Erik Lommatzsch, Gastautor / 24.09.2018 / 06:00 / Foto: EU / 15 / Seite ausdrucken

Ein Jahr nach Kanzlerkandidat Schulz

„Fangt doch mal an zu rufen! Ihr könnt mal rufen! Martin rufen!“ Messianisch wirkte er, trotz anderslautender, krampfig-beflissener journalistischer Hochschreiberei, nie so recht. Die Genossen kamen seiner Aufforderung zwar nach (etwas dumpf: „Maaartin, Maaartin!“), aber die innere Überzeug war wohl gerade zum Rauchen vor die Tür gegangen. Es wirkt furchtbar peinlich, das vielgenutzte Wort des „Fremdschämens“ ist selten so treffend wie beim Anschauen dieser Bilder, vom bösartigen Internet dauerhaft archiviert.

Der Kakamaschu – Kanzlerkandidat Martin Schulz – hätte eigentlich bereits mit diesem Auftritt im Frühjahr 2017 erledigt sein müssen. Treffender als in diesen Sekunden hätte seine Persönlichkeit, sein Wahlkampf und überhaupt das absurde Ansinnen, ihn als Bundeskanzler in Erwägung zu ziehen, kaum vor Augen geführt werden können. Die Kandidatur wurde durchgezogen bis zum bitteren Ende. Schulz hatte sich dabei offenbar raffiniert Guido Westerwelles seinerzeitiges „Projekt 18“ zu eigen gemacht. Westerwelle strebte die 18 Prozent für die FDP von unten aus an, Schulz für die SPD von oben aus. Beide haben ihr Ziel verfehlt, Schulz allerdings wesentlich knapper.

Der Fall war tief. Zunächst erteilte Schulz lautstark einer Neuauflage der Großen Koalition eine Absage, um sich dann doch darauf einzulassen, allerdings blieb für ihn kein Posten übrig. Den Parteivorsitz gab er ab und mit dem Auswärtigen Amt wurde es auch nichts. Dabei hatte er schon das Ziel für 2025 ausgegeben – die „Vereinigten Staaten von Europa“. Es wurde sehr schnell sehr ruhig um Martin Schulz, nunmehr lediglich noch „MdB“.

Aufgetaucht ist er medial erst in diesem Sommer wieder. Es hieß beispielsweise, er sei in einem brasilianischen Gefängnis. Nachdem man kurz zusammengezuckt war und der Gedanke „Das-muss-ja-nun-wirklich-nicht-sein!“ gerade Raum greifen wollte, konnte man den Beiträgen beruhigt entnehmen, dass er dort lediglich den inhaftierten Ex-Präsidenten Lula da Silva besucht hatte.

Rückblick auf das Schulz-Jahr

Verstärkt greift Schulz nun wieder originelle, anderweitig völlig vernachlässigte Themen auf. In der ihm eigenen Subtilität bezeichnete er Markus Söder als „Rechtspopulisten“. Der AfD-Sprecher Gauland bediene sich in seinen Reden der „Mittel des Faschismus“, es sei „Zeit, dass sich die Demokratie gegen diese Leute wehrt“. In einer Talkshow hat er doch tatsächlich unmittelbar vor der „Versetzung“ des Präsidenten des Bundesamtes für Verfassungsschutz unterstrichen, dass ein SPD-Minister Hans-Georg Maaßen „schon längst entlassen“ hätte. Weise Worte. Der verbal wiedergegebene Blick auf die Wirklichkeit war schon in so manch einer politischen Konstellation – wir wollen mal lieber nicht von „System“ reden –  ein Entlassungsgrund.

Schulz kämpft also wieder. Auffällig wäre er mit seinen Äußerungen im derzeitigen Regierungs-GEZ-Sprech wohl kaum – wäre da nicht diese Farce gewesen, die heute vor einem Jahr ihren Höhepunkt erreichte. Martin Schulz als Kanzlerkandidat, mit 100 Prozent zum Parteichef gewählt, bejubelt (wenn auch mitunter erst nach Aufforderung) – verantwortlich für den, möglicherweise erst vorläufigen, historischen Bundestagswahltiefpunkt der SPD: 20,5 Prozent.

Das „Schulz-Jahr“ lässt der Spiegel-Journalist Markus Feldenkirchen (der, wie unter anderem hier schon ausgeführt, neuerdings auch innovativ über Chemnitz zu schreiben weiß), in einem Buch "Die Schulz Story" mit Reportagecharakter Revue passieren. Den Kandidaten hat er sehr wohlwollend „verfolgt“. Nicht einmal mit viel Mühe gelingt es, den Leser wenigstens einigermaßen für den Ex-EU-Parlamentspräsidenten einzunehmen.

„Man weiß gar nicht, wo man dran ist“

Man sollte sich der Lektüre dieses Buches dennoch oder vielleicht gerade deshalb, zumindest passagenweise, hingeben, um sich das Ganze noch einmal zu vergegenwärtigen: Den Irrsinn dieser wohl seltsamsten Nachkriegskanzlerkandidatur einer (bis vor kurzem noch) ernstzunehmenden traditionsreichen deutschen Partei, die hier präsentierte Innenansicht des Hauptdarstellers (die ja auch viel über die Verfasstheit der gegenwärtigen politischen „Klasse“ aussagt) und überhaupt die Ereignisse, die mit unserer unmittelbaren Gegenwart eng verbunden sind.

Kostproben aus Feldenkirchens Buch: „Martin Schulz hat gesagt, dass er nie ein klassischer Berliner Machtpolitiker werden wolle. Er wollte sich nicht anpassen an jenes System, das ihm in vielerlei Hinsicht fremd und auch zuwider war.“ Oder, über ein Telefonat mit Schulz am 17. September 2017, also eine Woche vor der Wahl: „Wenn er von seinen Kundgebungen zurückkomme, wie gestern in Freiburg, wo ihm 6000 Menschen zujubelten, habe er das Gefühl, dass sich die Stimmung zu seinen Gunsten drehe. Doch sobald er die Zeitung aufschlage, sehe er Umfragen, in denen die SPD absacke. ‚Aber gut, diese Achterbahnfahrt geht weiter. Man weiß ja gar nicht, wo man dran ist.‘“

Es ist ein Stück Geschichte. Kein sehr schönes. Nicht nur für Martin Schulz.

Foto: EU

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Leserpost

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Dietrich Herrmann / 24.09.2018

„Fangt doch mal an zu rufen! Ihr könnt mal rufen! Bätschi rufen!“

Hartmut Laun / 24.09.2018

Berlusconi reagierte mit den Worten (nach einer dpa-Übersetzung aus dem Italienischen): „Herr Schulz, ich weiß, dass ein Produzent in Italien gerade einen Film über die Konzentrationslager der Nazis dreht. Ich werde Sie für die Rolle des Kapo vorschlagen. Sie wären perfekt.“ Noch Fragen?

Bernd Ackermann / 24.09.2018

Warten wir mal ab welche Asse die SPD noch im Ärmel hat. Vielleicht tritt man zur nächsten Bundestagswahl mit Sawsan Chebli als Kanzlerkandidatin an. Zuzutrauen wäre es der Partei. Allerdings wird sie bis dahin auf 10% eingedampft worden sein,  da wird wohl eher Claudia Roth Kanzlerin.

Bernhard Freiling / 24.09.2018

Schulz paßte doch hervorragend in die Zeit. Ihm fehlte halt nur der “Mutti-Touch”. Weil er den nicht hatte, hat er sich mit einigen unbedachten Äusserungen selbst abgesägt. Mit dem “Mutti-Faktor” kann sowas nicht passieren. Da kann das ganze politische Wirken völlig unbedacht sein: Der Mutti-Touch hält und scheint sogar übertragbar -  fast so wie ein Haarspray, das die Haare zur Betonfrisur erstarren läßt.

Klaus Klinner / 24.09.2018

Die Causa Schulz ist eher eine Causa SPD. Jeder, der halbwegs Verstand hatte, wusste, dass die Personalie Schulz schiefgehen musste. Die Kanzlerin wußte es und hat sich entsprechend verhalten. Sie hat nicht gegen den guten Martin gekämpft, sie hat ihn sich einfach nur selbst demontieren lassen. Die eigentliche Frage ist doch nicht, was hat Schulz falsch gemacht? Das ist schnell beantwortet: alles. Die Frage ist doch, warum haben die damaligen SPD-Granden Steinmeier, Gabriel, Oppermann ihre “einstmals stolze Partei” freiwillig und ohne Not auf dem merkelschen Altar widerstandslos zum Schlachten dargeboten. Herr Schulz war - Pardon - nur das einfältige Bauernopfer. Und nun halten die drei Herren wieder - wie immer- kluge Reden und tun so, als hätten sie am Desaster der SPD keinerlei Anteil.

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