Angela Merkel hat gerade in Washington mit Barack Obama ihr Buch präsentiert. Die Ex-Kanzlerin kämpft mit allen Mitteln um "ihr Bild in der Geschichte". Ein anderes Bild ist aber treffender. Hier ein Vorab-Buchauszug:
Als Ex-Kanzlerin Angela Merkel am 17. Juli 2024 70 Jahre alt wurde, hat das kaum einer bemerkt. Die Innenministerin der Ampelregierung Nancy Faeser hatte das Compact-Magazin von Jürgen Elsässer verboten. Das dominierte die Schlagzeilen. Zwar erschienen in einigen Zeitungen, wie der Süddeutschen, die Merkel prominent ihre Seite Drei widmete, mehr oder weniger lange Artikel, die aber auch mehr oder weniger unbeachtet blieben. Bei ihrem Abgang hatten viele Journalisten noch Tränen vergossen und behauptet, man würde Merkel schmerzlich vermissen. Dies war allerdings nicht der Fall. Das lag weniger daran, dass die Ex-Kanzlerin nur noch selten in der Öffentlichkeit auftrat, sondern vor allem daran, dass es kein einziges positives Projekt gibt, das mit ihrer Kanzlerschaft verbunden wäre.
Die Süddeutsche stellte die Frage, ob Merkel eine große oder nur eine halbgroße Kanzlerin gewesen sei, und präsentierte gleichzeitig eine lange und nicht vollständige Liste ihrer Fehlentscheidungen. Was der Autor der Süddeutschen aber nicht einmal zu denken wagte, ist das Folgende: Sie war die schlechteste Kanzlerin seit Gründung der Bundesrepublik Deutschland. Sie war die Kanzlerin der Zerstörung des Erfolgsmodells Bundesrepublik Deutschland. Während ihrer vier Regierungen wurden die Weichen für die Demontage des Rechtsstaates, des Grundgesetzes, der Wirtschaft und der Gesellschaft gestellt. Keiner hat das besser gewusst als sie selbst. Sie ist deshalb nicht wieder zur Wahl angetreten, damit nicht ihr, sondern ihrer Nachfolgeregierung die Schuld an dem sich abzeichnenden Desaster gegeben wird.
Allerdings bemühte sich die Ampel redlich, das Erbe Merkels zur vollen Wirkung kommen zu lassen. Während das ehemalige Erfolgsmodell Bundesrepublik Deutschland mit jedem Tag und wachsender Geschwindigkeit zerstört wird, hat Merkel unbeirrt den Kampf um ihr Bild in der Geschichte aufgenommen. Ihre vorläufig letzte Inszenierung ist ihre Autobiografie mit dem Titel „Freiheit“. Auf dem Werbebanner für das Buch, das in mehreren Dutzend Ländern erscheint, präsentiert sich die Ex-Kanzlerin im schicken AfD-Blau. Wer immer ihr dazu geraten hat, lag nicht falsch. Wenn es ein bleibendes Merkmal ihrer Kanzlerschaft gibt, dann ist es die Partei „Alternative für Deutschland“, AfD. Der gewünschte Mythos der „Freiheitskanzlerin“ wird allerdings keinen Bestand haben.
Am 2. Dezember 2021 wurde die Kanzlerin mit dem „Großen Zapfenstreich“ der Bundeswehr verabschiedet. Merkel saß einsam und allein neben ihrer damaligen Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer und versuchte vergeblich, mit der Auswahl ihrer Musikstücke ihr zukünftiges Bild in Umrissen zu entwerfen. Als Leitmotiv für ihren Abschied wählte Merkel Nina Hagens 1974er Osthit: „Du hast den Farbfilm vergessen“ Aber: Ein Farbfilm würde ihre Bilanz auch nicht retten.
Die Musikauswahl der Ex-Kanzlerin war – wie viele ihrer symbolischen Handlungen, die meist missverstanden wurden – durchaus beachtlich. Ich konzentriere mich dabei auf die wichtigste Entscheidung und lasse Hildegard Knefs „Für mich soll’s rote Rosen regnen“ und das traditionelle Kirchenlied beiseite: „Du hast den Farbfilm vergessen“ ist ein cooler, schmissiger Song, ein ostdeutscher Ohrwurm, den die damals 19-jährige Nina Hagen umwerfend darbot. Man kann ihren Auftritt bei „Ein Kessel Buntes“, der erfolgreichsten Unterhaltungssendung des DDR-Fernsehens, noch heute im Internet bewundern. Merkel und Nina Hagen sind fast der gleiche Jahrgang: Ich bin mir sicher, dass Angela Merkel auch besondere persönliche Erinnerungen mit dem Lied verbindet – und die haben einen Pferdefuß. Schon zwei Jahre nach der Premiere des Ohrwurms verließ Nina Hagen im Zuge der Biermann-Affäre die DDR. Sie folgte ihrer Mutter Eva-Maria Hagen – die ehemalige, viel besungene Geliebte von Biermann – und machte im Westen Karriere außerhalb des süßlichen Schlagerbetriebs. Nach ihrem Weggang wurde der Hit in der DDR kaum noch gespielt und erlebte seine Renaissance erst nach dem Mauerfall. Er ist einer der ganz großen Hits diverser Ostalgie- und Erinnerungswellen.
Politisch ist die Wahl Merkels nicht zu beanstanden – sie unterstützt eine Künstlerin, deren Wirken und Hit keine unnötige Nähe zum SED-Regime hat. Aber obwohl das Lied unpolitisch ist, hat es eine starke Botschaft, die man bei der angeblichen Ex-„Leader[in] of the free world“ näher betrachten sollte. Das Lied der leicht selbstverliebten Nina handelt von einem ziemlichen Versager, Michael, der der großartigen Nina die Show vermasselt, denn „er hat den Farbfilm vergessen“. Und dies macht Nina schon im Traumurlaub auf Hiddensee richtig wütend
„[…] und alles tat so weh, dass die Kaninchen scheu schauten
aus dem Bau, so laut entlud sich mein Leid in’s Himmelblau,
so böse stapfte mein nackter Fuß im Sand, und schlug ich von meiner Schulter deine Hand“
Was ist Michas Vergehen? Die Anklage ist deutlich und persönlich:
„Du hast den Farbfilm vergessen, mein Michael
Nun glaubt uns kein Mensch, wie schön’s hier war haha, haha
Du hast den Farbfilm vergessen bei meiner Seel’
Alles blau und weiß und grün und später nicht mehr wahr“
Nina ist so wütend, dass ihr Gezeter sogar nach dem Urlaub zuhause weitergeht:
„Nun sitz ich wieder bei dir und mir zu Haus
Und such die Fotos für’s Fotoalbum aus
Ich im Bikini, ich am FKK,
ich frech im Mini, Landschaft ist auch da, ja
Aber, wie schrecklich, die Tränen kullern heiß
Landschaft und Nina und alles nur schwarz-weiß“
Ich finde die Symbolik des Songs auffällig: Die Ex-Kanzlerin lässt Nina auf Michael deuten und klagen, „nun glaubt uns kein Mensch wie schön’s hier war“, denn es ist „alles nur schwarz-weiß“. Man braucht kein Prophet zu sein, um zu wissen, dass die Bilanz der Kanzlerschaft von Angela Merkel nicht dem entsprechen wird, was die Medien während ihrer Kanzlerschaft über ihr Tun produziert und halluziniert haben. Woran liegt es, dass die Bilder im Fotoalbum der Geschichte nicht vorteilhaft aussehen? Die Ära Merkel ist ja geprägt von dem Gedanken „die Bilder müssen stimmen“, „solche Bilder können wir nicht aushalten“ oder auch „solche Bilder wollen wir nicht mehr sehen“.
Es sind aber nicht schlechte Bilder, sondern schlechte, teilweise katastrophale Entscheidungen, die die Ära Merkel prägen. Und für die ist Merkel/Nina und nicht etwa Michael verantwortlich. Merkel, der man nachgesagt hat, dass sie „vom Ende her denkt“, weiß das genau. Deshalb die Klage, dass ihre Geschichte und Bilanz nicht farbenfroh und schön erzählt werden könnte. Die Medien, deren Produkt Merkel ist, sind eher nicht gemeint, die linke, grüne Öffentlichkeit auch nicht. Merkel zielt auf die CDU, auf ihre Landsleute im Osten, auf sehr viele konservative Stammwähler, vor allem aber auf ihre Kritiker – die „haben den Farbfilm vergessen“ und nun „glaubt uns kein Mensch, wie schön’s hier war“.
Die Realität ist natürlich eine andere: In zwei großen Politikfeldern, Energie und Asyl, schrammte die Kanzlerschaft Merkel nah an der Totalkatastrophe vorbei. Der kollektive deutsche Mental-Blackout nach einem Tsunami in Japan führte 2011 erst zu einem kollektiven Rausch („Deutschland muss ein bisschen verrückt sein, wir machen uns auf den Weg“, heißt es in einer RWE-Werbung aus dieser Zeit), der zum vorgezogenen Ausstieg aus der Atomenergie führte. Wobei man immer wieder betonen muss: Der Tsunami selbst forderte über 15.000 Tote, und es havarierte in seiner Folge auch das Kernkraftwerk in Fukushima, was aber keine unmittelbaren Todesopfer kostete.
Zwei Jahre später kam es zu einem Großsieg der Union unter Führung der Kanzlerin bei der Bundestagswahl 2013, da die FDP für ihre vollständige Unterwerfung unter Merkel büßen musste und aus dem Bundestag flog. Und die AfD war noch nicht stark genug für den Einzug in den Bundestag. Dieser Durchmarsch-Wahlsieg war Merkels Mauerfall und Einheits-Husarenstück, zumindest für die schon damals ziemlich gebeutelte CDU.
Doch statt mit der Stärke endlich für Deutschland Gutes zu tun – immerhin ist Merkel 2005 als Reformerin gestartet – führte sie erstmals vor, wie man Politik nicht machen kann: CO2-Reduktion ohne Kernkraft bei gleichzeitigem Erhalt von Wohlstand und Arbeitsplätzen – und Transformation zu einer instabilen Stromwirtschaft nur mit Wind, Solar und Biomasse als einzig regierungsseitig akzeptierte Arten der Energieerzeugung. Ein Ding der Unmöglichkeit.
Und dann verloren sie und ihre Mannschaft zum zweiten Mal die Nerven. Von sogenannten Nicht-Regierungsorganisationen (NGOs) wurden 2015 tausende Flüchtlinge vom Budapester Hauptbahnhof auf die Autobahnen Richtung Österreich und Deutschland geführt. Die deutsche Grenze hätte geschlossen werden müssen. Und so kam es zum Schwur: Wer übernimmt die Verantwortung für die schlechten Bilder und Berichte, wenn die Flüchtlinge draußen bleiben müssen? Micha – also hier Thomas de Maizière oder Horst Seehofer – jedenfalls nicht. Ergebnis: „Alles tut so weh“, und das schon seit Jahren. Der Anspruch, das Land eines halbwegs wohlhabenden 80-Millionen-Volks zum offenen Fluchtort in einer globalen Welt mit über sieben Milliarden Menschen umzuwandeln, ist von Anfang an zum Scheitern verurteilt und beinhaltet schlicht Unmögliches.
Egal welche schönen Bilder irgendwer produziert – darin sind Deutschlands Alt-Medien immerhin noch Weltmeister –, es geht auf die Dauer nicht. „Alles tut so weh“ – das könnte das Leitmotiv der Bilanz der Merkel-Ära der Jahre seit 2005 sein. Nur dass Micha mit seinem vergessenen Farbfilm hier keine Schuld trifft, so sehr die Kanzlerin auch wütet: Sie und ihre Minister und die geschickt und unnachgiebig von ihr getriebene Kanzlerpartei, allen voran natürlich die Funktionäre, die Medien und der politische Flügel auf der linken Seite, der zwar zunächst nicht an die Posten kam, aber dafür sein inhaltliches Glück immer weniger fassen konnte – dies sind die Verantwortlichen. Aber an erster Stelle natürlich Angela Merkel selbst.
Die Kanzlerin musste bei beiden Themen den Offenbarungseid leisten: Bei Nordstream 2 und dem Flüchtlingsdeal mit der Türkei. Wer im eigenen Land so wenig auf die Reihe bekommt, da „die Bilder stimmen müssen“ oder „wir diese Bilder nicht aushalten“, kann am Ende froh sein, dass ein Putin und ein Erdoğan diese „Deals“ nicht noch viel brutaler ausnutzten, als sie es schon taten. Was bleibt als letzter Gedanke?
Im Lied droht Nina: „Tu das noch einmal, Micha, und ich geh.“ Merkel ging leider viel zu spät. Wenn spätestens Anfang 2016 die Grenzen geschlossen worden wären, hätte Merkel gesichtswahrend abtreten können. Die Union, die FDP und alle Kräfte im Land, die den Verstand nicht komplett verloren hatten oder Deutschland bewusst in eine Wohlstands- und Freiheitskrise treiben wollten, hätten genug Zeit gehabt, einen belastbaren Plan für die nähere Zukunft zu schmieden, um das Land aus der Merkel-Sackgasse zu führen. Aber dazu hatten die Michaels in der Union nicht den Mumm: So ging das Elend („und alles tut so weh“) noch fast sechs Jahre weiter. Wahr wurde am Ende nur Merkels Ahnung, die sie gegenüber der Fotografin Herlinde Koelbl geäußert hat: „Dass am Ende der Hohn der Gesellschaft größer ist, als wenn ich gar nichts getan hätte.“ Allerdings handelt es sich dabei nicht um Hohn, sondern um eine wahrheitsgemäße Einschätzung ihrer Amtszeit.
Dies ist ein Vorabdruck aus dem Buch von Vera Lengsfeld „Ist mir egal – Wie Angela Merkel die CDU und Deutschland ruiniert hat“, Achgut Edition, Erscheinungstermin: 11.12.2024. Hier vorbestellbar.
Vera Lengsfeld, geboren 1952 in Thüringen ist eine Politikerin und Publizistin. Sie war Bürgerrechtlerin und Mitglied der ersten frei gewählten Volkskammer der DDR. Von 1990 bis 2005 war sie Mitglied des Deutschen Bundestages zunächst bis 1996 für Bündnis 90/Die Grünen, ab 1996 für die CDU. Seitdem betätigt sie sich als freischaffende Autorin. 2008 wurde sie mit dem Bundesverdienstkreuz am Bande geehrt.