Vera Lengsfeld / 05.08.2007 / 16:41 / 0 / Seite ausdrucken

Ein Nachmittag bei Walter Kempowski

Wie begegnet man einem sterbenden Dichter? Diese Frage bewegt die Besucher, die am ersten Mittwoch dieses Monats in Nartum gekommen sind, um an einem der inzwischen legendären Literatur- Nachmittage teilzunehmen, die Kempowski seit Jahren in seinem Haus Kreienhoop veranstaltet. Die kleine Gemeinde, die sich eingefunden hat, in der Hoffnung, den schwerkranken Autor noch einmal zu sehen, bevor er ins unerreichbare Nebenan geht, ist bunt gemischt. Etliche Büchermenschen und Journalisten, Urlauber aus der Umgebung, aber auch von weit her Gereiste. Manche haben Blumensträuße in der Hand, wie jene Vierzigerin mit den Kleinmädchenzöpfen, die so andächtig guckt, dass man ihr die unpassende Frisur sofort verzeiht. Andere tragen große Taschen oder Beutel bei sich. Als gelernte DDR-Bürgerin hätte ich sofort ehemalige Landsleute vermutet, die für eventuelle Einkaufsgelegenheiten gerüstet sein wollten, wenn die Behältnisse nicht schon voll gewesen wären.Das Haus, das alle sechzig Literaturfreunde aufnehmen soll, sieht auf den ersten Blick bescheiden aus. Erst wenn man drinnen steht, offenbart es seine Größe, Würde und Schönheit. Der Bau, über Jahrzehnte gewachsen, wie das literarische Werk seines Erbauers , wird auch als Kempowskis zehnter Roman bezeichnet. Es ist, öffentliche Bühne und Rückzugsort in einem, um einen Innenhof herum gebaut. Man kann um ihn herum im Kreis laufen. Die Idee kam Kempowski im Zuchthaus Bautzen. In seinem Haus sollte er sich immer Bewegung verschaffen können, denn das Hin-, und Herlaufen des Häftlings in der Zelle war ihm bereits zur zweiten Natur geworden. Aus dieser Zwangsvorstellung heraus entstanden spektakuläre Architektur-Details, wie der 22 Meter lange Büchergang, der über 10 000 Bücher beherbergt . Ein Triumph des Geistes über seine Fesseln.Hildegard Kempowski, anmutige, ungeliftete Siebzig, empfängt die Gäste persönlich. Sie werden von ihr in den Spiegelsaal geleitet, wo die Lesung stattfinden wird. Noch weiß niemand von den Besuchern, wer lesen wird. Aber als Frau Kempowski ein Kissen auf den Vortragsstuhl legt, deute ich das richtig als Zeichen für das persönliche Erscheinen des Autors. Kurz darauf wird Kempowski von einer Mitarbeiterin auf das Podium geführt. Er ist es und er ist es nicht mehr. Der Tod hat ihn unübersehbar gezeichnet. Seine Stimme ist schwach, aber sein Charme und sein Witz sind ungebrochen. Kempowski liest aus seinem Buch „Willkommen“, das die skurrilen Erlebnisse des kürzlich entlassenen Bautzen-Häftlings in einem christlichen Heim in der Schweiz beschreibt. Das Lesen der lebendigen Schilderung erschöpft und belebt ihn zugleich. Dem Publikum verschlägt es den Atem. Es erlebt eine der seltenen Sternstunden der Literatur. Der gebrechliche Kranke lässt den jungen Kempowski auferstehen und für eine dreiviertel Stunde den Saal beherrschen. Bei manchen Zuhörern mag das den Eindruck von Unsterblichkeit erweckt haben. Nur so ist die einzige Frage zu verstehen, die im Anschluß an die Lesung gestellt wurde, welche Werke denn in Zukunft vom Autor zu erwarten seien. Mit einem feinen Lächeln weist Kempowski auf ein Buch hin ,das bereits fertig ist und demnächst erscheinen wird, um dann Rilkes Spruch von dem Leben in wachsenden Ringen zu zitieren : „Ich werde den Letzten vielleicht nicht vollbringen, aber versuchen will ich ihn.“Trotz seiner sichtbaren Schwäche ist Kempowski im Anschluß an die Lesung bereit,  im Teepavillon seine Bücher zu signieren. Alle Anwesenden wollen seine Unterschrift. Manche viel mehr als das.Nun enthüllt sich das Geheimnis der mitgebrachten vollen Taschen. Aus deren Tiefen fördert ein Ehepaar über zwanzig Bücher zutage, die alle signiert werden sollen. Nach dem Zehnten bittet Kempowski aufhören zu dürfen. Er müsse mit seinen Kräften haushalten, denn er wolle allen Wartenden eine Signatur ermöglichen. Das Ehepaar will noch nicht aufgeben. Ob sie nicht am Ende noch mal drankommen könnten? Als Kempowski ablehnt, wollen sie die Bücher dalassen und signiert nachgeschickt bekommen. An dieser Stelle schritt ein Familienmitglied ein und komplimentierte die Unterschriftenjäger hinaus. Draußen glaubt das Paar seine Hartnäckigkeit mit dem Hinweis erklären zu müssen, dass die Bücher mit der Unterschrift des Autors nach seinem Ableben schließlich viel mehr wert sein würden. Drinnen hat Kempowski trotz zunehmender Erschöpfung für jeden eine persönliche Bemerkung .Er erkundigt sich nach dem Woher und Wohin, so dass jeder das Gefühl hat, besonders beachtet worden zu sein. Bei mir entschuldigt er sich, dass er mich als Kollegin nicht noch etwas dabehalten könne. Ich solle mal wiederkommen. Gern. Aber wohl erst in der nächsten Welt. Es war mir eine Ehre, Sie kennen gelernt zu haben, Herr Kempowski !

 

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