendwann, hoffentlich bald, “#DankeAngelaMerkel” trenden wird, es sei denn unter massiver “Mithilfe” der Social-Media-Praktikanten-Abteilung des Konrad-Adenauer-Hauses?

Hannelore Altmeyer / 07.07.2017

Norbert Lambert zum Fremdschämen… Frau Merkel hatte doch explizit den Fraktionszwang für alle Abgeordneten von CDU/CSU aufgehoben? Was soll denn dann dieses ungehörige Abwatschen?

JF Lupus / 07.07.2017

Lammerts Verhalten ist beispielhaft für die Gesinnung, die heutzutage vorherrscht: we anders denkt und dies offen kundtut, der wird auf absolut indiskutable und undemokratische Art angegriffen. Wer den Mut hat, zu seiner Einstellung zu stehen, wird diskriminiert. Begann so und ähnlich nicht schon einmal eine der schlimmsten Phasen in Deutschland…? Frau Steinbach, viele Menschen denken wie Sie und applaudieren Ihnen, vielleicht lesen Sie es ja.

Paul Siemons / 07.07.2017

Man muss nicht mehr “genau hinhören” oder “zwischen den Zeilen” lesen. Die betreiben ihr schäbiges Spiel längst so unverhohlen und offen, dass man selbst beim “Hier rein, da wieder raus” noch mitbekommt, wie sie es meinen. Dass so etwas auch von Lammert - den, vereinzelt, sogar kritische Bürger für ehrenwerter halten - kommt, ist nicht wirklich überraschend. Könnten sie mit dem Sammeln von herunter gefallenen Masken ein paar Cent verdienen, würden sich viele Rentner nicht mehr mit den nur vereinzelt zu findenden Pfandflaschen aufhalten.

B.Kröger / 07.07.2017

Da hat Lammert leider inzwischen sogar Recht, das deutsche Parlament ist kein Ort, an dem Debatten ernsthaft, offen und frei geführt werden.  Frau Steinbach spricht das offen aus. Abgeordnete lachen über ihren eigenen Maulkorb. -  Einfach nur traurig!

Melanie McBride / 07.07.2017

Lieber Herr Broder,  Danke dafür, dass Sie solche Vorfälle aufzeigen. Unsere “Eliten” haben schlechte Manieren, keine menschliche Intelligenz und sind so arrogant und peinlich !    

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