„Fangt doch mal an zu rufen! Ihr könnt mal rufen! Martin rufen!“ Messianisch wirkte er, trotz anderslautender, krampfig-beflissener journalistischer Hochschreiberei, nie so recht. Die Genossen kamen seiner Aufforderung zwar nach (etwas dumpf: „Maaartin, Maaartin!“), aber die innere Überzeug war wohl gerade zum Rauchen vor die Tür gegangen. Es wirkt furchtbar peinlich, das vielgenutzte Wort des „Fremdschämens“ ist selten so treffend wie beim Anschauen dieser Bilder, vom bösartigen Internet dauerhaft archiviert.
Der Kakamaschu – Kanzlerkandidat Martin Schulz – hätte eigentlich bereits mit diesem Auftritt im Frühjahr 2017 erledigt sein müssen. Treffender als in diesen Sekunden hätte seine Persönlichkeit, sein Wahlkampf und überhaupt das absurde Ansinnen, ihn als Bundeskanzler in Erwägung zu ziehen, kaum vor Augen geführt werden können. Die Kandidatur wurde durchgezogen bis zum bitteren Ende. Schulz hatte sich dabei offenbar raffiniert Guido Westerwelles seinerzeitiges „Projekt 18“ zu eigen gemacht. Westerwelle strebte die 18 Prozent für die FDP von unten aus an, Schulz für die SPD von oben aus. Beide haben ihr Ziel verfehlt, Schulz allerdings wesentlich knapper.
Der Fall war tief. Zunächst erteilte Schulz lautstark einer Neuauflage der Großen Koalition eine Absage, um sich dann doch darauf einzulassen, allerdings blieb für ihn kein Posten übrig. Den Parteivorsitz gab er ab und mit dem Auswärtigen Amt wurde es auch nichts. Dabei hatte er schon das Ziel für 2025 ausgegeben – die „Vereinigten Staaten von Europa“. Es wurde sehr schnell sehr ruhig um Martin Schulz, nunmehr lediglich noch „MdB“.
Aufgetaucht ist er medial erst in diesem Sommer wieder. Es hieß beispielsweise, er sei in einem brasilianischen Gefängnis. Nachdem man kurz zusammengezuckt war und der Gedanke „Das-muss-ja-nun-wirklich-nicht-sein!“ gerade Raum greifen wollte, konnte man den Beiträgen beruhigt entnehmen, dass er dort lediglich den inhaftierten Ex-Präsidenten Lula da Silva besucht hatte.
Rückblick auf das Schulz-Jahr
Verstärkt greift Schulz nun wieder originelle, anderweitig völlig vernachlässigte Themen auf. In der ihm eigenen Subtilität bezeichnete er Markus Söder als „Rechtspopulisten“. Der AfD-Sprecher Gauland bediene sich in seinen Reden der „Mittel des Faschismus“, es sei „Zeit, dass sich die Demokratie gegen diese Leute wehrt“. In einer Talkshow hat er doch tatsächlich unmittelbar vor der „Versetzung“ des Präsidenten des Bundesamtes für Verfassungsschutz unterstrichen, dass ein SPD-Minister Hans-Georg Maaßen „schon längst entlassen“ hätte. Weise Worte. Der verbal wiedergegebene Blick auf die Wirklichkeit war schon in so manch einer politischen Konstellation – wir wollen mal lieber nicht von „System“ reden – ein Entlassungsgrund.
Schulz kämpft also wieder. Auffällig wäre er mit seinen Äußerungen im derzeitigen Regierungs-GEZ-Sprech wohl kaum – wäre da nicht diese Farce gewesen, die heute vor einem Jahr ihren Höhepunkt erreichte. Martin Schulz als Kanzlerkandidat, mit 100 Prozent zum Parteichef gewählt, bejubelt (wenn auch mitunter erst nach Aufforderung) – verantwortlich für den, möglicherweise erst vorläufigen, historischen Bundestagswahltiefpunkt der SPD: 20,5 Prozent.
Das „Schulz-Jahr“ lässt der Spiegel-Journalist Markus Feldenkirchen (der, wie unter anderem hier schon ausgeführt, neuerdings auch innovativ über Chemnitz zu schreiben weiß), in einem Buch "Die Schulz Story" mit Reportagecharakter Revue passieren. Den Kandidaten hat er sehr wohlwollend „verfolgt“. Nicht einmal mit viel Mühe gelingt es, den Leser wenigstens einigermaßen für den Ex-EU-Parlamentspräsidenten einzunehmen.
„Man weiß gar nicht, wo man dran ist“
Man sollte sich der Lektüre dieses Buches dennoch oder vielleicht gerade deshalb, zumindest passagenweise, hingeben, um sich das Ganze noch einmal zu vergegenwärtigen: Den Irrsinn dieser wohl seltsamsten Nachkriegskanzlerkandidatur einer (bis vor kurzem noch) ernstzunehmenden traditionsreichen deutschen Partei, die hier präsentierte Innenansicht des Hauptdarstellers (die ja auch viel über die Verfasstheit der gegenwärtigen politischen „Klasse“ aussagt) und überhaupt die Ereignisse, die mit unserer unmittelbaren Gegenwart eng verbunden sind.
Kostproben aus Feldenkirchens Buch: „Martin Schulz hat gesagt, dass er nie ein klassischer Berliner Machtpolitiker werden wolle. Er wollte sich nicht anpassen an jenes System, das ihm in vielerlei Hinsicht fremd und auch zuwider war.“ Oder, über ein Telefonat mit Schulz am 17. September 2017, also eine Woche vor der Wahl: „Wenn er von seinen Kundgebungen zurückkomme, wie gestern in Freiburg, wo ihm 6000 Menschen zujubelten, habe er das Gefühl, dass sich die Stimmung zu seinen Gunsten drehe. Doch sobald er die Zeitung aufschlage, sehe er Umfragen, in denen die SPD absacke. ‚Aber gut, diese Achterbahnfahrt geht weiter. Man weiß ja gar nicht, wo man dran ist.‘“
Es ist ein Stück Geschichte. Kein sehr schönes. Nicht nur für Martin Schulz.