Die Positionswechsel des Friedrich Merz sind weiterhin atemberaubend. In seiner gestrigen Regierungserklärung steht er treu und fest zu seinem speziellen inhaltlichen Wischiwaschi.
Friedrich Merz ist inzwischen wirklich Bundeskanzler, der als solcher nun auch tatsächlich eine Regierungserklärung im Bundestag abgegeben hat. Manchmal muss man sich als Beobachter der hiesigen politischen Zeitläufte dieser simplen Tatsache selbst versichern, denn bei seinen öffentlichen Auftritten schwankt der Kanzler Merz weiter zwischen allen Positionen hin und her.
Das ist natürlich auch kein Wunder. Einerseits will er sich und seine Partei mit allen politischen Kräften diesseits der letzten Brandmauer kompatibel halten, inzwischen bekanntlich einschließlich der SED. Andererseits versucht er dem Restbestand der CDU-Anhänger das Gefühl zu vermitteln, er würde noch etwas mit dem Programm zu tun haben, mit dem seine Partei zur Bundestagswahl angetreten ist. Und zwischendurch gefällt er sich sichtlich in der Rolle des Staatsmannes, der zusammen mit anderen Staatsmännern auf der Weltbühne auftreten darf.
Das alles macht diesen Kanzler zu einer wandelnden Wundertüte. Einige frühere Anhänger, die trotz unzähliger Merz-Auftritte, die sie eines besseren hätten belehren müssen, hielten bislang noch an der Hoffnung fest, dass ihr verlorener Hoffungsträger diese Wankelmütigkeit abstreifen würde, sobald er endlich wirklich regieren darf. Sie erhielten in den letzten Tagen, insbesondere mit der gestrigen Regierungserklärung bestimmt einen weiteren Dämpfer.
Das, was Friedrich Merz in seiner Rede sagte, klang streckenweise so, als würden die Redenschreiber seines Vorgängers weiterhin ihren Dienst im Kanzleramt versehen. Weitgehende Allgemeinplätze, wobei man zugeben muss, dass ihm Aufbau und Vortrag der Textbausteine spürbar besser gelingen als Olaf Scholz. Hoch gehängt hatte der die Latte diesbezüglich allerdings nicht. Aber der folgende bedeutungschwere Satz von Merz hätte von jedem Kanzler kommen können: "Entscheidungen, die wir zu treffen haben, werden prägend sein. Sie werden und sollen Einfluss auf die Zukunft der freiheitlichen Welt nehmen."
Nötig sei dafür "in vielerlei Hinsicht" aber ein Politikwechsel, der "ein Umdenken und neue Prioritäten an vielen Stellen" voraussetze. Da tauchte einmal das Wort auf, das doch den CDU-Wahlkampf bestimmte: "Politikwechsel". Aber alles weitere blieb weitgehend austauschbar. Beispielsweise wenn es hieß, ein Ziel müsse es sein, "unser Land aus eigener Kraft heraus wieder voran zu bringen" und "unsere Freiheit entschlossen gegen ihre Feinde zu verteidigen".
Von Trump nicht abhängen lassen
Gab es vielleicht wenigstens etwas Originelles, vielleicht mit realsatirischem Unterhaltungswert? Vielleicht, wenn man es im Zusammenhang mit anderen Lobpreisungen seiner Person betrachtet. Aber falls das Folgende zu konstruiert klingt, bitte ich um Nachsicht, denn ich kann nichts dafür, wenn der Bundeskanzler in seinen Worten mit unterhaltsamer Realsatire sparsam umging.
Heraus sticht natürlich seine Ankündigung, die Bundeswehr "konventionell zur stärksten Armee Europas" machen zu wollen. Dass ist in der Tat an Vollmundigkeit kaum zu überbieten. Offenbar war er noch ganz beseelt von seinem staatsmännischen Auftritt in Kiew, als er zusammen mit Frankreichs Präsident Emmanuel Macron, Britanniens Premier Keir Starmer und Polens Ministerpräsident Donald Tusk dem ukrainischen Präsidenten Selenskij Beistand versprach und Putin ein Ultimatum stellte. Bei allen anschließenden undurchsichtigen diplomatischen Winkelzügen des Kreml zeigt sich zwar deutlich, dass eher Donald Trump und die seinen hier das Spiel bestimmen als die Europäer, aber der Auftritt, inklusive Telefongespräch mit Donald Trump, war eine gewichtige Inszenierung.
Kein Wunder. Macron, Starmer und auch Merz sind innenpolitisch angeschlagen und bräuchten deshalb wenigstens einen außenpolitischen Bedeutungsgewinn. Und bei Tusk in Polen stehen Präsidentschaftswahlen an. Da darf man sich beim Frieden schaffen vom US-Präsidenten nicht völlig abhängen lassen.
Im Interview mit dem ZDF aus Kiew nutzte Friedrich Merz auch den Trumpschen Textbaustein, dass das Blutvergießen, das Sterben der Soldaten, auch der russischen, endlich ein Ende haben müsse. Merzens Kanzleramtsminister Thorsten Frei pries daraufhin im Gespräch mit Caren Miosga "diese Einigkeit der vier europäischen Führer". Bei aller Ergriffenheit darüber ist ihm wohl entfallen, dass für einen deutschen Kanzler die Zuschreibung "Führer" in den letzten Jahrzehnten eher vermieden wurde. Und es wäre auch wirklich unfair, diese kleine sprachliche Unaufmerksamkeit in irgendeinen Zusammenhang mit der Merzschen Politik oder Rede zu stellen.
Allerdings sollte die Rolle des großen Staatsmannes auf der Weltbühne, in der sich Merz in Kiew sichtlich gefiel und die sein engster Mitarbeiter entsprechend bewarb, wohl durch die Träume von der deutschen Armee als konventionell stärkste in Europa unterstrichen werden. Die kleine Ironie am Rande: Sollte dieser Traum tatsächlich verwirklicht werden, so dürfte das politisch wohl eher dem SPD-Verteidigungsminister Boris Pistorius nützen, als dem Kanzler.
Wie tausendmal gehört
Weltpolitik gab es selbstverständlich auch außerhalb der Themen militärischer Ertüchtigung und Ukraine-Krieg in der Regierungserklärung reichlich. Als Weltstaatsmann versteht sich Friedrich Merz schließlich auch was den Nahen und den Fernen Osten angeht. Und im leidigen Krisen-Deutschland?
"Ich bin der Überzeugung: Wir können aus eigener Kraft heraus wieder zu einer Wachstumslokomotive werden, auf die die Welt mit Bewunderung schaut", rief der Kanzler ins Bundestagsplenum. Zuvor hatte er schon davon geredet, in welcher Krise das Land steckt, aber "neue Arbeitsmarktpolitik" solle es beispielsweise geben, die auf mehr Leistung und mehr Wohlstand setze. Das klingt wie tausendmal gehört.
Auch dass der Bundeskanzler bezahlbares Wohnen für eine der wichtigsten sozialen Fragen hält, ist wahrlich keine originelle Erkenntnis. Und "Wohnraum muss bezahlbar bleiben" ist ein so abgegriffener wie bislang wirkungsloser Textbaustein. Dass Merz selbiges durch mehr Wohnungsbau erreichen möchte und Steuerentlastungen für die Eigentumsbildung, eine Entbürokratisierung und mehr sozialen Wohnungsbau verspricht, gehört ebenfalls seit vielen Jahren zu den Standardversprechen aller letzten Bundesregierungen.
Das bisherige Bürgergeldsystem verspricht er abzuschaffen und in eine neue Grundsicherung zu überführen. Am Ende wird der größte Unterschied für die Empfänger sein, dass die Sozialleistung anders heißt, auf neuen Formularen zu beantragen ist und vielleicht auch anders verwaltet wird.
Apropos Verwaltung: Da verspricht der Bundeskanzler eine konsequente Digitalisierung. "Verwaltungsleistungen sollen einfach und digital über eine zentrale Plattform ermöglicht werden – ohne Behördengang", sagte Merz im Bundestag. Was er nicht sagt, dass es digital nicht einfacher werden muss. Im Gegenteil, wenn der Bürger sein Anliegen daheim im Computer verwaltungsgerecht formatiert vorbringen muss, dann kann man ihm viele neue schöne Vorgaben machen. Dafür gibt es in den Ämtern dann vielleicht weniger konkrete Ansprechpartner für lästige Nachfragen zum Stand von Verwaltungsvorgängen.
Und woher kommt das Geld?
Die Verantwortung für Entscheidungen von einem zum anderen verschieben und so zu verschleppen, das können Behörden auch digital. Aber das hat die Regierung bestimmt im Griff, denn schließlich kümmert sich darum das extra neu geschaffene Ministerium für Digitalisierung und Staatsmodernisierung. Laut Merz sollen dort die nötigen Kompetenzen gebündelt werden. Der Kanzler begleitet dies mit dem schönen Satz: "Wir investieren in einen modernen Staat und eine digitale Verwaltung, die die Bürgerinnen und Bürger nicht gängelt und drangsaliert, sondern unterstützt und voranbringt". Bloß wohin der Bürger vorangebracht werden soll, möchte dann wohl doch eher das Amt entscheiden, oder?
Wurde Bundeskanzler Friedrich Merz auch an irgendeiner Stelle konkret? Ja. "Wir werden ... das Rentenniveau bis 2031 bei 48 Prozent absichern", erklärte er. Und wie? Woher kommt das Geld dafür? Antworten auf solche Fragen gehören offenkundig nicht in eine Regierungserklärung. Außerdem ist 2031 nicht mehr lange hin. Was passiert danach? Es ist interessanterweise das Jahr, in dem der geburtenstärkste deutsche Nachkriegsjahrgang die Renten-Altersgrenze erreicht. Spätestens an dieser Stelle dürfte das bisherige Rentensystem am Ende sein. Aber das spielte gestern keine Rolle. Stattdessen will sich die Merz-Regierung darum kümmern, dass junge Menschen frühzeitig für das Alter vorsorgen. "Wir machen das mit der sogenannten Frühstartrente", hieß es vom Kanzler. "Frühstartrente" klingt fast wie Frühverrentung, ist aber nicht so gemeint. Was darunter zu verstehen ist, erklärte jüngst tagesschau.de so:
"Konkret soll jedes Kind vom 6. bis zum 18. Lebensjahr, das eine Bildungseinrichtung in Deutschland besucht, ab dem 1. Januar 2026 pro Monat zehn Euro vom deutschen Staat bekommen. Dieses Geld soll in ein 'individuelles, kapitalgedecktes und privatwirtschaftlich organisiertes Altersvorsorgedepot' fließen."
Toll! Und woher kommt das Geld? Ach ja, da gibt's diese neuen unerschöpflichen Schuldentöpfe, die der abgewählte Bundestag noch hat ins Grundgesetz schreiben lassen. Aber, da hat Kanzler Friedrich Merz treuherzig erklärt, dass seine Regierung mit den neuen Mitteln "äußerst behutsam und vorsichtig umgehen" müsse. Die Schulden ließen sich "nur rechtfertigen, wenn wir mit diesem Geld dauerhaft und nachhaltig den Wert unserer Infrastruktur steigern und das Leistungsvermögen unseres Landes insgesamt verbessern".
Das ist zwar richtig, dürfte aber nun wirklich auch den naivsten Bürgern zu dick aufgetragen vorkommen. Viel eher dürften etliche Steuerzahler an den berühmten Satz des Ökonomen Joseph Alois Schumpeter denken: "Eher legt sich ein Hund einen Wurstvorrat an als eine demokratische Regierung eine Budgetreserve."
Also das, was Merz als Regierungserklärung ablieferte, war kein Zeichen des Politikwechsels, auch wenn das Wort in seiner Rede vorkam. Es war lauer Regierungserklärungs-Durchschnitt. Ein weiteres Zeichen für eine weitgehende "Weiter so"-Politik dieser Bundesregierung, so wie sie auch der Koalitionsvertrag verspricht.
Peter Grimm ist Journalist, Autor von Texten, TV-Dokumentationen und Dokumentarfilmen und Redakteur bei Achgut.com.