Es gibt in der EU nach wie vor keine einheitliche Linie und keine große Freiwilligkeit, mehrheitlich männliche Migranten aus Afrika und dem arabischen Sprachraum aufzunehmen. In den Zielländern der Migranten gibt es Sorgen wegen einer Überforderung der Aufnahmekapazitäten. Die afrikanischen Länder drohen dagegen einen Gutteil ihrer besser ausgebildeten Jugend zu verlieren und einen „Brain drain“ zu erleiden. Zumindest Migranten aus Staaten mit einer geringen Anerkennungsquote und ohne echte Verfolgungsgeschichte würden wohl kaum die teure und gefährliche Überfahrt wagen, wenn sie nicht wüssten, dass in Deutschland jeder bleiben darf (und versorgt wird), der es einmal hierher geschafft hat. Erst wenn klare Signale ausgesendet werden, dass die Ankunft in Europa über illegale Einwanderung nicht mehr möglich ist, werden die Zahlen der Migranten, die im Mittelmeer sterben, zurückgehen.
Migration bleibt ein kontroverses, emotionales Thema: für die Migranten selbst wie für die in Armut Zurückgebliebenen und ebenso für die Bürger der Aufnahmeländer. Wer als multikulturell Gesinnter offene Grenzen und uneingeschränkte Migration als Allheilmittel gegen die Armut auf der Welt fordert, macht es sich jedenfalls zu einfach. Es gibt Gewinner und Verlierer der Migration, und für die meisten Menschen ist ihre nationale Identität ein hoher Wert. Beispiel Botswana, siehe unten.
Deshalb empfehle ich, das – leider zu wenig beachtete – bereits 2017 bei Siedler erschiene Buch „Gestrandet: Warum unsere Flüchtlingspolitik allen schadet – und was jetzt zu tun ist“ von Alexander Betts und Sir Paul Collier zur Hand zu nehmen. Die beiden Professoren aus Oxford schreiben mit profunder Sachkenntnis. Beide sind rechtsradikaler und rassistischer Rhetorik unverdächtig. Das Buch ist eine ungeschönte Analyse der bisherigen Flüchtlingspolitik und ihrer verhängnisvollen Folgen. Die Autoren machen die Ursachen der Flüchtlingskrise verständlich und stellen überzeugende und praktikable Lösungen vor.
Einige Zitate aus dem lesenswerten Buch:
Zur Rettungsoperation Mare Nostrum der italienischen Marine:
„Ungewollt wird damit eine Gratisleistung für die Schleuser erbracht, die diese sich offensichtlich zunutze machen.“ (S.101)
„Die Schleuserbranche war im Mittelmeer zwar bereits gut etabliert, doch durch den massiven Anstieg der Nachfrage, den die Einladung aus Deutschland auslöste, stiegen verstärkt kriminelle Organisationen in das Geschäft ein.“ (S.151)
Einwanderung nach Botswana:
„Die Einwanderung von Menschen mit geringer Bildung wurde schon immer stark eingeschränkt. Als gut regiertes, wohlhabendes Land, umgeben von einer Schar schlecht regierter und armer Länder, ist dies wohl die einzige Möglichkeit, den eigenen hohen Lebensstandard zu halten, die Einwanderung zu beschränken. Das kann man kaum als unmoralisch ansehen. (S.159)
Migrationsfreiheit:
„Das Asylrecht ist nicht das Gleiche wie absolute Migrationsfreiheit. Wenngleich es bei den entsprechenden Interessengruppen und in der liberalen Filterblase eine populäre Ansicht ist, dass ein Flüchtling das Recht haben sollte, ungehindert zu reisen, ist dies weder ethisch noch rechtlich plausibel“. (S.181)
Zufluchtsländer:
„Ferner gilt. Dass heimatnahe Zufluchtsländer nicht nur für die Flüchtlinge besonders geeignet sind, sondern umgekehrt auch die Flüchtlinge für die heimatnahen Zufluchtsländer. Es bestehen nämlich historische, ethnische und sprachliche Überlappungen und kulturelle Affinitäten zwischen den Ursprungsländern. Auch die Rechtssysteme, die dort Beschäftigung und berufliche Qualifikation regeln, sind gewöhnlich gut dafür geeignet, dass die Flüchtlinge ihren Lebensunterhalt verdienen können. (S.185)
„Die Lager sind bequem für die Gastländer, weil sie als sichtbares Zeichen die einheimische Bevölkerung beruhigen und für einen ständigen Zufluss an Fördermitteln sorgen. Sie sind bequem für das Flüchtlingshochkommissariat, weil sie seiner Finanzierung dienen. Und sie sind bequem für die Geberländer, weil sie Menschen festhalten, die vielleicht destabilisierend wirken oder auf der Suche nach einem besseren Leben weiterziehen könnten.“ (S.189)
„Mit der Drohung, Flüchtlinge aus dem Land zu vertreiben, kann ein Zufluchtsland eine beispiellose Macht erlangen. Die deutsche Regierung beschwerte sich zwar über „Erpressung“, doch die zahlte sich aus: Erdogan erhielt die Zusage von Hilfsmitteln in Höhe von sechs Milliarden Euro. Kenias Regierung wollte einen vergleichbaren Zahltag – und hinter den Kulissen bekam sie ihn auch. Im Gegenzug setzte sie die angedrohte Massenabschiebung nicht durch.“ (S.206)
„Als Menschen unterscheiden sich Flüchtlinge in wirtschaftlicher Hinsicht nicht von anderen. Ungeachtet der verbreiteten Darstellung in den Medien als hilfsbedürftig und arm, gibt es im Leben eines Flüchtlings nichts, weshalb dies unweigerlich so sein muss. Ob Flüchtlinge einen positiven wirtschaftlichen Beitrag leisten, liegt nicht nur daran, was für Menschen sie sind, sondern auch an unseren Entscheidungen und an unserer Politik.“ (S.213)
Brexit:
„Das wahrgenommene Missmanagement der Flüchtlingskrise durch die Kommission und die wahrgenommene Dominanz ihrer Entscheidungen durch Deutschland wurden von den Befürwortern des Brexit als Geschenk des Himmel erkannt. Ihr letztes Wahlkampfplakat zeigte unter dem Schlagwort „Breaking Point“, Belastungsgrenze, Menschen, die in Richtung deutscher Grenze strömten, und der letzte Slogan der Brexit-Befürworter lautete “Take back control“, die Kontrolle wiedererlangen. Anschließende Analysen der Abstimmungsergebnisse lassen vermuten, dass diese Kampagne den Ausschlag gab: Die zentralen Entscheidungen der Flüchtlingskrise hatten ungewollt zur Folge, dass die Bevölkerung eines der größten EU-Mitgliedsländer beschloss, aus der Union auszutreten.“ (S.302)
Ein sehr gutes Buch. Faktenreich, argumentationsstark, flüssig zu lesen. Leider nicht aufmunternd. Gerade deshalb wäre es Pflichtlektüre für unsere politische Führung. Der schottische Philosoph Thomas Carlyle (1795–1881) sagte: „Der schlimmste aller Fehler ist es, sich keines solchen bewusst zu sein.“
„Gestrandet: Warum unsere Flüchtlingspolitik allen schadet – und was jetzt zu tun ist“ von Alexander Betts und Sir Paul Collier, 2017, Siedler Verlag: München, hier bestellbar.
Volker Seitz war von 1965 bis 2008 in verschiedenen Funktionen für das deutsche Auswärtige Amt tätig, zuletzt als Botschafter in Kamerun, der Zentralafrikanischen Republik und Äquatorialguinea mit Sitz in Jaunde. Er gehört zum Initiativ-Kreis des Bonner Aufrufs zur Reform der Entwicklungshilfe und ist Autor des Buches „Afrika wird armregiert“. Die aktualisierte und erweiterte Taschenbuchausgabe erschien im September 2018. Drei Nachauflagen folgten 2019 und 2020. Volker Seitz publiziert regelmäßig zum Thema Entwicklungszusammenarbeit mit Afrika und hält Vorträge.