Von Lydia Krollpfeifer.
Ich laufe weiter. Eigentlich jogge ich nicht gerne.
Gerade habe ich mein achtjähriges Kind mit einer Mund-Nasen-Bedeckung in die Schule geschickt. Diese wird es 180 Minuten tragen, während es lernt. Die Kinder der Oberschule sollen sich und andere zwischen acht bis neun Stunden täglich an fünf Tagen der Woche mittels einer Mund-Nasen-Bedeckung schützen. Zum Essen dürfen sie diese abnehmen. Ich frage mich, wie lange jeder einzelne Erwachsene die Mund-Nasen-Bedeckung im Schnitt am Tag trägt? Ich frage mich, von welcher Gewichtung die Worte unserer Volksvertreter sind, dass sie nicht durch eine Mund-Nasen-Bedeckung gefiltert werden dürfen, wenn diese in Gesprächsrunden unsere Zukunft verhandeln. Manche Tiere sind gleicher.
Mit den zwei anderen Kindern bin ich zur Kita gejoggt. Die Abgabe soll schnell erfolgen. Ich habe das eine mitsamt Laufrad auf den Hof geschoben, dem anderen kurz erklärt, warum es die steile Rampe zum Fahrradständer nicht hinunterfahren darf. Weil es gefährlich ist. Weil ich draußen bleiben muss. Ich stehe vor dem Tor, hoffe, dass beide heil unten ankommen. Neben mir ein Elternteil mit Maske. Wir stehen auf dem Bürgersteig. Es gibt eine neue Verordnung. Ich spanne unmerklich die Nackenmuskulatur an, presse die Kiefer aufeinander. Ich habe keine Maske. Ich gelte als gefährlich. Ich weiß nicht, was der Andere neben mir denkt: Corona-Leugner? Verschwörungstheoretiker? Asoziale? Oder gar nichts? Ich sehe ja nur die Augen.
Ich renne los. Ich frage mich, welche Verordnung der Maskenpflicht auf dem Bürgersteig vor der Kita folgen wird. Maskenpflicht der ErzieherInnen? Wird eine medizinische Expertise feststellen, dass Kinder bereits ab drei Jahren oder jünger befähigt sind, eine solche zu tragen, wenn man sie nur einfühlsam daran gewöhnt? Ist beides pädagogisch sinnvoll? Ist beides mit der Gewissensfrage zu vereinbaren? Entwickeln sich Kinder in solch einem sozialen Umfeld genauso gesund, wie es uns möglich war, uns zu entwickeln? Ein Experte wird sich finden, der das bejaht. Ich glaube es nicht. Den Fehler wird man voller Überraschung erst in einigen Monaten oder Jahren feststellen. Denn, dass das keine Kurzstrecke wird, die mit der kollektiven Impfung endet, dürfte den meisten mittlerweile klar sein. Oder nicht?
Wie lange werden unsere Kinder kein oder ein eingeschränktes soziales Leben führen? Ein paar Monate? Ein paar Jahre? Wie lange werden sie über Stunden eine Maske tragen? Noch ein paar Monate? Noch ein paar Jahre? Wie lange wird sich diese neue Normalität halten? Wenn wir sie zu unserer neuen Kultur gemacht haben. Wenn wir AHA +L-Regeln einhalten, deren Zweck langsam in Vergessenheit geraten ist. Der Hut muss gegrüßt werden.
„Getestet = infiziert = krank = ansteckend“
Die WHO hat sich Anfang 2020 gegen den Nutzen von Masken ausgesprochen. Die Regierung hat sie verpflichtend eingeführt. Die Kassenärztliche Bundesvereinigung hat sich im September gegen einen weiteren Lockdown ausgesprochen. Lockdowns wurden von staatlicher Seite beschlossen. Eine Gemeinschaft von Verbänden der Kinder- und Jugendmedizin spricht sich gegen flächendeckende Schnelltests von Kindern aus. Sie seien zu unzuverlässig, brächten mehr Schaden als Nutzen. Die Tests werden diese Woche an die Schulen geliefert. Das Ministerium setzt auf Testung und Impfung gesunder Kinder. Für Ostern prognostizierte das RKI eine Inzidenz von 200 bis 500 Neuinfektionen. 200 von 100.000. 0,2 Prozent. Sie sagen: Positiv getestet = infiziert = Neuinfektion = krank = ansteckend. Asymptomatische Verläufe. Bei 80 Prozent der Infizierten. Immunität? Exponentieller Anstieg droht. Wie Bälle in einer Kiste stoßen wir uns gegenseitig an. Infizieren uns, sagen sie. Alle Bälle sind gleich. Alle Körper sind gleich. Alle Menschen sind gleich. Erliegen dem Virus im Gleichtakt, sagen sie. Die Auspizien sind abgehalten. Mögen die Rettungsmaßnahmen beginnen! Wir wollen eine Herdenimmunität von 80 Prozent!
Die Tests sind freiwillig. Bisher. Wie zuerst die Masken. Wie jetzt die Impfung. Sie ist freiwillig, bisher. Wenn man nicht am sozialen Leben teilhaben möchte. Auch für bestimmte Berufsgruppen. Bisher. Dieses "Bisher" lässt mich schneller laufen.
Auf einem Werbeplakat erinnert mich eine maskierte Seniorin gestisch, keinen Volksverrat zu begehen. Eine neue Normalität. Nicht meine Normalität. Maskierte Kinder. Schweigende Eltern. Schweigende Masken. Die Gegenwart als Hygienekonzept. Zwei und zwei ergibt fünf. In mir schreien die Fragen. Ich äußere sie nicht in Anwesenheit anderer. Wer fragt, ist Nazi. Ich laufe. Laufe weg vor den staatlich angeordneten Säuberungsmaßgaben. Vor der Moralhygiene. Vor den moralisierenden Hygienikern.
Ich atme. Ein kathartisches Atmen. Ich renne. Meine hygienische Maßnahme gegen Hygienemaßnahmen. Ich lausche auf ein Rotationsgeräusch. Erwarte den schrillen Ruf im Rücken, der zur Schutzmaßnahme ruft. Quo usque …
Lydia Krollpfeifer ist gebürtige Berlinerin und promovierte Philologin.