News-Redaktion / 07.05.2020 / 13:00 / 32 / Seite ausdrucken

Ein brisanter Brief an Dr. Braun

Dr. med. Helge Braun praktiziert bekanntlich nicht als Arzt, sondern derzeit als Chef des Kanzleramts. Dennoch haben sich die Ärzte vom IG-Med e.V.; einer bundesweiten Vereinigung niedergelassener Mediziner, die sich ohne parteipolitische Bindung in die Gesundheitspolitik einmischen wollen, auch als Kollegen an ihn gewandt. Die Betreffzeile ihres Schreibens an Braun klingt beinahe nach dem Titel einer Studie: „Richtlinienkonformität der amtlichen Aufgabenerfüllung durch die Bundesgesundheitsminister und die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Bundesgesundheitsministeriums in Fragen des Schutzes der Bevölkerung vor den Gefahren einer Pandemie, insbesondere in Gestalt drohender Virusinfektionen in der Zeit seit dem Jahr 1996“. So sperrig der Titel auch klingt, so kann sich doch derzeit wahrscheinlich jeder vorstellen, dass dieser ärztliche Befund gesundheitspolitisch brisant ist. Deshalb wollen wir ihn hier im Wortlaut vorstellen:

„Sehr geehrter Herr Kollege Braun,

nach Artikel 65 Satz 1 des Grundgesetzes bestimmt der Bundeskanzler die Richtlinien der Politik und trägt für deren Einhaltung die Verantwortung. Wir wenden uns daher hier an Sie als den zuständigen Minister im Bundeskanzleramt, um mit Ihrer – als Fachkollege auch erwartbar medizinisch qualifizierten – Hilfe aufarbeiten zu können, welche Fehler in den uns und unsere Patienten betreffenden Lebensbereichen im Zusammenhang mit der Covid-19-Pandemie gemacht worden sind und wer genau dafür zur Rechenschaft gezogen werden muss.

Als rechtsfähige Vereinigung von Leistungserbringern im Gesundheitswesen haben auch wir gemeinsam mit unseren Mitgliedern die jüngsten Ereignisse um die sog. „Corona-Krise“ mit wachsender Sorge beobachten und begleiten müssen. In dem Bestreben, aus Fehlern der Vergangenheit für die Zukunft zu lernen, sind wir aktuell damit befasst, diejenigen Personen und Organisationen zu ermitteln, deren Handeln vor und während der „Corona-Krise“ vermeidbare Probleme hat entstehen, entstandene Probleme sich hat vergrößern und bestehende Probleme nicht hat unmittelbar bereinigen lassen.

Nach unserem Eindruck war die Handhabung der „Corona-Krise“ 2019/2020 durch das Bundesgesundheitsministerium nicht nur bereits in der Vorvergangenheit, sondern in ihrer konkreten Entstehungsphase, in der Alarm- und in der Risikophase vorwerfbar unzulänglich. In der Zeit seiner Amtsverantwortung treffen diese Vorwürfe augenscheinlich, wie sogleich im Einzelnen ausgeführt, insbesondere auch Herrn Minister Jens Spahn persönlich.

Wir bitten Sie hiermit um Ihre amtliche Prüfung, ob und inwieweit die nachstehend spezifizierten Koordinierungs-, Planungs- und Umsetzungsmängel der Genannten mit den dem Ministerium und den Ministern von der Frau Bundeskanzlerin seit ihrem Amtsantritt jeweils gesetzten Richtlinien in Einklang standen, gegen sie verstießen, ob es Nachjustierungen oder Kritik gab, wie diese artikuliert wurde und wann welche Konsequenzen daraus gezogen wurden.

Angesichts der überragenden Bedeutung der aktuellen Pandemie für Leib und Leben der Bürgerinnen und Bürger, für die Verantwortlichen im gesamten Gesundheitssystem sowie für unsere Volkswirtschaft insgesamt erwarten wir Ihre baldmöglichste Antwort. Unser Petitum ist getragen von der Hoffnung, dass die Freiheit der Information und die Sorgfalt Ihrer Antwort uns künftig helfen wird, der Gesundheit jedes einzelnen Menschen wie auch der Bevölkerung in Zeiten der Pandemie besser zu dienen, Leben zu erhalten, Gesundheit zu schützen und wiederherzustellen, Leiden zu lindern, und allen Betroffenen den nötigen Beistand zu leisten.

Dies vorausgeschickt, stellen wir fest:

Zeitlicher Hintergrund

Nach dem weltweiten Ausbruch des Virus H5N1 im Jahre 1996 wurde von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) ein Leitfaden („Influenza Pandemic Plan“) erstellt, um für künftige Fälle vergleichbarer Gefährdung eine weltweit bessere Handhabbarkeit zu ermöglichen. Ergebnis dieser Arbeit war, dass im Jahre 1999 eine Empfehlung für nationale Pandemiepläne veröffentlicht werden konnte. In der weitere Folge wurde auch in Deutschland im Jahre 2005 ein zweiteiliger nationaler Pandemieplan erstellt, dessen 2. wissenschaftlicher Teil im Jahre 2016 angefügt werden konnte. Im Folgejahr, 2017, wurde der 1. Teil dieses deutschen Pandemieplanes nochmals aktualisiert. All dies geschah in dem Wissen und Bewusstsein, dass die erneute pandemische Ausbreitung eines hochkontagiösen Virus bevorstehen könnte. Diese Befürchtung wurde unterlegt durch „kleinere“ Ausbrüche wie die SARS-1-Pandemie im Jahr 2002/2003 mit insgesamt 1.000 Todesfällen weltweit, die MERS-Pandemie 2012 bis 2014 mit ca. 500 Infizierten und 145 Todesfällen, sowie Ausbrüchen von Influenza A, wie der Vogelgrippe (H5N1), seit 2005 mit wiederkehrenden lokalen Ausbrüchen, der sog. Schweinegrippe (H1N1) 2009/2010, und einer Grippesaison 2017/2018 mit den höchsten Todesraten der letzten 30 Jahre.

Es kann daher – nach einer somit bald fünfundzwanzigjährigen (!), einschlägigen Befassung aller fachlich zentral zuständigen Stellen des Bundesgesundheitsministeriums – vernünftigerweise nicht davon ausgegangen werden, dass seinen Mitarbeitern, insbesondere in den Referaten L3 und L6, der Abteilung Z (dort namentlich der Unterabteilung Z 2) sowie der Abteilung 6 (mit der Unterabteilung 61 und den Referaten 611, 612, 613, 614 und 615) die Gefährdungslage durch erwartbare pandemische Entwicklungen einer Influenza- und/oder Corona-Virus-Infektion seit dem Sommer 2018 noch unbekannt oder unbewusst gewesen wäre.

Die tatsächliche Handhabung vor und während der nun intensiv diskutierten „Corona-Krise“ des Jahres 2020 durch die Verantwortlichen in dem Bundesgesundheitsministerium ist von einer ordnungsgemäßen Handhabung, wie sie nach der umfangreichen Vorbefassung ohne jeden vernünftigen Zweifel pflichtgemäß geboten gewesen wäre, in rechtserheblicher Weise nachteilig abgewichen. Der Ist-Zustand und die Ist-Entwicklungen im Bereich des Krisenmanagements blieben in substantiell schadenauslösender Weise hinter den Soll-Zuständen und den Soll-Entwicklungen zurück, die nicht nur in dem nationalen Pandemie-Plan (Teile 1 und 2) und zusätzlich in den ergänzend gewonnenen Analysen des Auswertungsberichtes der länderübergreifenden Krisenmanagementübung („Lükex 2007“) beschrieben worden waren. Verfehlt wurden auch die Anforderungen, die sich aus der weiteren ausführlichen Risiko-Analyse Bevölkerungsschutz Bund, Anhang 4 „Pandemie durch Virus Modi-SARS“ (Bundestagsdrucksache 17/12051) ergeben hatten und alleine deswegen auch den entsprechenden Stellen des Bundesgesundheitsministeriums hinlänglich rechtzeitig vor der Pandemieentstehung des Jahres 2020 und während seines Fortganges bekannt gewesen sein mussten. Im Einzelnen:

Bevorratung mit Medikamenten, Impfstoffen und (Schutz-)Materialien

Eine Ermittlung des Bedarfs an persönlicher Schutzausrüstung für Behördenmitarbeiter, für die ambulante Versorgung und für die Rettungsdienste oder gar eine entsprechend bedarfsgerechte Bevorratung dieser Schutzausrüstungen fanden seit Abschaffung der vorangegangenen Bevorratung mit Sanitätsmaterial für medizinische Notlagen in den 1990er Jahren im Rahmen des Zivilschutzes durch den Bund überhaupt nicht mehr statt. Sogar vorhandenes Material wurde bei Ablauf seines Verfallsdatums nicht ersetzt.

Eine entsprechend organisierte Bedarfsermittlung und sachgerechte Bevorratung der notwendigen Ausrüstungen bzw. Materialien für einen erwartbaren Pandemiefall hätte jedoch nach den vorstehend beschriebenen Erkenntnissen pflichtgemäß bewirkt werden müssen.

Der nationale Pandemieplan Teil 1 beschreibt nämlich nicht ohne Grund auf Seite 8 in seiner Tabelle 1.1 genau diese notwendigen Maßnahmen in den verschiedenen Pandemiephasen. In der sog. Interpandemische Phase – also bereits vor Auftreten einer Pandemie – hatten demnach Planungen für eine potentielle künftige Pandemie zu erfolgen und eine sog. „Preparedness“ hergestellt zu werden. Zu dieser zählen danach unter anderem ausdrücklich „Reservierung, Einkauf, Lagerung von Medikamenten, Impfstoffen und Materialien“. Dies umfasst planadäquat Schutzmaterialien wie Schutzmasken, Schutzbrillen und –visiere, Schutzkleidung und Desinfektionsmittel.

Im Jahr 2007 wurde eine weitere länderübergreifende Krisenmanagementübung „Lükex 2007“ durchgeführt. Ihr amtlicher Auswertebericht zeigte bereits erhebliche Defizite bei der Bedarfs- und Ressourcenermittlung von persönlicher Schutzausrüstung (PSA) und gab ausdrückliche Empfehlungen nicht nur zur Erfassung des Ausstattungsbedarfes für die ambulante Versorgung und den Rettungsdienst, sondern zusätzlich für die gemeinsame Beschaffung von PSA in Behörden. Gleichzeitig wurden in diesem Auswertebericht ausdrücklich Arbeitsschutzkonzepte zur Ausstattung mit Schutzmasken angeregt.

In der Simulation einer Pandemie mit einem modifizierten SARS-Virus (Modi-SARS) wurde darüber hinaus explizit auf die Bedeutung der Vorhaltung persönlicher Schutzausrüstung hingewiesen, die erwartbar auf eine dann auch verstärkte Nachfrage treffen würde. Dezidiert warnten die Experten: Engpässe würden entstehen. Die jetzt in der „Corona-Krise“ des Jahres 2020 aufgetretenen, massiven Probleme mit fehlender Bevorratung von PSA in allen Bereichen der Gesundheitsversorgung belegen, dass die gewonnenen Erkenntnisse der Übung Lükex 2007 und die Belehrungen aus der Bundestagsdrucksache 17/12051 offenkundig nicht zu der positiv als geboten bekannten Bevorratung mit Persönlicher Schutzausrüstung geführt hat. Es wurde erkennbar kein Bedarf ermittelt. Es wurde daher auch keine ausreichende Bevorratung mit Schutzausrüstung vorgenommen. Schutzausrüstungen fehlten somit zum maßgeblichen Zeitpunkt an allen notwendigen Stellen. Genau diese Ausrüstungen hätten aber nachweislich zu einem sachgerechteren Krisenmanagement der Covid-19-Pandemie und zur substantielleren Abmilderung aller ihrer fatalen Folgen unmittelbar ursächlich beigetragen.

Einbeziehung und Vernetzung systemrelevanter privatwirtschaftlicher Bereiche

Trotz ausdrücklich und nachweisbar ausgesprochener Warnungen insbesondere der Hilfsmittellieferanten, die das Ministerium früh im Februar 2020 per Mail auf drohende Lieferengpässe bei Schutzmaterialien hinwiesen, erfolgten keine sachgerechten Reaktionen. Der Bundesgesundheitsminister gab im ZDF stattdessen in einem Interview bekannt, dass er (und/oder seine Mitarbeiter?) nicht alle Mails bearbeiten habe können, die ihn während der Corona-Pandemie erreichten. Der Hinweis auf den Schutzmasken-Engpass sei daher – mithin: eingeräumtermaßen – übersehen worden (ZDF heute, 25.03.2020).

Nachdem das Bundesgesundheitsministerium die Beschaffung des nötigen Schutzmaterials sowie der Masken, der Schutzkleidung und des Desinfektionsmittels an sich gezogen hatte, änderte sich die Lage dennoch nicht. Stattdessen gab es nun Schwierigkeiten bei der Beschaffung  wegen hoher Kosten für bestelltes und verschwundenes (!) Material sowie Lieferungen nicht zertifizierter wie auch gänzlich unbrauchbarer Materialien.

Im weiteren Verlauf der Pandemie wurden dann sogar Angebote innerdeutscher Hersteller, kurzfristig in die Produktion von Schutzmaterialien einzusteigen und damit eine nicht steuerbare Importabhängigkeit zu beenden, von Seiten des Bundesgesundheitsministeriums zurückgewiesen (Bericht Welt online 24.04.2020).

Infolge dieser ursprünglichen Untätigkeit und der später zusätzlichen Managementfehler des Ministeriums ergaben sich in der Praxis vor Ort überall Mangelsituationen bezüglich der benötigten Schutzmaterialien. Hierdurch wurde das gesamte medizinische Personal vermeidbar massiv gefährdet und konsequent sogar die Überforderung des Gesundheitswesens insgesamt wahrscheinlicher gemacht. Die notwendige Versorgung mit Schutzmaterial wurde zudem deutlich verteuert, was seinerseits – namentlich wegen der vorangegangenen Warnungen aus den diversen Planungsphasen – ohne weiteres zu vermeiden gewesen wäre.

Entsprechendes gilt für die Warnungen der Pharmazeutischen Industrie und des Medikamentengroßhandels bezüglich der Lieferfähigkeit lebenswichtiger Arzneimittel. Wären die Warnungen von diesen Seiten rechtzeitig berücksichtigt worden, hätte eine rechtzeitige Bevorratung oder zumindest eine entsprechende vertragliche Reservierung von Schutzmaterial und Medikamenten erfolgen können, was zu einer deutlichen Entspannung in der Versorgung potentiell infektiöser Patienten geführt hätte. Die Gefährdung des medizinischen Personals hätte minimiert werden können. Auch eine Arzneimittelreserve hätte eingerichtet werden können und müssen.

Die Einbeziehung deutscher Hersteller und Lieferanten hätte ebenfalls zu einer Entspannung auf dem Schutzmaterialmarkt beigetragen und die Unabhängigkeit von fragilen globalen Lieferketten erhöht.

Letzteres ist durch die Äußerungen verschiedener Heilmittellieferanten, unter anderem des Geschäftsführers der Franz Mensch AG, Georg Theiler, belegt. Empfehlungen zur Einbeziehung privatwirtschaftlicher Unternehmen in die Krisenbewältigung waren im Abschlussbericht  der Lükex 2007 ausdrücklich ausgesprochen worden. Warum sie keine Berücksichtigung in der anschließenden Krisenvorsorge durch das zuständige Bundesgesundheitsministerium gefunden haben, ist nicht nachzuvollziehen.

Kostentragung und Verteilung von Verantwortlichkeiten

Unverständlich ist, warum in Zusammenarbeit mit dem Bundesministerium für Inneres und Sicherheit Regelungen zur Kostentragung für die Vorhaltung von entsprechenden Materialressourcen, aber auch für die Ausbildung, die Vorhaltung, die Freistellung und Entschädigung von benötigten Personalressourcen nicht getroffen wurden. Diese Verantwortlichkeiten hätten einer erweiterten Klärung zugeführt werden können und müssen. In der möglichen (Rechts-)Vorsorge hätten Rechtsvorschriften, Verfahren der Haftungs-, Entschädigungs-, Regress- und Ausnahmeregelungen ausgestaltet werden können und müssen. Warum das Bundesgesundheitsministerium und das Bundesinnenministerium entsprechende Moderations-und Koordinierungsrollen nicht konzipiert haben, ist nicht nachzuvollziehen. Insbesondere war dem Bundesgesundheitsministerium dezidiert empfohlen worden, sich im Rahmen einer nationalen Impfstrategie insbesondere um die verfassungsrechtliche Prüfung einer Impfpriorisierung und einer Konkretisierung des Kreises prioritär zu impfender Personen zu bemühen, um zunächst für Personen der kritischen Infrastruktur eine Impfung gewährleisten zu können.

Richtigerweise hätten entsprechende Regelungen erarbeitet werden können und müssen, um im Krisenfall einen reibungslosen Ablauf und eine zeitgerechte Personalrekrutierung zu gewährleisten. Bis zur Stunde gibt es keine verfassungsrechtliche Prüfung einer möglichen Priorisierung der zu impfenden Personenkreise und einer ordnungsgerechten Impfstrategie, so dass auch hier eine substantielle Rechtsunsicherheit besteht, die bei rechtzeitigem und pflichtgemäßem Vorbereitungshandeln vermeidbar gewesen wäre.

Letzteres ist namentlich deswegen unverständlich, weil im nationalen Pandemieplan ausdrücklich darauf hingewiesen worden war, dass in der interpandemischen Phase auch Regelungen zur Kostentragung und zur Verteilung von Verantwortlichkeiten getroffen werden müssen. Lükex 2007 wiederum verweist explizit darauf, dass umfangreicher Handlungsbedarf in der (Rechts-)Vorsorge besteht. Der Bundesebene wird auch hier nicht ohne Grund eine bedeutende Moderations- und Koordinierungsrolle zugewiesen. Wie anhand der Unsicherheiten bezüglich der Regelungen auf Bundes-, Landes- und Kommunalebene mit teils ausgesprochen unterschiedlichen Regulierungsverfahren erkennbar, wurde auch diese Koordinierungstätigkeit – namentlich von dem Bundesgesundheitsministerium - verfehlt.

Risikoanalyse und Früherkennung

Auf Basis der Pandemie-Einschätzung der WHO und auf Grundlage auch der Äußerungen des Bundesgesundheitsministers ergeben sich nach allem weitere Hinweise auf eine deutlich fehlerhafte Risikoeinschätzung durch das Bundesgesundheitsministerium mit daraus kausal resultierenden Verschleppungen der notwendigen Maßnahmen.

Sowohl in der interpandemischen Phase als auch in der sog. Alarmphase spielt die Einschätzung der Lage in einem internationalen Kontext eine entscheidenden Rolle für das frühe und konsequente Krisenmanagement mitsamt der Vorbereitung für entsprechende Maßnahmen in der Bevölkerung.

Am 31.12.2019 wurde die WHO über einen auffälligen Erkrankungscluster von Pneumonien in Wuhan informiert. Am 30. Januar 2020 wurde von dem Generalsekretär der WHO ein „Public Health Emergency of International Concern“ (PHEIC) festgestellt. Am 11. März 2020 stufte die WHO den Covid-19-Ausbruch als „Pandemie“ ein. Rund sechs Wochen zuvor, am 28.01.2020 wurde der erste Fall einer Covid-19-Infektion in Bayern gemeldet. An diesem Tag bezeichnete der Bundesgesundheitsminister die Gefahr für eine Ausbreitung in Deutschland dennoch als gering – also nur zwei Tage bevor die WHO die Covid-19-Infektion bereits als PHEIC bezeichnete und die Bedrohungslage als „hoch“ einstufte.

Am 23.02.2020 wurde der Karneval von Venedig vorzeitig beendet, während in Deutschland noch immer nur unzureichende Maßnahmen zur Eindämmung der seit nun mehr als drei Wochen bestehenden PHEIC stattfanden. Es wurde weder über ein Verbot von Karnevalsgroßveranstaltungen, noch über eine Reisebeschränkung während der Fastnachtsferien nachgedacht. Noch am 14.03.2020 – sechs Wochen nach Ausrufung der PHEIC durch die WHO und drei Tage nach Ausrufung der Pandemie  – wurde vom Gesundheitsminister geäußert, dass keine weiteren Einschränkungen in Deutschland geplant seien. Nur 3 Tage später begannen die Ausgangsbeschränkungen und der Lockdown in Deutschland.

Aus alledem lässt sich vernünftigerweise einzig der Schluss ziehen, dass sowohl das die Bundesregierung beratende Robert-Koch-Institut als auch insbesondere das Bundesgesundheitsministerium selbst die Gefahrenpotentiale der Covid-19-Pandemie noch weit über den Zeitpunkt der PHEIC-Deklaration in nicht zu verantwortender Weise unterschätzt haben. In Zusammenschau mit den zuvor pflichtwidrig unterlassenen Vorbereitungsarbeiten für eine mögliche Pandemie wurde damit vorwerfbar eine substantielle und massiv schadenauslösende Verzögerung notwendiger Maßnahmen verursacht.

Die möglichen Auswirkungen einer solchen zeitlichen Verzögerung werden in der Bundestagsdrucksache 17/12051 eindrücklich beschrieben. Jeder, der die Drucksache gelesen hatte – also: pflichtgemäß mindestens jeder zuständige Bedienstete des BMG – musste diese Konsequenzen lange vor Ausbruch der „Corona-Krise“ kennen. Die erst spät ergriffenen Maßnahmen haben somit auch absehbar dazu beitragen, dass die Auswirkungen eines verlängerten Lockdown die wirtschaftliche Situation in Deutschland extrem verschlimmern mussten.

Informationspolitik und Kommunikation

Bei allem hat zusätzlich die Informationspolitik des Bundesgesundheitsministeriums zu einer  Verunsicherung der Bevölkerung beigetragen und ebenfalls sowohl zur Verzögerung notwendiger Maßnahmen als auch deren konsequenter Befolgung geführt. Das Robert-Koch-Institut hatte erst mit großer zeitlicher Verzögerung die Anpassung des Risiko-Niveaus vorgenommen. Bis zum 25.02.2020 schätzte man das Risiko der Pandemie als mäßig ein. Diese Einschätzung wurde erst zum 30. März 2020 auf „hoch“ korrigiert (d.h. drei Wochen nach Ausrufung der Pandemie durch die WHO).

Die Kommunikation bezüglich der zu ergreifenden Hygienemaßnahmen war weithin unverständlich und perplex. Exemplarisch dafür dürfen die Äußerungen zum Nutzen von sog. Community- und Mund-Nasen-Schutz-Masken (MNS) gelten. Wissenschaftliche Untersuchungen zum Nutzen von MNS lagen lange Zeit nicht vor, wie dies im Abschlussbericht von Lükex 07 eindringlich vorgetragen wurde..

Mit einer stringenten Kommunikation wäre die Verunsicherung der Bevölkerung weitaus geringer gewesen und die Akzeptanz von Hygienemaßnahmen hätte erhöht werden können. Auch Auswüchse wie Hamsterkäufe hätten potentiell eigedämmt werden können. Bereits in Lükex 2007 wurde auf die Notwendigkeit einer guten, stringenten und eindeutigen Öffentlichkeitsarbeit explizit hingewiesen. Ebenso wurde bereits in diesem Abschlussbericht explizit von dem Bundesgesundheitsministerium gefordert, den Nutzen von Mund-Nasen-Schutzmasken wissenschaftlich zu eruieren und entsprechende Empfehlungen bei den Hygienemaßnahmen zu ergänzen. Nichts dahin geschah.

Erlass des Infektionsschutzgesetzes

Am 25.03.2020 wurde auf Vorschlag des Bundesgesundheitsministeriums durch das „Gesetz zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite“ unter anderem  das Infektionsschutzgesetz grundlegend verändert. Sowohl die parlamentarische als auch die föderale Kontrolle wurden mit diesem Gesetzentwurf geschwächt und dem Bundesgesundheitsminister weitreichende Befugnisse, zumindest in der Zeit bis zum 31. März 2021, zugebilligt. Dies steht in diametralem Gegensatz zu den Empfehlungen aus Lükex 2007, die explizit eine Verbesserung der Information der parlamentarischen Struktur und deren Einbeziehung empfiehlt.

Diese sämtlichen objektiv belegten (und weiter belegbaren) Hergänge sind dem Minister und seiner Organisation auch subjektiv vorwerfbar; sie hätten es seit fast 25 Jahren ohne weiteres pflichtgemäß bei gehöriger Sorgfalt besser wissen können und entsprechend anders handeln müssen.

Würde das BMG sich dieses ihm hindernisfrei zugängliche Wissen in seiner Organisationsstruktur aktualisiert und präsent gemacht haben, dann hätte es allerspätestens Ende Februar 2020 entsprechende Maßnahmen veranlassen können. Dies hätte mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit zu einer Verkürzung des allgemeinen Lockdown und zu milderen Maßnahmen im Sinne geringer belastender Eingriffe in Grundrechte und wirtschaftliche Abläufe beigetragen.

Ergebnis: Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass das Bundesgesundheitsministerium, insbesondere die Abteilungen Z, Teile der Abteilung 6 sowie die Referate L3 und L6 sowie der Bundesgesundheitsminister selbst es versäumt haben, sich auf die drohende und derzeit stattfindende Pandemie adäquat vorzubereiten. Das Management der vorhandenen Wissensquellen wurde vernachlässigt, die notwendige Entscheidungsgrundlage somit vermeidbar geschmälert und daher inadäquat agiert. Daraus resultierten vermeidbare und vorwerfbare Versäumnisse, die zu einer Gefährdung des medizinischen Personals, der Aufrechterhaltung der Organisationsstrukturen im Gesundheitswesen und damit auch der betroffenen Patienten und indirekt auch der gesamten Bevölkerung beigetragen haben.

Wir ersuchen um Überprüfung der dargestellten Sachverhalte, um eine anschließend adäquate Verbesserung und Änderung der Verwaltungsprozesse gemäß den Erkenntnissen aus den angeführten Quellen sowie um Klärung, ob die tätig gewordenen Verantwortlichen ungeachtet ihrer fatalen Fehlleistungen noch die Gewähr dafür bieten, ihre Tätigkeiten an bisheriger Stelle weiter erfüllen zu können.

Mit freundlichen Grüßen

Dr. med. Ilka M. Enger, Dr. med. Steffen Grüner, Annette Apel, Dr. med. Christian Kegel, Bernhard Salomon

Quellen:

Influenza Pandemic Plan; Leitfaden der WHO  (1999), Nationaler Pandemieplan Teil 1 aus dem Jahr 2005, aktualisiert im Jahr 2017, Teil 2aktualisiert 2016, Drucksache 17/12051 des Deutschen Bundestages, Anhang 4 „Pandemie durch Virus „Modi-Sars“ 10.12.2012, Auswertungsbericht der dritten länderübergreifenden Krisenmanagementübung „Lükex 2007“, Annual report on global preparedness for health emergencies des Global Preparedness Monitoring Board der Weltgesundheitsorganisation (WHO), September 2019

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Jakob Mendel / 08.05.2020

Tja, wenn die politische Klasse dieses Landes von 5. Februar bis zum 6. März damit beschäftigt war, Thomas Kemmerich, den gemäß der Landesverfassung gewählten und – man vergleiche seine Rede unmittelbar nach der Wahl – zweifelsfrei demokratischen und der AfD keineswegs zugetanen Ministerpräsidenten des Freistaats Thüringen in die politische Wüste zu schicken, bleibt leider keine Zeit mehr für die in diesem Brief angeführten Petitessen. Man muß halt Prioritäten setzen …

U.L.Kramer / 07.05.2020

Unterm Strich hat man bei der Corona-Krise genauso agiert wie bei der Migrationskrise. Ich höre noch wie es hieß, ein Virus lasse sich nicht durch Grenzen aufhalten. Wochenlang hieß es, es sei alles halb so wild, Grippe sei viel gefährlicher. Wochenlang hieß es, Masken würden nichts bringen, weil sie einen nicht schützen, sondern nur die Anderen. Ja, wer sein Gehirn eingeschaltet hat, hat sich sagen müssen: wenn JEDER eine Maske trägt und damit JEDER den ANDEREN schützt, dann ist doch JEDER geschützt. In China tragen sie die Masken in der Erkältungszeit auch nicht um sich zu schützen, die Leute sind schon krank, sondern um die Anderen nicht anzustecken. Um das zu wissen muss man nicht Minister sein oder Arzt. Das hätte auch ein Bankkaufmann wissen können, sofern er Allgemeinbildung hat. Ich habe bei einem Apothekenbesuch in 2/2020 schon ein paar Masken gekauft. Damals las man schon in den Kommentarspalten der alternativen Medien, dass die Masken in den Großstädten ausverkauft seien. Kommentar einer in der Apotheke zufällig anwesenden Bekannten: Willst Du nach China fahren? Nein, wollte ich nicht, aber ich ahnte schon, dass wir nicht verschont bleiben. Wochenlang waren die Grenzen offen, für Jeden und auch für das Virus. Man kann ja Grenzen nicht schützen. Genau wie bei der Masseneinwanderung: Grenze offen, und nun grenzen wir uns im Kleinen ab. Karneval absagen? Kann man den Bürgern angeblich nicht vermitteln. Ach ja? In den 90ern zu Zeiten des Golfkrieges wurde nicht danach gefragt, sondern Karneval einfach verboten, m.E. grundlos. Und man war ja auch noch mit der Wahl des CDU-Vorsitzenden beschäftigt, da hatte Spahn ja auch Aktien drin, da hatte man keine Zeit. Und dann brüstet sich das Auswärtige Amt bei Twitter damit, der Polizei von Palästina Masken besorgt zu haben, wo hier noch Mangel herrschte. Nach Shitstorm hieß es dann: die seien ja dort hergestellt worden. Aber wir werden sie wohl bezahlt haben, warum sollte man sich sonst damit brüsten?

S. Marek / 07.05.2020

Endlich kommt eine richtige Lagebeurteilung vom entsprechendem Fachpersonal, Ärzte, zur Wort. Hoffentlich zeigt diese auch Wirkung. Im gleichen Sinne an @ Karla Kuhn. MfG S. Marek

Karla Kuhn / 07.05.2020

Dov Nesher,  “Der Hausärzteverband scheint diesen Verein jedenfalls nicht all zu sehr zu mögen”  WAS bitteschön hat der Hausärzteverband mit diesem BRISANTEN Brief zu tun ? Hier wird das Versagen von SPAHN u. anderen GENAU aufgelistet!  Da es unabhängige Ärzte sind werden sie wahrscheinlich auch den einen oder anderen Arzt auf die Finger schauen, was natürlich nicht gewünscht ist. Ich finde diese IG Med, gut, sie hat bereits eine PETITION für den RÜCKTRITT Spahns gestartet.  Der Mann ist unfähig und alles was in dem Brief steht hat sein Richtigkeit ! Das gesamte Versagen kostet den STEUERZAHLER- nicht den Staat, denn der hat kein Geld- Milliarden. Dieser Brief war längst überfällig und das ganze Zahlenwirrwarr scheint doch nur dazu zu dienen, den Menschen Sand in die Augen zu streuen. Denn WIR wissen gar nichts genaues, die es wissen verheimlichen es uns wahrscheinlich.  Gestorben wird weltweit bei jeder Grippe. Solange nicht obduziert wird, dürften gar keine Meldungen gestreut werden. Wahrscheinlich dient eh alles nur dazu, das Volk unter der “Knute” zu halten und ANGST scheint für die meisten Menschen ein wunderbares Instrument dafür zu sein. NUR LEIDER werden die Aufmüpfigen immer mehr und Merkel fängt an, sich wie ein kleines Kind zu benehmen, dem man den den Diddi weggenommen hat. Daß sie noch nicht gesagt hat, “es ist nicht mehr mein Land” wundert mich.

J.G.R. Benthien / 07.05.2020

Ob Herr Dr. Braun überhaupt in der Lage ist, den Brief zu verstehen? Ich habe da grosse Zweifel. Selbst wenn er es könnte: Es wird ihn nicht interessieren, denn es gibt in diesem Bananenland leider keine Haftung für Politiker.

Christian Feider / 07.05.2020

so,und nun das gesamte sehr gut dokumentierte Versagen bitte direkt and den Generalbundesanwalt mit förmlicher Klage-einreichung sowie mit gleichzeitiger Schadensersatzforderungsklage einreichen. MERKEL und Ihr Gesockse müssen einfach weg,die sind gemeingefährlich

Thomas Wentingmann / 07.05.2020

Die Hauptverantwortung wird hier dem Bundesgesundheitsministerium/BM Spahn zugeschoben.  Hat dieser auf Weisung der Bundeskanzlering gehandelt ? Nachdem im Bundesgesundheitsministerium die Sache richtig erkannt wurde, dann der BKin vorgetragen wurde und diese dann (“Maß und Mitte” waren ihre Worte) die Sache abblasen lassen wollte. Weil es schwierig geworden wäre, die Medien angesichts Karneval, laufender Fußball-Bundesliga usw. von einem Lockdown zu überzeugen.  Und deswegen muss nun Spahn herhalten.

Marc Blenk / 07.05.2020

Ein vernichtendes Urteil über ein Dilettantentum der Sonderklasse. Und dann hat dieser Minister noch die Chuzpe, sinnvolle föderale Strukturen auszuhebeln. Wohl damit das Totalversagen möglichst zentral ist. Spahn muss zurücktreten wie Merkel. Es handelt sich um Staatsversagen.

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