Matthias Heitmann, Gastautor / 07.01.2016 / 07:00 / 3 / Seite ausdrucken

Ein Jahr nach Charlie Hebdo:  Selbstenthauptung statt Selbstbehauptung

Die Meinungsfreiheit wird nicht von Fanatikern zerstört, sondern von Feiglingen

„1 an après – l‘assassin court toujours“ – so lautet der Titel der aktuellen Sonderausgabe des französischen Satiremagazins „Charlie Hebdo“. Sie ist anlässlich des ersten Jahrestages des Terroranschlags auf die Redaktion der Zeitschrift vom 7. Januar 2015 in besonders hoher Auflage erschienen. Ein Jahr danach – der Mörder rennt immer noch, oder er läuft immer noch frei herum, je nachdem, wie man den Satz interpretieren mag. Das Titelbild zeigt einen rennenden, bärtigen, langhaarigen, blutverschmierten alten Mann mit einem umgeschnallten Maschinengewehr. Über seinem Kopf schwebt ein von einem Dreieck umschlossenes Auge. Ist dies das „Auge der Vorsehung“ und somit ein Hinweis auf die christliche Trinität, auf die Illuminaten oder auf andere Verschwörungstheorien? Es dürfte jedenfalls kein Versehen sein, dass der grimmige alte Mann keine exklusiv muslimischen Stereotypen aufweist. Halten die Macher von „Charlie Hebdo“ etwa Gott für den Mörder?

Ich gönne jedem die Freiheit, sich seine eigenen Gedanken zu dieser Fragezu machen und sie auch zu äußern. Denn genau darum sollte es gehen, ein Jahr nach den Anschlägen von Paris: um die Freiheit, die eigenen Gedanken zu äußern. Die Ermordung von zwölf Menschen in und vor den Redaktionsräumen der Satirezeitschrift am 7. Januar 2015 war nicht nur eine grausame und durch nichts zu rechtfertigende Tat. Sie war auch ein Praxistest für die sich gerne so nennende „freie Welt“: Ist sie frei und stark genug, um im Angesicht von blankem Hass das eigene Recht auf freie Meinungsäußerung hochzuhalten? Ist sie von ihren eigenen Werten so überzeugt, dass sie das Recht, all das zu sagen, was man denkt, gegen die Feinde der Freiheit verteidigt?

Betrachtet man die Ereignisse der letzten zwölf Monate, so deutet vieles darauf hin, dass die „freie Welt“ diesen Test nicht bestanden hat. Der Anschlag auf „Charlie Hebdo“ zog keineswegs eine Kampagne zur Verteidigung der Meinungs- und Pressefreiheit nach sich, im Gegenteil: Noch während der halbe Globus unter dem Motto „Je suis Charlie“ seine Betroffenheit und das Mitgefühl mit den Opfern demonstrierte, setzte bereits die ängstliche politische Distanzierung ein. Solidarität mit den Opfern ja, aber keine Unterstützung für deren Recht auf freie Meinungsäußerung. Tatsächlich hatte „Je suis Charlie“ nie etwas mit Meinungsfreiheit zu tun. Diese kann nur entstehen, wenn man sie auf Meinungen bezieht, mit denen man sich gerade nicht solidarisieren mag.

Rückblickend betrachtet waren die tödlichen Schüsse von Paris ein Startsignal von außen, der eine Kampagne zur Beschneidung eben dieser Freiheit auslöste. Gerade auch in sogenannten progressiven und liberalen Kreisen wurde Kritik an der französischen Zeitschrift wegen ihrer zu einseitigen und verletzenden Publikationen geäußert. Radikale Islamkritik oder politisch unkorrekte Satire gefährde das friedliche Zusammenleben der Menschen, lautet ein häufig zu hörendes Argument. Manche Kommentatoren bezichtigten die Redakteure von „Charlie Hebdo“ gar eines „Meinungsfreiheits-Fundamentalismus“, der ohne Rücksicht auf religiöse oder sonstige Gefühle einfach brutal jede moralische Grenze des Anstandes übertrete.

Was bedeutet es, wenn nur wenige Wochen nach einer brutalen Massenhinrichtung von autoritätskritischen Karikaturisten eine solche Kritik weite Verbreitung findet? Sind die Macher von „Charlie Hebdo“ also selbst schuld an ihrer eigenen Ermordung? Sind sie es, die in Wirklichkeit die Meinungsfreiheit dadurch gefährden, dass sie sie überstrapazieren? Haben die Attentäter von Paris im Grunde Recht und nur zu inakzeptablen Maßnahmen gegriffen? Sollte sich die zivilisierte Welt letztlich nur dadurch von den Barbaren unterscheiden, dass sie weniger blutige Methoden wählt, um sich vor unliebsame Äußerungen zu schützen? Sollten wir nicht alle, wie es einst der Kabarettist Dieter Nuhr im Spaße forderte, „einfach mal die Fresse halten“?

Nein, wir sollten weder die Fresse halten noch uns das Maul verbieten lassen, weder von religiösen Fanatikern noch von deren selbsterklärten Gegnern! Wer ein Jahr nach dem Anschlag auf „Charlie Hebdo“ die Beschneidung des Rechts auf freie Meinungsäußerung vorantreibt mit dem Argument, man wolle die Verbreitung von Hassparolen stoppen und somit den Frieden in der Gesellschaft bewahren, der hat den Test tatsächlich nicht bestanden. Wer wohlmeinende Sprachkontrolle und offene Zensur als konstruktive Ausformungen von Meinungsfreiheit anpreist, verhöhnt nicht nur den Geist von „Charlie Hebdo“, sondern auch den Geist der Aufklärung.

Seit dem Massaker von Paris vor 12 Monaten hat der innerwestliche Krieg gegen die Meinungs- und Pressefreiheit eine neue Qualität erreicht. Ja, der innerwestliche Krieg, denn die tatsächliche Gefahr für unsere Freiheitsrechte kommt nicht von außen, und sie geht auch nicht von Terroristen aus. Attentäter können Menschen umbringen und Gebäude in die Luft sprengen, aber sie können die Meinungsfreiheit nicht zerstören. Diesen Job können nur diejenigen vollenden, die es nicht wagen, klare Kante gegen die Unfreiheit zu zeigen und stattdessen diejenigen anprangern, die von ihrer Freiheit Gebrauch machen.

Die Meinungsfreiheit wird heute nicht von Fanatikern zerstört, sondern von Feiglingen. Und indem man dieser zunehmenden Feigheit das eigene Engagement für die Freiheit entgegensetzt, reduziert man die Macht des Fanatismus. Was Fanatiker und Feiglinge eint, ist deren Angst vor der Freiheitliebe der Anderen. Man kann sie nicht dadurch besänftigen, dass man Freiheiten aufgibt, im Gegenteil: man gibt ihnen dadurch Recht, grundlos und freiwillig. Tatsächlich muss man sie mit gelebter und inbrünstiger Freiheitsliebe überschütten. Dass mag ihren Zorn verstärken und das Risiko von Anschlägen zunächst vergrößern, aber zugleich wächst so die Fähigkeit der Gesellschaft, sich davon nicht terrorisieren zu lassen. Wenn sie dazu bereit ist, etwas zu riskieren, wenn sie die Selbtbehauptung der Selbstenthauptung vorzieht, dann kann sie den Test bestehen. Freie Menschen laufen immer Gefahr, ihre Freiheit zu verlieren – aber nur freie Menschen können sie auch verteidigen.

Matthias Heitmann ist freier Publizist und Autor des Buches „ Zeitgeisterjagd. Auf Safari durch das Dickicht des modernen politischen Denkens“ (TvR Medienverlag, Jena 2015, S. 197, EUR 19,90. Seine Website finden Sie unter http://www.zeitgeisterjagd.de. Dieser Artikel ist zuerst in der BFT Bürgerzeitung erschienen

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Marco Artico / 07.01.2016

Wenn man noch ein stringentes Beispiel für die Selbstzerstörung der europäischen Kultur brauchte, dann hilft uns mal wieder Charlie Hebdo. Die halbe Redaktion wird 2015 von Islamisten plattgemacht und was ist das Fazit: Der christliche Gott ist schuld, die “Frömmler aller Religionen” bedrohen uns, wir brauchen dringend mehr Laizismus, ja sogar Atheismus.  Ja, im Gottesstaat Frankreich hat es bislang vor allem daran gefehlt! Und in Sachen staatlich verordneten Atheismus könnte man sich ja auch den kompetenten, friedliebenden Fachmann Kim Jong-un als Berater ins Boot holen, schlage ich vor. Wir wollen an dieser Stelle hoffen, daß es schlicht und einfach die Angst ist, die zu solch geistiger Umnachtung führt. Bei erneuter Islamkritik droht ja womöglich wieder unschöner Besuch in der Redaktion. Wenn es aber doch der kollektive Selbsthass ist und die nicht mehr umkehrbare geistige Dekadenz einer längst abgewirtschafteten Kultur, die mittlerweile sogar zu leichtester Ursache-Wirkung-Logik außerstande ist, dann könnte einem glatt Angst und Bange werden.

Karl Meier / 07.01.2016

Die Linken haben doch schon immer am liebsten Christen umgebracht und auf sie eingeschlagen.

Frank Marienfeld / 07.01.2016

Hallo Herr Heitmann, ich stimme ihnen zu, dass wir unsere Meinungsfreiheit in alle Richtungen verteidigen müssen. Sie schrieben allerdings: “Dass mag ihren Zorn verstärken und das Risiko von Anschlägen zunächst vergrößern, aber zugleich wächst so die Fähigkeit der Gesellschaft, sich davon nicht terrorisieren zu lassen.” “...das Risiko von Anschlägen ->zunächst<- vergrößern…”? Ich verstehe das so, dass dieses Risiko nur vorübergehend vergrößert wird. Ich meine, dass sich dieses Risiko dauerhaft (sozusagen auch zuübernächst und letztendlich) vergrößern wird. Daher müsste man in meinen Augen neben der Verteidigung der Meinungsfreiheit nach innen gegen die Feiglinge, eben auch die freie Welt nach außen gegen die Fanatiker verteidigen. Wenn es im Kampf gegen die Fanatiker keine gemeinsame “Sprache” gibt, dann eben die des Militärs, die versteht leider (oder zum Glück?) jeder. Denn sich nicht terrorisieren zu lassen geht manchmal nicht. Wenn man z.B. auf ein Fußballspiel gehen möchte, welches zu recht aus Sicherheitsgründen abgesagt wird, ist man schon terrorisiert. Wenn man ein mumliges Gefühl auf Großveranstaltungen hat ist man es ebenfalls schon. Solange Fanatiker mit Gewaltbereitschaft gegen die freie Welt existieren, wird die Terrorisierung nicht aufhören. Weder im Kleinen (mulmiges Gefühl) noch im Großen (man ist mit dem Leben bedroht). MfG FM

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