Die 700.000 bis 800.000 jungen Menschen, die künftig jährlich in die Erwerbsfähigkeit einrücken, haben im Unterschied zu den jährlich 1,4 Millionen Älteren, die sie ablösen, durchschnittlich eine schlechtere Bildungsleistung und kognitive Kompetenz. Was ist zu tun?
Der deutsche Blick auf wirtschaftlichen Wohlstand ist tief geprägt von der Erfahrung der Nachkriegszeit mit einer als spektakulär empfundenen, mehr oder weniger die ganze westdeutsche Bevölkerung umfassenden massenhaften Wohlstandsentwicklung. Ich nehme dazu als Einstieg mein eigenes kindliches Erleben.
- Zu Weihnachten 1947, ich war zwei Jahre und acht Monate alt, bekam ich vom Christkind einen Spielzeugbollerwagen. Mein Onkel hatte ihn aus alten Brettern gebastelt, er hatte vier gesägte Scheibenräder, die mit Holzsplinten auf der Achse gehalten wurden. Ich war selig, so etwas Tolles hatte ich noch nie gesehen. Natürlich hatte ich keine Ahnung, dass es in den Läden nichts zu kaufen gab.
- Im Juni 1948 brachte meine Tante meine kleine Schwester und mich in der Straßenbahn Linie 18, die damals das ganze Ruhrgebiet durchquerte, aus Recklinghausen in die neue Wohnung meiner Eltern nach Bochum-Langendreer. Aus dem unbekannten Treppenhaus schaute ich auf den angrenzenden Friedhof und dachte intensiv über das Wort nach, das ich drei Stunden lang nahezu ununterbrochen in der Straßenbahn aus allen Richtungen gehört hatte: Währungsreform. Ich konnte mir darunter absolut nichts vorstellen. Die Straßenbahnfahrt fand offenbar am 20. oder 21. Juni statt.
- Einige Wochen später suchten meine Eltern hektisch nach einem Umschlag, der anscheinend unter die alten Zeitungen geraten war, die zum Anfeuern des Ofens benutzt wurden. Die Suche war vergeblich: Eine Familientragödie, denn der Umschlag enthielt das Monatsgehalt meines Vaters als Assistenzarzt am Knappschaftskrankenhaus Bochum-Langendreer. Im Nachlass meines Vaters fand ich eine Lohnbescheinigung der Ruhrknappschaft vom Januar 1949. Das Bruttogehalt betrug 547,60 DM, 59 DM Lohnsteuer wurden abgezogen. 488,60 DM wurden ausgezahlt, nach heutiger Kaufkraft 1.420 Euro. Davon gingen noch die Ausgaben für Miete, Strom und Heizung (Briketts in Öfen) ab.
- Über Renten- und Krankenversicherung findet sich auf der Lohnbescheinigung nichts. Die Beiträge dazu waren offenbar aus dem Nettogehalt gesondert zu entrichten. Insgesamt war dies also vier Jahre nach dem Krieg für die vierköpfige Arztfamilie ein Gehalt weit unter dem heutigen Hartz-IV-Regelsatz.
Der „blaue Himmel über der Ruhr“
Gleichwohl konnte meine Familie sechs Jahre später in Recklinghausen ein geräumiges Einfamilienhaus für die mittlerweile auf sieben Köpfe (einschließlich Oma) angewachsene Familie bauen. Ein unerhört günstiges Erbpachtgrundstück (Erbpacht 113 DM jährlich für 937 Quadratmeter) und ein zinsgünstiges nachrangiges Arbeitgeberdarlehen der Ruhrknappschaft machten es meinen Eltern möglich, fast ohne Eigenkapital zu bauen. Das wenige Eigenkapital bestand aus einigen ererbten Vorkriegsaktien von Daimler-Benz, die in den frühen Fünfzigerjahren wieder an Wert gewonnen hatten.
Der Hausbau kostete 1954/55 etwa 85.000 DM, in heutiger Kaufkraft entspricht dies 240.000 Euro. Um uns herum siedelten sich mehrere Studienräte meines Gymnasiums und zahlreiche Bergwerksdirektoren an. Es war eine demokratische Gesellschaft. Die Luft enthielt trotz der günstigen Lage im Norden der Stadt viel Kohlenstaub. Der „blaue Himmel über der Ruhr“ war nichts als eine ferne Utopie. Wenn meine Mutter im Garten den Kaffeetisch eindeckte, wurden die Tassen umgedreht, damit sie nicht bis zum Eintreffen des Besuchs von innen schwarz besprenkelt wurden.
Das Bruttogehalt meines Vaters als leitender Medizinaldirektor der Ruhrknappschaft betrug 1957 genau 1.781 DM. Nach Abzug der Lohnsteuer entsprach das einem Nettoeinkommen in heutiger Kaufkraft von rund 3.400 Euro. Also mehr als doppelt so viel wie 1949, aber weit unter dem heutigen Bürgergeld für einen siebenköpfigen Haushalt. Als Familie sahen wir in diesen Jahren zwar nie ein Restaurant von innen. Aber 1958 wurde ein gebrauchter Opel Rekord angeschafft, und im Sommer ging es im gebrauchten Opel mit den beiden ältesten Kindern auf der Rückbank erstmals zum Familienurlaub an die Ostsee.
Die Dinge können einem gehörig um die Ohren fliegen
Der ungeheure, geradezu raketengleiche materielle Aufstieg ist eine Grunderfahrung meiner frühen Jahre. Und sie wurde in der einen oder anderen Form von der gesamten westdeutschen Bevölkerung geteilt. Das ist lange vorbei. Schaue ich in die aktuelle Bundesbesoldungstabelle, so würde meine Eingangsbesoldung mit A13 als Regierungsrat z.A. im Bundesfinanzministerium heute netto und real deutlich weniger wert sein als im Jahr 1975, dem Jahr meines Eintritts ins Ministerium. Materieller Aufstieg ist heute nur noch individuell, nicht mehr im Kollektiv möglich, das verändert die Gesellschaft.
Der Sachverständigenrat für gesamtwirtschaftliche Entwicklung formulierte in seinem Jahresgutachten 2023/24: „Durch die demografische Alterung wird das inländische Arbeitsvolumen sinken. Gleichzeitig sind das Produktivitätswachstum und das Wachstum des Kapitalstocks im Vergleich zu anderen europäischen Ländern seit Jahrzehnten rückläufig. Deutschland droht eine Alterung, nicht nur seiner Bevölkerung, sondern auch seiner industriellen Basis. Um das Wachstumspotenzial zu stärken, gilt es, beiden Entwicklungen entgegenzuwirken, durch verbesserte Erwerbsanreize, Reformen der Zuwanderungspolitik, sowie Innovations- und Investitionstätigkeit, um die Wirtschaft zu modernisieren und das Produktivitätswachstum zu steigern.“ (1)
Das ist leichter gesagt als getan. Die Unzufriedenheit oder Zufriedenheit von Menschen macht sich nicht nur am Niveau, sondern mehr noch an erfahrenen und gefühlten Veränderungen fest. Das ist die Grunderfahrung in der gesamten Haushalts- und Finanzpolitik. Wenn man hier ungeschickt und sachlich angreifbar verfährt, so können einem die Dinge gehörig um die Ohren fliegen. Das zeigte sich 2023 in Frankreich bei der politisch missratenen Rentenreform und in Deutschland beim sachlich und politisch missratenen Gebäudeenergieeinsparungsgesetz (GEG).
Die relative Belastung wird immer größer
Nachfolgend nenne ich einige Trends, die auf lange Sicht mindestens eine Stagnation der durchschnittlichen materiellen Lebensverhältnisse wahrscheinlich machen:
- Der wichtigste Trend ist die Entwicklung der Arbeitsproduktivität, gemessen als reales BIP je durchschnittliche geleistete Arbeitsstunde. Noch Anfang der Siebzigerjahre nahm die Arbeitsproduktivität durchschnittlich um fünf Prozent im Jahr zu, in den Neunzigerjahren waren es noch 1,8 Prozent, und im Zehnjahreszeitraum 2010 bis 2022 lag der jahresdurchschnittliche Produktivitätszuwachs nur noch bei 0,8 Prozent. (2) Bei der Produktivitätsentwicklung herrscht also nahezu Stagnation. Die Zahl der gesamtwirtschaftlich geleisteten Arbeitsstunden lag 2022 mit rund 61,1 Milliarden Arbeitsstunden leicht über dem Niveau des Jahres 1991. Dahinter verbergen sich starke strukturelle Verschiebungen: Bei Landwirtschaft, Industrie, Handwerk, Handel und Banken nahm die Zahl der Arbeitsstunden um 8,2 Milliarden ab. Bei Information und Kommunikation, Unternehmensdienstleistungen, öffentlichen Dienstleistungen, Erziehung und Gesundheit nahm die Zahl der geleisteten Arbeitsstunden um 9,3 Milliarden zu (…).
- Der zweitwichtigste Trend ist die Veränderung der Arbeitszeit. Zwar sind gegenwärtig in Deutschland mit rund 46 Millionen so viele Menschen erwerbstätig wie nie zuvor, aber die Zahl der durchschnittlich geleisteten Arbeitsstunden sank von 2.500 im Jahr 1950 über 1.554 im Jahr 1991 auf gegenwärtig 1.340 im Jahr 2020 (…). (3) Bei sechs Wochen Jahresurlaub entspricht dies einer durchschnittlichen wöchentlichen Arbeitszeit von 30 Stunden. In den USA arbeitete man 2020 durchschnittlich 1.700 Stunden, und in China 2.200 Stunden. Es ist legitim, wenn sich Deutsche mehr und mehr ihren Lebensstandard in Form von Freizeit auszahlen lassen, aber es bedeutet eben auch weniger Geld im Portemonnaie und weniger Geld für die Finanzierung der staatlichen Aufgaben.
- Der drittwichtigste Trend ist die Demografie: Die geburtenstarken Jahrgänge gehen in den nächsten zehn Jahren in Rente. Zwischen den 65-Jährigen, die in Rente gehen, und den 20-Jährigen, die die Schwelle der Erwerbsfähigkeit erreichen, klafft über die nächsten zehn Jahre eine Gesamtlücke von fünf Millionen. Diese Lücke liegt gegenwärtig schon bei jährlich 300.000 und erreicht 2028 jährlich 600.000 (…). Das gilt für alle Berufsgruppen, von Bauhandwerkern über Steuerberater bis hin zu Pflegekräften. Diese Situation gleitet seit 50 Jahren wie ein Eisberg auf uns zu. Wir hatten uns schon dazu als junge Beamte 1975 im Bundesfinanzministerium die Köpfe heiß geredet. Aber die Politik blieb schon vor einem halben Jahrhundert hinsichtlich demografischer Entwicklung grundsätzlich passiv, und so ist es bis heute geblieben.
- Deutschland braucht deshalb jede arbeitssparende Rationalisierung, die nur möglich ist. Die 700.000 bis 800.000 jungen Menschen, die künftig jährlich in die Erwerbsfähigkeit einrücken, sind im Unterschied zu den jährlich 1,4 Millionen der Jahrgänge der Babyboomer, die sie am Arbeitsmarkt ablösen, ethnisch und kulturell weitaus diverser und haben zudem ausweislich PISA und IQB-Bildungstrend eine durchschnittlich wesentlich schlechtere Bildungsleistung und kognitive Kompetenz als die Altersjahrgänge, die sie ablösen. Wir bekommen also gleichzeitig ein quantitatives und ein qualitatives Problem.
- Trotz der nominalen Bildungsexpansion – statt 5,5 Prozent eines Jahrgangs wie Anfang der Sechzigerjahre, machen heute 40 Prozent Abitur – sinkt die Zahl der MINT-Abschlüsse an deutschen Hochschulen. Vielen Studienanfängern fehlt es an den nötigen mathematischen Grundkenntnissen. Das beginnt bereits beim Stoff des 6. und 7. Schuljahres – Bruchrechnung und Umgang mit einfachen Gleichungen –, und so geben sie bald auf.
- Die Politik möchte die Problematik durch mehr Arbeitskräfteeinwanderung entschärfen. Dazu fehlen ihr aber die richtigen Auswahlinstrumente. Die Millionen Syrer, Afghanen und Afrikaner, die in den letzten Jahren im Wesentlichen als Asylbewerber zu uns kamen, bringen individuell teilweise sicherlich ein großes Kapital an Tüchtigkeit und Einsatzfreude mit. Im Durchschnitt sind sie aber gar nicht oder schlecht ausgebildet. Die Testergebnisse ihrer kognitiven Kompetenzen liegen deutlich unter dem deutschen Durchschnitt, (4) und ihre Arbeitsmarktintegration ist auch nach vielen Jahren sehr niedrig.
All das hinterlässt seine Spuren in den deutschen öffentlichen Haushalten. Trotz steigender Steuer- und Abgabequoten wird die relative Belastung für die Unterstützung der wachsenden Zahl transferabhängiger Menschen, für die staatlichen Zuschüsse an die Rentenversicherung, die Pflegeversicherung und absehbar auch an die Krankenversicherung immer größer, während die Mittel sinken, die dauerhaft für zukunftsbezogene Aufgaben zur Verfügung stehen (…) .
Dies ist ein Auszug aus Thilo Sarrazins neuestem Buch: Deutschland auf der schiefen Bahn, Verlag LMV, 328 Seiten, 26,00 €.
Dr. Thilo Sarrazin, geb.1945 in Gera, aufgewachsen in Recklinghausen. Er studierte Volkswirtschaftslehre in Bonn. Er bekleidete zahlreiche politische Ämter und war unter anderem von 2002 bis 2009 Senator für Finanzen im Land Berlin. Sein im August 2010 erschienenes Buch „Deutschland schafft sich ab“ löste eine anhaltende Diskussion aus und wurde zum meistverkauften deutschen Sachbuch seit 1945.
Quellen:
(1) Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung: Wachstumsschwäche überwinden – in die Zukunft investieren. Jahresgutachten 23/24, Wiesbaden Dezember 2023, S. 7.
(2) Die Produktivität ist hierbei definiert als das reale BIP je Erwerbstätigen- stunde. Die Zahlen für das BIP in Preisen von 2015 und für die Erwerbstätigenstunden wurden für den Zeitraum von 1991 bis 2022 am 26. Juli 2023 bei der Genesis-Datenbank des Statistischen Bundesamt abgerufen. Auf dieser Grundlage sind die im Text genannten Zahlen zur Produktivitätsentwicklung das Ergebnis eigener Berechnung.
(3) Abruf für die Zahlen von 1991 und 2022 bei der Genesis-Datenbank des Statistischen Bundesamtes am 26.Juli 2023.
(4) Das Ausbildungsniveau der Migranten ist im Durchschnitt gering. Die kognitiven Kompetenzen der seit 2015 nach Deutschland gekommenen Flüchtlinge liegen deutlich (nämlich um 1,2 Standardabweichungen) unter der deutschen Referenznorm. Besonders groß ist der Unterschied bei sprachfreien, numerischen Aufgaben. Bei textgebundenen Aufgaben besteht auch in der jeweiligen Muttersprache ein erheblicher Abstand zur deutschen Referenznorm. Die beobachteten Defizite in der kognitiven Kompetenz lassen sich also nicht durch die mangelhaften Deutschkenntnisse erklären und können auch nicht durch Sprachkurse kompensiert werden. Vgl. A. Frintrup und M. Spengler: „Berufliche Orientierung für Flüchtlinge und Migranten: psychologische Kompetenzanalyse und Berufsprofiling mit CAIDANCE-R“, in: A. Frinturp (Hrsg.): Berufliche Integration von Flüchtlingen und Migranten, Heidelberg 2017.