Ein großes Werk: „Momentum“

Ein schwedischer Historiker erzählt in seinem Buch fast 40 menschliche Schicksale im November vor 80 Jahren, als der Zweite Weltkrieg an einen Wendepunkt gelangte. Ein Meisterwerk der erzählenden Geschichtsschreibung.

Im November vor 80 Jahren wendete sich das Kriegsglück: Im fernen Pazifik, auf der Salomoneninsel Guadalcanal, gingen die Amerikaner erstmals gegen die bis dahin unbesiegbar erscheinenden Japaner in die Offensive, zu Wasser, zu Lande und in der Luft wurde erbittert gekämpft. Bei El-Alamein, Ägypten, siegten die Briten über Rommels Afrika-Korps, und in Stalingrad schlossen sowjetische Truppen Hitlers 6. Armee ein. Viele Werke vor allem von (Militär-)Historikern entstanden später über diese Schlachten – wie sie geführt wurden, welche strategischen Auswirkungen sie hatten, wie sie den weiteren Fortgang des Zweiten Weltkriegs beeinflussten. 

Der Schwede Peter Englund, einst Kriegsreporter, dann Historiker, wählt einen anderen Zugang. Er beleuchtet diesen einen Monat, den November, von Anfang bis Ende durch die Augen und Ohren von 39 Menschen, und schildert ihre Sorgen und Ängste, Verzweiflung und Trauer angesichts des Ausnahmezustands, den der Krieg für sie alle mit sich brachte, ebenso wie Ereignisse, die sie durchlebten. Zu den dramatis personae zählen etwa russische, deutsche, britische, amerikanische und japanische Soldaten, aber auch eine Schriftstellerin, eine Hausfrau, eine Journalistin und eine koreanische Zwangsprostituierte in einem japanischen Militärbordell, dazu einige bekannte Namen wie der damalige Kriegsreporter und spätere Schriftsteller Wassili Grossman, Ernst Jünger, Sophie Scholl oder Albert Camus. Am eindringlichsten sind die Schilderungen Jechiel Raijchmans, die für den Leser kaum zu ertragen sind. Raijchman war ein jüdischer Häftling im Vernichtungslager Treblinka, der als Mitglied des „Sonderkommandos“ Leichen aus den Gaskammern räumen und ihnen die Goldzähne ausbrechen musste.

Die Schauplätze – von London über Berlin und Nordafrika bis Stalingrad, Schanghai und der Südsee – und die Erlebnisse der geschilderten Personen – im belagerten Leningrad, in einem deutschen U-Boot im Atlantik, in finnischen Wäldern, in der Ruinenlandschaft an der Wolga – wechseln ständig und tauchen später wieder auf, die Chronologie des Kriegsgeschehens verlangt es so und gibt dem Buch so die nötige Verdichtung. Der Autor muss ungeheuer akribisch Briefe und Tagebuchaufzeichnungen durchforstet haben, um so hautnah und eindringlich in der Gegenwartsform beschreiben zu können, was all diese Menschen in jenen Stunden, Tagen und Wochen durchmachten. Im Anhang beschreibt der Autor, was aus ihnen wurde, ob sie überlebten oder nicht. 39 Schicksale von vielen, vielen Millionen Menschen, die alle auf die eine oder andere Weise vom Weltkrieg betroffen waren.

Peter Englund hat bereits in seinem ähnlich konzipierten, aufsehenerregenden Geschichtsepos „Schönheit und Schrecken“ den Ersten Weltkrieg in neunzehn Schicksalen erzählt. Mit diesem Werk ist ihm wieder ein großer Wurf gelungen. Um wenigstens ein Haar in der Suppe zu nennen: Der Untertitel „Wie sich das Schicksal der Welt entschied“ klingt in den Ohren des Autors dieser Zeilen etwas reißerisch; außerdem wird ja eben nicht geschildert, wie es zu den militärischen Entwicklungen und ihren Folgen kam – davon abgesehen, dass das Kriegsende im November 1942 noch in weiter Ferne lag –, daher wäre ein Als sicher die bessere Wahl als das Wie gewesen, aber diese leicht irreführende Petitesse sollte keinen potenziellen Leser abschrecken. Uneingeschränkte Lektüreempfehlung!

Peter Englund: „Momentum. November 1942 – Wie sich das Schicksal der Welt entschied“, Rowohlt Berlin, 35,00 € 

Foto: RIA Novosti archive/ Boris Kudoyarov CC BY-SA 3.0 via Wikimedia Commons

Sie lesen gern Achgut.com?
Zeigen Sie Ihre Wertschätzung!

via Paypal via Direktüberweisung
Leserpost

netiquette:

Mathias Rudek / 03.12.2022

Ein interessanter Hinweis auf ein anscheinend gehaltvolles Buch. Zur eigenen, retrospektiven Nabelschau wäre heute ein Buch besonders wichtig: “Die Raute des Schreckens - das Schweigen der Etablierten - und ihre dummdreisten Epigonen. Wie eine einst erfolgreiche Nation an ihrer Autoimmunkrankheit stirbt.”

Dirk Jungnickel / 03.12.2022

Man muss bei solchen Unternehmungen aber immer berücksichtigen, dass Erinnerungen ausnahmslos subjektiv sind und objektive Geschichtsschreibung nicht ersetzen können. In ihrer Gesamtheit spiegeln sie durchaus Geschichte, aber benötigen den angemessenen Kontext. Ich habe selbst zig Zeitzeugen - Interviews geführt und daraus Dokus gemacht:  Über die Verbrechen des NKWD / KGB in der SBZ / “DDR” und über die Verfolgung Oppositioneller durch die Staatssicherheit der “DDR”. Und habe dabei erlebt, wie unterschiedlich der Tenor sein sein, selbst wenn es um nahezu gleiche Ereignisse geht. Auch ist es unstrittig, dass gerade bei Berichten über Extremsituationen ( z.B. in Nazi - KZs)  das “Hörensagen”  eine Rolle spielen kann ...

Arne Ausländer / 03.12.2022

@Klaus Keller: Spanien hat insofern aktiv eingegriffen, als daß es 1940-1945 die internationale Zone von Tanger besetzt hielt. Gibraltar und Suezkanal hätten auch von den Deutschen nachhaltig beschädigt werden können. Was wohl auch von Generälen gefordert wurde, aber nicht geschah. Ähnliches gilt für die kriegswichtige Bahnlinie von Murmansk nach Süden, die in Reichweite der deutschen Truppen in Lappland lag und geographisch bedingt nur schwer zu reparieren gewesen wäre. Die Neutralität Spaniens und der Türkei ist aus deren Interessenlage gut zu erklären (Skepsis hinsichtlich der deutschen Siegesaussichten, dazu Druck der Westalliierten). Man beachte auch, wie es dem Irak und dem Iran damals erging. Unklar aber sind etliche deutsche strategische Entscheidungen, die so aussehen, als gäbe es eine Anweisung, einen Sieg auf jeden Fall zu vermeiden. Was ja nicht heißt, daß ein deutscher Sieg unter Hitlers Führung wünschenswert gewesen wäre, was aber die Sicht auf den Krieg als Ganzen doch sehr verändern müßte. In diesem Kontext sei noch auf die weitgehende Nicht-Reaktion der Westalliierten auf den Sturz Mussolinis im Juli 1943 verwiesen. Auch hier die Frage: Wollte man ein “vorzeitiges” Ende des Krieges vermeiden? Die Ausdrücke “War Theater” bzw. “Kriegsschauplatz” klingen ganz anders nach solcherart Gedanken. - Für heute: Warum wird die nur vor direkter Beteiligung zurückschreckende Unterstüzung Weißrußlands für Putin nicht gesehen, als Vergleich, wenn es um das “zur Kriegspartei werden” durch Unterstützung der Ukraine geht? Und weil es um den Bosporus ging: Warum hat NATO-Land Türkei den nicht schon seit 2014 für russische Kriegsschiffe gesperrt? Juristisch wäre das kein Problem gewesen. Und dies als primäre Sanktion wegen der Krimannexion wäre für Rußland schmerzhaft gewesen, ohne negative Folgen für die Bevölkerung zu haben. Von “Sanktionen”, die nur uns selber schädigen, ganz abgesehen. - Alles halt Theater. Leider mit echten Menschen usw.

Helmut Driesel / 03.12.2022

  Das Interessante daran ist, dass offenbar immer noch nicht alles gesagt ist. Die Geschichte der DDR wurde schneller beerdigt, halbanonymes Urnengrab.

finn waidjuk / 03.12.2022

Es ist an der Zeit für ein weiteres Monumentalwerk: “Monstrum” (Wie sie das Schicksal Deutschlands besiegelte), eine Biographie der Uckermärkischen.

Jan Blank / 03.12.2022

Nanu? Nichts gegen den hier vorgestellten Autor, aber genau das hat Walter Kempowski doch schon vor 20 Jahren mit seinem “Echolot” gemacht. Schade das Herr Kempowski nicht mehr unter uns weilt, denn wie es ist von nicht nur den üblichen Woken gecancelt, sondern ebenso vom gesamten Literatur -und Medienbetrieb geschmäht zu werden- und zwar vor bereits 50 Jahren- da war der Mann leidiger Experte. Als konsequenter Verteidiger von nichts weniger als dem Phänomen “Bürgerlichkeit” als Gegenpol zu “Ideologie” hat er genau den Geist repräsentiert, der hier auf der Achse des Guten- gottlob- noch ein Zuhause findet.

Klaus Keller / 03.12.2022

Ob uns das weiter hilft, abgesehen von der Tatsache das es interessanter Lesestoff ist? Für mich ist eher interessant warum sich z.B. Spanien und die Türkei neutral verhielten und wer dank dessen Neutralität den Krieg überlebte und welchen Einfluss diese Neutralität auf den Kriegsverlauf hatte.(Ernst Reuter, ab 1948 Oberbürgermeister Berlins, überstand die Nazizeit in der Türkei. vgl Exil in der Türkei 1933–1945, bei Wikipedia als Einstieg.) Die Spanier hätten den Zugang der Briten zum Mittelmeer blockieren können. Der Suezkanal hätte strategisches Ziel der türkischen Armee sein können. Die Türkei hatte keinen Grund den Alliierten dankbar zu sein. Warum verhielten sie sich also so und nicht anders? Militärische Neutralität ist davon abgesehen ein sehr aktuelles Thema.

Leserbrief schreiben

Leserbriefe können nur am Erscheinungstag des Artikel eingereicht werden. Die Zahl der veröffentlichten Leserzuschriften ist auf 50 pro Artikel begrenzt. An Wochenenden kann es zu Verzögerungen beim Erscheinen von Leserbriefen kommen. Wir bitten um Ihr Verständnis.

Verwandte Themen

Es wurden keine verwandten Themen gefunden.

Unsere Liste der Guten

Ob als Klimaleugner, Klugscheißer oder Betonköpfe tituliert, die Autoren der Achse des Guten lassen sich nicht darin beirren, mit unabhängigem Denken dem Mainstream der Angepassten etwas entgegenzusetzen. Wer macht mit? Hier
Autoren

Unerhört!

Warum senken so viele Menschen die Stimme, wenn sie ihre Meinung sagen? Wo darf in unserer bunten Republik noch bunt gedacht werden? Hier
Achgut.com