Nach zweieinhalb Jahren hat sich der Krieg in der Ukraine zu einem zermürbenden Abnutzungskonflikt entwickelt. Die personellen und materiellen Verluste steigen auf beiden Seiten rapide an. Zumindest auf russischer Seite ist aber keine Kriegsmüdigkeit zu erkennen.
Kurz vor Kriegsbeginn erteilte die Presseabteilung des Kremls die Anweisung, keine Informationen über die Verluste der Armee an die Öffentlichkeit gelangen zu lassen. Daran hat sich Dmitrij Peskows Stab bis heute gehalten. Mit Ausnahme einer einmaligen Angabe im September 2022 gab es von offizieller Seite keine weiteren Informationen.
Anfang Juli 2024 hatte Peskow gegenüber RIA Novosti erneut bekräftigt, dass der Kreml keine Informationen über die Verluste der russischen Armee preisgibt. Auf die Frage, ob er den Verlust von 50.000 russischen Soldaten während des Krieges bestätigen könne, antwortete der Kreml-Sprecher: „Im Kreml werden keine Informationen in dieser Hinsicht gegeben.“
Peskow verwies auf das Verteidigungsministerium und betonte, dass solche Informationen ausschließlich in dessen Zuständigkeit liegen. „Natürlich gibt es das Gesetz über Staatsgeheimnisse und besondere Regeln zur Verbreitung von Informationen unter den Bedingungen einer speziellen militärischen Operation. Das ist absolut nachvollziehbar“, fügte er hinzu.
Diese dürftige Erklärung ist eine der wenigen spärlichen Hinweise, die offizielle Stellen bis heute zur Lage an der Front gegeben haben. Ein anderer stammt aus dem September 2022. Damals hatte Verteidigungsminister Sergej Schoigu erklärt, dass die russische Armee während der „Spezialoperation“ in der Ukraine 5.937 Soldaten verloren habe. „Ich kann nicht umhin zu sagen – wir haben lange nicht darüber gesprochen – über unsere Verluste. Unsere Verluste in der Spezialoperation betragen 5.937 Personen“, sagte der Minister und betonte, dass die russischen Soldaten tapfer ihren Dienst verrichten.
Berechnungen der BBC mit neuen Zahlen
Das vom Kreml verhängte Informationsembargo konnte jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich in der Ukraine ein beispielloses Massensterben ereignet, das vor allem auf russischer Seite viele Menschenleben kostet. Besonders die von Häuserkämpfen geprägte Schlacht um Bachmut hat sich dabei als tödlich erwiesen. Russland soll hier zwischen 50.000 und 70.000 Mann verloren haben, darunter allein 17.000 im Januar 2023.
Einer kürzlich erschienen Untersuchung der BBC zufolge, konnten mittlerweile 61.009 Soldaten identifiziert werden, die seit dem Beginn der Invasion gefallen sind. Fast die Hälfte (mindestens 48 Prozent) hatte zum Zeitpunkt des Kriegsbeginns keine Verbindung zur russischen Armee.
Bei weiteren 28 Prozent der Gefallenen konnte die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe von Militärangehörigen oder Truppengattung nicht festgestellt werden. In den meisten Fällen sind die Nachrufe dieser Personen mit Fotos in Zivilkleidung versehen. Es steht zu vermuten, dass tatsächlich bis zu 70 Prozent aller Verluste auf russischer Seite Personen sind, die erst nach Kriegsbeginn in die Streitkräfte eingezogen wurden.
Vor diesem Hintergrund intensivieren die Behörden ihre Bemühungen, neue Rekruten für die Armee zu gewinnen. Nach Berechnungen der BBC haben zehn russische Regionen ihre Zahlungen für den Abschluss neuer Verträge im Juli erheblich erhöht.
Männer im Alter von 18 bis 30 Jahren unterliegen der Wehrpflicht
Der Großteil der Freiwilligen, die derzeit Verträge mit dem russischen Verteidigungsministerium abschließen, sind Bewohner kleiner Siedlungen in Regionen, in denen es schwierig ist, eine dauerhafte und gut bezahlte Arbeit zu finden. Hinzu kommt, dass viele Freiwillige, die einen Einjahresvertrag mit dem Verteidigungsministerium abschließen, glauben, dass sie nach zwölf Monaten Dienstzeit ins zivile Leben zurückkehren können.
Dabei handelt es sich jedoch um einen Trugschluss, weil die Verträge des Verteidigungsministeriums automatisch für die Dauer des militärischen Sondereinsatzes verlängert werden. Dabei handelt es sich um eine Praxis, die bereits seit September 2022 Anwendung findet und durch ein Dekret des Präsidenten legitimiert ist. Hinzu kommt das Föderale Gesetz Nr. 439-FZ vom 4. August 2023 „Über Änderungen einzelner Gesetzgebungsakte der Russischen Föderation“. Wladimir Putin hatte es unterzeichnet und am 4. August 2023 vom Kreml veröffentlichen lassen.
Ursprünglich war geplant, das obere und untere Wehrpflichtalter schrittweise anzuheben (von 18 auf 21 und von 27 auf 30 Jahre). Während der Prüfung des Dokuments wurden jedoch Änderungen am Text vorgenommen, sodass das untere Wehrpflichtalter beibehalten und das obere erhöht wurde.
Somit werden seit dem 1. Januar 2024 männliche Staatsbürger der Russischen Föderation im Alter von 18 bis 30 Jahren der Wehrpflicht unterliegen. Eine entsprechende Regelung wurde in das Föderale Gesetz Nr. 113-FZ vom 25. Juli 2002 „Über den alternativen Zivildienst“ aufgenommen. Wehrpflichtige haben weiterhin die Möglichkeit, den Wehrdienst in den gesetzlich festgelegten Fällen durch den alternativen Zivildienst zu ersetzen.
Seit Oktober 2023 verzeichnet Russland einen starken Anstieg der Todesfälle unter "Freiwilligen" – Personen, die sich nach Beginn des Krieges in der Ukraine entschlossen haben, einen Vertrag mit den russischen Streitkräften zu unterzeichnen. Die wöchentlichen Verluste unter Freiwilligen fallen bis heute nicht unter 100 und übersteigen oft 240. Laut BBC sind Freiwillige die am schnellsten wachsende Kategorie der Verluste.
Das Sterben hat einen Höhepunkt erreicht
Offenen Daten zufolge hat Russland im ersten Halbjahr 2024 mindestens 11.210 Menschen an der Front verloren. Das sind mehr als die von der BBC ermittelten Verluste Russlands in den ersten sechs Monaten der Invasion im Jahr 2022, als 7.804 Menschen starben. Die tatsächliche Zahl der Verluste im ersten Halbjahr 2024 liegt jedoch weit über den angegebenen Zahlen, da Nachrichten über neue Gefallene die BBC mit erheblicher Verzögerung erreichen und die Verarbeitung der Informationen einige Zeit in Anspruch nimmt. Daher sind die Zahlen der letzten Wochen am wenigsten vollständig und könnten in Zukunft erheblich ansteigen, wenn zusätzliche Informationen eintreffen.
Es lässt sich feststellen, dass das massenhafte Sterben mittlerweile einen Höhepunkt erreicht hat. Nur während der Hochphase der Schlacht um Bachmut kamen mehr Menschen pro Tag ums Leben.
Zusätzlich häufen sich aus den Regionen Russlands die Nachrichten über den Anstieg der regionalen Zahlungen für den Abschluss neuer Verträge mit der russischen Armee. Nach Berechnungen der BBC hat im Jahr 2024 ein Drittel der russischen Regionen die Zahlung für den Abschluss eines neuen Vertrags bereits erhöht oder angekündigt, sie zu erhöhen.
So hat die Region Krasnodar die Zahlungen im Jahr 2024 bereits dreimal erhöht, die Region Tscheljabinsk zweimal. Beide Regionen gehören zu den führenden Regionen nach der absoluten Anzahl der Verluste. Laut der Zeitung „Novaya Gazeta Europe“ ist die durchschnittliche regionale Zahlung für Verträge mit der russischen Armee seit Beginn des Krieges um das 80-fache gestiegen.
Hohe Gehälter sollen motivieren
Aus den Aussagen von Beamten geht hervor, dass in den russischen Regionen ein vorgegebener Plan zur Rekrutierung von Verstärkungen für die Streitkräfte besteht. Neue Rekruten werden mit hohen Gehältern (durchschnittlich fünf- bis siebenmal höher als der regionale Durchschnittslohn) und sozialen Vergünstigungen motiviert. Dies wird indirekt auch durch die ständige Erhöhung der regionalen Zahlungen für den Vertragsabschluss bestätigt.
Ein neuer Rekord wurde am 10. Juni in Karatschai-Tscherkessien aufgestellt, als die Zahlung auf 1.305.000 Rubel erhöht wurde. Dabei gehört die Nordkaukasusrepublik wie das benachbarte Inguschetien zu den ärmsten Regionen des Landes. Seit Kriegsbeginn sind die regionalen Zahlungen um das 80-fache gestiegen, errechnete „Novaya Gazeta Europe“.
Im Gegensatz dazu ist das berüchtigte Tschetschenien weit weniger betroffen, wo der Großteil der an der Front kämpfenden Soldaten auf die Privatarmee von Präsident Ramsan Kadyrow entfällt. Ein deutlich geringerer Teil ist der Nationalgarde zuzurechnen.
Die Auswertung der Nachrufe auf die Gefallenen hat ergeben, dass Hunderte von Freiwilligen, die 2023 oder 2024 einen Vertrag mit dem russischen Verteidigungsministerium unterzeichneten, innerhalb von 10 bis 14 Tagen nach Vertragsunterzeichnung an die Front geschickt wurden. In militärischer Hinsicht ist das grob fahrlässig: Eine so kurze Vorbereitungszeit verringert die Überlebenschancen der Rekruten auf dem Schlachtfeld erheblich.
15 Prozent der Gefallenen waren Freiwillige
Erhellend sind auch einige allgemeine Tendenzen, die sich der Auswertung der BBC entnehmen lassen. Demnach waren etwa 15 Prozent der ermittelten Gefallenen Freiwillige, die nach Beginn der Invasion zu den Streitkräften gekommen und freiwillig einen Vertrag unterzeichnet haben. 12,5 Prozent waren mobilisierte Soldaten. Die tatsächliche Zahl der gefallenen Mobilisierten und Freiwilligen ist jedoch höher als von der BBC angegeben.
Das liegt in erster Linie daran, dass russische Beamte jetzt viel weniger Details über die Gefallenen bekannt geben als zu Beginn des Krieges. In den meisten Fällen sind die Nachrufe der Menschen, die 2023 und 2024 an die Front gingen, mit Fotos in Zivilkleidung oder in Uniform ohne Abzeichen versehen. Infolgedessen muss man sie immer häufiger in die Kategorie „keine Daten“ einordnen.
Die größte Verlustkategorie bleiben jedoch weiterhin die Gefangenen, die aus russischen Kolonien an die Front geschickt wurden. Auf sie entfallen 20 Prozent aller ermittelten russischen Verluste. Die meisten von ihnen sind Verurteilte, die in der Gruppe „Wagner“ kämpften und noch in den Jahren 2022 oder 2023 starben. Die Rekrutierung von Gefangenen in die Einheiten des Verteidigungsministeriums verläuft offenbar langsamer.
Darüber hinaus schaffen es einige Personen, die strafrechtlich verfolgt werden, noch vor der Urteilsverkündung einen Vertrag zu unterzeichnen und an die Front zu gehen. Solche Fälle ordnet die BBC der Kategorie „Freiwillige“ zu. Aktuell wird in Russland heftig darüber diskutiert, dass ehemalige Strafgefangene, unter denen es häufig auch Mörder und Sexualstraftäter gibt, nach ihrer Rückkehr durch russische Städte streifen und häufig erneut straffällig werden.
Qualifizierte Soldaten werden geschont
Überlebende Fallschirmjäger und Spezialkräfte aus dem ersten Kriegsjahr werden vom Militärkommando jetzt geschont und für die Sicherung von Positionen und selektive Spezialoperationen eingesetzt. Wertvolle Spezialisten werden nun nur noch bei günstigen Bedingungen in den Angriff geschickt, so Experten.
Gesichert ist, dass Russland seit Beginn der Invasion der Ukraine wenigstens 3.725 Offiziere verloren hat. 444 von ihnen bekleideten den Rang eines Oberstleutnants oder höher. 250 Gefallene waren Militärpiloten. Damit gehören sie als hochspezialisierte Fachkräfte zur Elite einer jeden Armee der Welt. Die Ausbildung eines Jagdfliegers kann 15 bis 17 Jahre dauern und kostet zwischen 12 und 14 Millionen Dollar.
Entgegen dem Versprechen des russischen Präsidenten nehmen Wehrpflichtige weiterhin an Kampfhandlungen teil, was gemäß der russischen Verfassung verboten ist. Die BBC hat jedoch die Namen von mindestens 121 Wehrpflichtigen ermittelt, die während der Invasion in die Ukraine gefallen sind.
Die meisten von ihnen starben in der russischen Region Belgorod und bewachten Grenzpositionen, ohne formal am Krieg teilzunehmen. Aber in Wirklichkeit gerieten die vormaligen Schüler fast täglich unter Artillerie- und Gewehrfeuer, während sie Positionen hielten, die eigentlich von Berufssoldaten gesichert werden sollten. Seit Beginn der großangelegten Invasion in die Ukraine hat Russland mindestens 1.426 Soldaten im Alter von bis zu 20 Jahren verloren. In der vergangenen Woche wurde der Tod eines weiteren Soldaten des Jahrgangs 2006 bestätigt.
Verlustzahlen werden als westliche Propaganda abgetan
Während der Kreml darum bemüht ist, Angaben über die eigenen Gefallenen zurückzuhalten, lassen sich die materiellen Verluste mit weitaus größerer Präzision bestimmen. Die bekannten russischen Verluste umfassen insgesamt 3.197 Kampfpanzer, von denen 2.167 im Einsatz sind. Dabei wurden 158 Panzer verloren, 354 beschädigt und 518 außer Betrieb genommen.
Bei den Schützenpanzern belaufen sich die Verluste auf insgesamt 4.252 Einheiten, von denen 3.141 im Einsatz sind. Es wurden 147 Panzer verloren, 349 beschädigt und 615 außer Betrieb gesetzt. Zusätzlich wurden 1.448 gepanzerte Kampffahrzeuge verzeichnet, von denen 1.045 im Einsatz sind. Dabei gingen 35 Fahrzeuge verloren, 97 wurden beschädigt und 271 außer Betrieb genommen.
Die Verluste bei den Flugzeugen umfassen insgesamt 119 Einheiten, von denen 107 im Einsatz sind. Dabei wurden 12 Flugzeuge verloren. Bei den Hubschraubern belaufen sich die Verluste auf insgesamt 138 Einheiten, von denen 106 im Einsatz sind. Es wurden 30 Hubschrauber verloren und 2 außer Betrieb genommen. Zusätzlich wurden 15 Kampfdrohnen verzeichnet, von denen 11 im Einsatz sind. Dabei ging 1 Drohne verloren und 3 wurden außer Betrieb genommen.
Für den Kreml sind Studien, die die Anzahl der Gefallenen ermitteln, hochbrisant, da sie das Informationsembargo unterlaufen. Da es sich bei diesen Studien jedoch ausschließlich um westliche bzw. oppositionelle Projekte handelt, fällt es der russischen Propaganda leicht, sie als Versuche der Denunziation darzustellen.
Fest steht zudem, dass in Russland aktuell weder Kriegsmüdigkeit noch Verdruss über dessen mögliche Fortsetzung herrscht. Auch die Sanktionen gegen das Land wirken sich nicht negativ aus. Westliche Waren sind weiterhin zu haben und werden einfach aus Drittstaaten importiert. Dies wurde mir von persönlichen Quellen aus mehreren Regionen des Landes bestätigt.
Eine Aufarbeitung der Kriegsverluste in Russland scheint in naher Zukunft unwahrscheinlich. Die Regierung hält weiterhin unbeirrt an ihrem Ziel fest, den Krieg erfolgreich zu beenden. Angesichts der möglichen Wiederwahl von Donald Trump stehen die Chancen für eine diplomatische Lösung so gut wie nie zuvor.
Christian Osthold ist Historiker mit dem Schwerpunkt auf der Geschichte Russlands. Seine Monographie über den russisch-tschetschenischen Konflikt ist in der Cambridge University Press rezensiert worden. Seit 2015 ist Osthold vielfach in den Medien aufgetreten.