Günter Ederer / 20.10.2022 / 06:00 / Foto: Imago / 110 / Seite ausdrucken

Ein Besuch in Lemberg

Im ukrainischen Lemberg traf ich drei junge Männer und fünf junge Frauen. Sie alle haben entweder russische Großeltern oder gehören dem russisch-sprachigen Bevölkerungsteil an oder haben wenigstens nahe Verwandte in Russland. Jetzt aber fühlen sie sich als Ukrainer.

Wir starten in Hessen. Vor uns liegen knapp 1.300 Kilometer bis zur ukrainischen Grenze in Przemyśl, einer Stadt in Südostpolen, die den Wenigsten bekannt sein dürfte. Ebenso wie Rzeszow, knapp 100 Kilometer vor der ukrainischen Grenze, mit zirka 200.000 Einwohnern. Diese Südostecke Polens war, wenn überhaupt, in Deutschland bekannt als die Heimat von Bauarbeitern oder privat angeheuerten Pflegekräften. Die Nachfrage nach den billigen Polen war so groß, dass Ryanair Rzeszow sogar von einigen deutschen Regionalflughäfen aus bediente. Wir, das sind mein Sohn und ich, haben uns bei der Anreise nach über 1.200 Kilometern in Rzeszow eingebucht, in einem Hilton Hotel. Ein Hilton in der rückständigen, polnischen Südostecke? Das ist nicht die einzige positive Überraschung.

Diese Region galt nicht nur als arm und abgelegen, sie war immer auch hin und her gerissen zwischen Polen, Ukrainern, der österreichischen Doppelmonarchie und russischen Begierden. Przemyśl wurde von den Österreichern zur größten Festung Europas ausgebaut. Die Schlachten im 1. Weltkrieg forderten in dieser Region 600.000 Tote. Erst als sich die Mörder Hitler und Stalin Osteuropa teilten, kam die Region unter sowjetische Kontrolle. Die Kommunisten begannen sofort mit der Vernichtung der Eliten.

Südostpolen, das war für mich immer abgelegene Rückständigkeit der EU, verbunden mit hohen Wahlerfolgen der klerikal-nationalistisch polnischen Regierungspartei PiS. Umso überraschter waren wir, als wir nach 1.200 Kilometern durchgehender, mit modernster Informationstechnologie ausgestatteter Autobahn in Rzeszow ankamen. Es war schon 22 Uhr, aber selbstverständlich war das Restaurant bereit, uns noch ein warmes Essen zuzubereiten. Schließlich, so wurden wir gleich darauf aufmerksam gemacht, glänzt das Rzeszow-Hilton mit einer der 10 besten Küchen Polens.

Gemeinsame Abscheu 

Am nächsten Morgen stellten wir fest, dass wir Glück hatten, überhaupt noch ein Zimmer zu bekommen. Das Hotel war ausgebucht mit Ukrainern, darunter eine ukrainische Fußball-Frauenmannschaft, internationalen Spezialisten der Flugzeugindustrie und viele Männer mittleren Alters. Wir erfuhren, dass Rzeszow und sein Flugplatz einer der Dreh- und Angelpunkte des Waffen-Nachschubs für die Ukraine sind. Gleichzeitig unterstützen nicht nur die polnische Regierung, sondern auch die polnischen Bürger in Grenznähe massiv die Ukrainer, sowohl die Flüchtlinge wie auch die ukrainische Regierung. Von den Spannungen, die hier Jahrzehnte zwischen Polen und Ukrainern herrschten, ist nichts mehr zu spüren. Im Gegenteil: Sie empfinden eine gemeinsame Abscheu für Russen.

Das Hilton Hotel ist Teil eines nagelneuen Gebäudekomplexes mit Shopping-Mall, Autobahnzufahrten und städtebaulich ansprechenden Plätzen. Eine Bedienung erklärt uns den Zusammenhang zwischen den Erfolgen der stockkonservativen Regierungspartei PiS und dem positiven Eindruck, den die Stadt macht. Sie sagt, die Bevölkerung sieht, dass die Regierung etwas erreicht für die Menschen. Neue Autobahnen bis in die Ukraine, eine Stadtautobahn, Arbeitsplätze, Einkaufsmöglichkeiten, die Entwicklung sei fantastisch. In der Berichterstattung über den Ukrainekrieg habe ich den Namen Rzeszow noch nicht ein einziges Mal gehört.

Die Grenze

Es waren noch gut 100 Kilometer nagelneue Autobahn bis zur Grenze. Elektronische Schilderbrücken zeigten die Lufttemperatur, die Fahrbahntemperatur und die Reisezeit bis zur nächsten Ausfahrt an. Nur wenige Lastwagen und PKWs waren hier unterwegs. Das änderte sich schlagartig 12 Kilometer vor der Grenze. Auf einer Fahrspur begann die PKW-Schlange. Erst stellten wir uns hinten an und machen uns auf eine ewige Wartezeit gefasst. Nichts bewegte sich. Schließlich kam ein Ukrainer auf uns zu und machte uns in gebrochenem Englisch klar, dass nur die Ukrainer sich anstellen müssten. Wir könnten bis zur Grenze weiterfahren.

Nachdem der Einfuhrzoll für PKW in die Ukraine aufgehoben worden sei, hätten sich die Schlangen gebildet. Es dauere etwa zwei Tage, bis er endlich an der Grenze ankomme. Auch davon hatte ich noch nie etwas gehört. Berichtet wurde von Hilfsorganisationen, die die ankommenden Flüchtlinge an der Grenze versorgen. Davon war ab Juni schon nichts mehr am wichtigsten Straßenübergang zu sehen. Stau gab es bei der Einreise. Wir fuhren also an der kilometerlangen Schlage entlang. Acht Kilometer vor der Grenze begann der LKW-Stau. Etwa 36 Stunden Wartezeit dauere es, bis es ein Lastwagen mit Gütern geschafft hätte.

Unser Stau war zirka 200 Meter lang, aber es brauchte dennoch eine gute Stunde, um über die Grenze zu kommen. Es war ein Grenzübergang für Nummernschilder aus der EU. Drei polnische Grenzbeamtinnen winkten ein Auto nach dem anderen heran, sammelten die Pässe ein und verschwanden in einem Haus, wo sie zirka 5 Minuten blieben. Dann ging es weiter zum Zoll, der bei uns auf Kontrollen verzichtete. Pro Auto dauerte das etwa sieben Minuten.

Bevor ich unsere Weiterfahrt und den Aufenthalt in Lwiw (Lemberg) beschreibe, will ich erst noch die Prozedur an der Grenze bei der Ausreise schildern. Sie war ähnlich. Hauptunterschied: Statt einer schier endlosen PKW-Schlange gab es einen knapp 10 Kilometer langen LKW-Stau. Das heißt, es dauert Tage, bis ein Lastwagenfahrer an der Grenze zu Polen ankommt. In der Schlange stehen Kesselwagen, Container, Stückgutlaster. Was könnten die nicht an knappen Gütern transportieren, stünden sie hier nicht wegen bürokratischer Zollbestimmungen still. Unser Grenzübergang dauerte auch wieder knapp zwei Stunden. Es war unmöglich, vorher eine Information zu besorgen, wo es ratsam wäre, die Grenze anzufahren. Während die Ukrainer auf eine Kontrolle des Autos verzichteten, ließen die Polen jeden Kofferraum ausladen und suchten auch im Innern des Wagens sorgfältig nach Zigaretten.

Die Straße nach Lemberg (Lwiw)

Es sind keine 100 Kilometer von der polnischen Grenze nach Lemberg. Bevor der Krieg anfing, war eine Autobahn im Bau. Das hätte die Hauptstadt Galiziens noch mehr an den Westen gebunden. Die 100 Kilometer waren Abenteuer pur. Weil die eine Spur zugestellt war, kamen uns oft Lastwagen frontal entgegen, so dass nur die Flucht auf den unbefestigten Seitenstreifen blieb. Nach etwa 30 Kilometern nahm dann der Verkehr rapide ab. Dafür passierten wir viele militärische Checkpoints.

Jede Brücke war mit Sandsäcken, Befestigungsanlagen und natürlich mit bewaffneten Soldaten gesichert. So wurden wir ständig daran erinnert, dass wir uns in einem Land im Krieg befanden. Die brutale Realität erlebten wir, als wir kurz anhalten mussten, weil ein Trauerzug die Straße zum Friedhof überquerte. Eine soldatische Ehrengarde, gefolgt von den engen Verwandten, angeführt von einer alten Frau – wahrscheinlich die Mutter – trug den Sarg mit dem Bild des getöteten Soldaten zum Grab.

Da die Straße durch Ortschaften führte, sahen wir noch mehrere frische Gräber mit blaugelben ukrainischen Farben und den Fahnen der Einheit, zu der der Soldat gehörte. Es bleibt kein Zweifel: Dieser Krieg hat sich bis ins kleinste Dorf der Ukraine gefressen. Diese Soldaten sterben, weil sie nicht unter die russische Knute wollen und sterben nicht, weil die NATO Russland bedroht.

Lemberg (Lviv, Lwow)

Wäre kein Krieg, würde ich jetzt die Leser auffordern: Fahrt nach Lemberg, diese Stadt ist eine Reise wert. Mein Beruf als TV-Korrespondent und Journalist hat mich in alle schönen und wichtigen Städte der Welt und vor allem Europas geführt. Es fällt mir schwer, da eine Rangordnung aufzustellen. Vielleicht ist Lemberg am ehesten mit Prag oder Krakau zu vergleichen. In seiner wechselvollen Geschichte hatte die Stadt nie etwas mit Russland zu tun. Erst nach dem Hitler-Stalin-Pakt und erneut am Ende des Zweiten Weltkriegs verleibte sich Stalin Galizien und die Karpatenübergänge ein. Das polnische Lwów wurde zum sowjetischen Lwow. Damit verschwand es für die Westeuropäer von der Landkarte.

Das Stadtbild wird allerdings immer noch von den verschiedenen Adelshäusern geprägt, die die Hauptstadt Galiziens beherrschten. Deutsche Aristokraten und polnische Könige bestimmten Jahrhunderte die Geschicke der Stadt, die schon immer einer Völkervielfalt Heimat bot. In der österreichisch-ungarischen Monarchie war Lemberg die viertgrößte Metropole, nach Wien, Budapest und Prag. Das ist immer noch im Stadtbild unübersehbar: Barocke Viertel, Renaissance, Klassizismus und Jugendstil prägen das Stadtbild, das von der UNESCO zum Weltkulturerbe ernannt wurde. Warum ich dies so ausführlich schreibe: Mitte Oktober sind die ersten russischen Raketen in Lemberg eingeschlagen. Das Lemberg, das wir im Sommer besuchten, wird es vielleicht bald nicht mehr geben.

Das erste Mal, dass ich mich bewusst mit Lemberg beschäftigte, war in Breslau. Dort gibt es ein Lokal mit Fotos des Vorkriegs-Lemberg. Darunter die Universität, die älteste Polens. Alle Speisen auf der Karte haben die Bezeichnung der Vorkriegszeit. Die Lösung des Rätsels. Als Stalin Galizien 1945 seinem Reich erneut einverleibte, wurde die polnische Bevölkerung nach Breslau umgesiedelt, das von den Deutschen geräumt worden war. So lebt jetzt in Breslau die alte deutsche Universität und die Lemberger Universität in einer neuen polnischen Universität weiter. Es liegt jetzt an der aktuellen polnischen Regierung, daraus ein neues europäisches Institut zu formen.

Diese Geschichte widerspricht dem Größenwahnsinnigen im Kreml, dass es eine Rechtfertigung gibt, Russen vor der Ukraine zu schützen. Die Regionen, die Stalin geraubt hat, waren nie von Russen besiedelt. In Lemberg lebten in der Habsburger Doppelmonarchie 40 Prozent Polen, 45 Prozent Ukrainer, 10 Prozent Deutsche und Armenier. Nach Religionszugehörigkeit waren 46 Prozent Katholiken und katholische Orthodoxe, 46 Prozent Orthodoxe, 7 Prozent Juden. Diese Vielfalt an Völkern und Religionen prägt heute immer noch das Stadtbild. Seit die Sowjetkommunisten die Macht verloren haben, putzen die verschiedenen Religionen ihre Kirchen wieder heraus, die zu Sowjetzeiten als Lager missbraucht worden waren.

Die Gesprächspartner

Der Grund der Reise ist ein Treffen mit acht EDV-Spezialisten, die für meinen Sohn arbeiten. Sie sind zwischen 22 und 36 Jahre alt und aus der ganzen Ukraine zu diesem Meeting nach Lemberg gekommen. Dafür haben sie nächtelange gefährliche Zugreisen, unter anderem von Kiew und Odessa, unternommen. Drei junge Männer und fünf junge Frauen. Sie alle haben entweder russische Großeltern oder gehören dem russisch-sprachigen Bevölkerungsteil an oder haben wenigstens nahe Verwandte in Russland. Jetzt aber fühlen sie sich als Ukrainer.

Alle acht wollen das Land nicht verlassen, die Männer dürften es auch nicht. Alle acht haben eine solide und weltweit gefragte Ausbildung: Sie sind Programmierspezialisten, von denen es in der Ukraine etwa 200.000 gibt. Sie gehören zu einer Generation, für die die westliche, freie Lebensart selbstverständlich ist. Die Älteren haben bereits ganz Europa bereist; ein touristischer oder geschäftlicher Ausflug ins europäische Ausland ist für sie genauso selbstverständlich, wie es für Deutsche in diesem Alter ist.

Putins Russland ist für sie keine Perspektive. Sie sind genau das, was Putin fürchtet: Bewohner einer erfolgreichen, sich nach westlicher Freiheit sehnenden Ukraine. Die Perspektive, dass die Ukraine einen wirtschaftlich und gesellschaftspolitisch erfolgreichen Staat bilden würde, in dem korrupte Oligarchen und militärische Räuberhauptmänner wie Ramsan Kadyrow und Wiktorowitsch Prigoschin nichts zu sagen hätten, wäre für Putins System eine tödliche Gefahr. Dann könnten ja die Russen auf die Idee verfallen, auch so leben zu wollen, wie die Ukrainer. Um die Faszination des Selbstbestimmungsrechts des Menschen geht es in diesem Krieg und um die Angst eines Mannes, der sein ganzes Leben gegen diese Faszination angekämpft hat, weil er sonst auf der Müllhalde bei den historischen Verbrechern endet, wie sein Vorbild Stalin und der egomanische Zerstörer Hitler.

Portraits von Gefallenen und Bombenopfern

Mit diesen jungen Ukrainern ein paar Tage in Lemberg zu verbringen, ließ den Respekt von deren Klarheit und Bestimmtheit täglich wachsen. Sie redeten nicht über Freunde, die den Raketen- und Bombenangriffen schon zum Opfer gefallen sind, den Vater, der bereits 2016 im Krieg im Donbass gestorben ist, oder die Eltern, die im besetzten Melitopol ausharren. Sie erwähnten nur beiläufig russische Verwandte, zu denen der Kontakt abgerissen ist.

Einer stammt aus Odessa, ein ehemaliger Fluglotse. Er war im Lotsendienst, als die Malaysia Air Maschine 2014 von russischen Kriegern abgeschossen wurde, hat die Tragödie live miterlebt. Alle Bekannte und Freunde, die er in Odessa kennt, haben ihre Autos vollgetankt, um bei Bedarf schnell nach Moldawien fliehen zu können. Als wir die wunderschöne, barocke Klosterkirche der Dominikaner besichtigten, wurden wir gebeten, nicht mehr herumzulaufen.

Soldaten bildeten in und vor der Kirche Spalier. Eine der fast täglichen Trauerfeiern für einen gefallenen Soldaten ließ die Menschen in und vor dem Gotteshaus innehalten. Wieder, so wie wir es unterwegs schon erlebt hatten, folgten dem Sarg eine ältere und eine jüngere Frau, wahrscheinlich Mutter und Ehefrau, gefolgt von Kindern und Anverwandten. In der Kirche selbst war das gesamte Seitenschiff mit postkartengroßen Portraits von Gefallenen und Bombenopfern vollgestellt.

Luftalarm

Wenige Minuten nachdem die Prozession an uns vorübergezogen war, zerrissen die Sirenen die Stille. Luftalarm. Zirka dreimal ertönte er und machte deutlich: Es herrscht Krieg. Nach den Sirenen dann die Ansage über Lautsprecher, die Aufforderung, sich in Luftschutz-Sicherheitsräume zu begeben. Die ukrainische Regierung wusste nur, dass Raketen im Anflug waren. Sie wusste nicht, wo sie einschlagen würden. Entsprechend oft ertönten die bis ins Mark jaulenden Sirenen, und trotzdem ging das Leben ziemlich ungestört weiter. Die Restaurants und Cafés stellten allerdings die Bewirtung ein. Nach zirka zwei Stunden dann der bange Blick des überwältigenden Teils der Menschen auf das Handy. Es wurde bekannt gegeben, wo die Raketen eingeschlagen waren. In einem Falle war eine unserer Begleiterinnen insofern involviert, alsdass ihre Heimatstadt Kramatorsk getroffen worden war. Sie rief sofort zu Hause an und erhielt die beruhigende Nachricht, dass Familie und Freunde gesund waren.

Jeden Tag Luftalarm, jeden Tag die Gefahr, dass sie selbst oder jemand von der Familie oder aus dem Freundeskreis getötet wird. Sie haben keine Chance, für die Zukunft zu planen. Ich versuchte in Gesprächen herauszufinden, was das mit diesen jungen Menschen macht. Zusammengefasst lautet das Fazit: Die Wut auf Putin und sein Regime wächst mit jedem Tag, und im Übrigen genießen sie jeden Tag und jede Minute, die der Krieg für sie Pause macht. Sie versuchen sich so gut wie es geht auf ihre Arbeit zu konzentrieren, nicht nur, weil sie damit wichtiges Geld verdienen. Der Oberkommandant der ukrainischen Streitkräfte, Zalushny, hat den Ukrainern mitgeteilt, dass es die patriotische Pflicht sei, für jeden, der Arbeit hat, so viel wie möglich zu arbeiten, und so das Land am Laufen zu halten. Jeder der acht jungen Leute spendet einen erheblichen Teil seines Verdienstes an das Militär, kauft Ausrüstung und hilft in der freien Zeit beim Verpacken von Material, das an die Front geliefert wird.

Dieser Geist prägt das Stadtbild von Lemberg. Unübersehbar sind die schick herausgeputzten Scharen von attraktiven jungen Frauen, die durch die Innenstadt schlendern oder in einem der vielen Cafés und Restaurants im Freien sitzen. Olga erklärt mir: Indem wir zeigen, dass wir Wert auf unser Äußeres legen, zeigen wir auch, dass uns Putin nicht einschüchtern kann. Trotz Luftalarm, trotz der vielen zivilen und soldatischen Opfer –, die Ukrainer, mit denen wir zusammentrafen, haben weniger Angst vor Putin als die Stammtischstrategen und Pseudointellektuellen in Deutschland.

Die Ukraine

Als 2004 die Orange Revolution die Ukraine auf die Titelseiten der Weltpresse katapultierte, nahmen nicht nur die Masse der westlichen Bevölkerung, sondern auch die meisten Politiker aller Parteien zum ersten Mal wahr, dass dieser Teil des Sowjetimperiums ein eigener Staat ist. Die Ukraine hatte keine Lobby. Die Widersacher, um die es bei dem Aufstand ging, waren unbekannt, hatten ähnliche Namen, hießen Juschtschenko und Janukowytsch, galten als korrupt und inkompetent. Einzig die blonde Timoschenko wurde wahrgenommen, mehr aber durch ihre aufgetürmte Haartracht denn als glaubwürdige Politikerin. Ich erinnere mich an die Reaktion von Bekannten aus der Wirtschaft und der Publizistik: Ausnahmslos glaubten sie zu wissen, dass da die CIA ihre Finger im Spiel hätte.

Dieses Gerücht verstärkte sich dann 2013 bis 2014 bei dem Euromaidan-Aufstand. Klitschko, der Boxweltmeister, habe 500 Millionen Dollar von den Amerikanern erhalten, hörte ich mehrfach. Dass da eine Generation, vor allem junger Menschen, dafür kämpfte, in einer Ukraine zu leben, die westliche Freiheitsstandards erlaubt, und nicht von Moskau gegängelt wird, das sich zunehmend in eine stalinistische Diktatur verwandelt, wurde von fast keiner deutschen Partei so empfunden. Ausnahme: die Grünen. Sie luden Timothy Snyder, den Yale-Geschichtsprofessor ein, der in seinem Buch „Bloodlands“ die Tragödie der Ukraine analysiert, die wie kaum ein anderer Landstrich unter den Massenmördern Hitler und Stalin gelitten hat.

Noch heute geistert in einigen politischen Köpfen der Bundesrepublik die Vorstellung herum, die Ukraine sei kein eigener Staat und es wären die Amerikaner, die diesen Krieg am Laufen halten. Brauchen unterdrückte Völker wirklich die CIA oder andere amerikanische Dienste, um ihre Sehnsucht nach Freiheit auch in Aufständen zu manifestieren? Bei dem blutigen Euromaidan ging es für die Ukrainer darum, ob eine Eingliederung in das westliche Europa beginnt, oder eine Abhängigkeit der Kiewer Regierung von Putin eine freiheitliche Gesellschaft unmöglich macht. Die Behauptung, die Amerikaner wollten diesen Krieg, ist nicht nur eine plumpe Wiederholung Moskauer Propaganda, sondern auch eine Geringschätzung der Freiheit.

Die acht EDV-Spezialisten, die wir getroffen haben, arbeiten weiter für meinen Sohn. Für die Unterstellung, sie wären Marionetten der Amerikaner, haben sie nur Verachtung. Sie haben bis heute alle überlebt. Aber während ich das schreibe, wird mir auch bewusst, dass diese Frauen und Männer täglich mit dem Tod rechnen müssen. Sie nehmen das in Kauf, weil ihnen ein Leben in einem Staat, der von Putin, seinen Nationalisten und Ganoven beherrscht wird, noch schlimmer erscheint. Sie harren in der Ukraine aus, weil ihnen ihr Job in Euro bezahlt wird, und damit ein Überleben in ihrer Heimat für die ganze Großfamilie materiell ermöglicht.

Ob sie auch physisch überleben, hängt nicht zuletzt an den Zuwendungen, die wir – das heißt, die Staaten der freien Welt – ihnen zur Verfügung stellen: Das sind Waffen, Nahrungsmittel, Energie und medizinische Versorgung. Je nach Stimmungslage in den Talkshows entscheiden wir vor allem bei den Waffen, wie viele Menschenleben geopfert werden, weil wir diesen Krieg nicht eskalieren lassen wollen: Ist das nicht Zynismus pur?

Foto: Imago

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Arne Ausländer / 20.10.2022

@Jörg Themlitz: auf die Zahl 200.000 bei den “Programmierspezialisten” würde ich auch wenig geben, aber wohl der Wahrheit näher kommen als ihre Vergleichsländer. Freilich habe ich nur Indizien dafür. Während ich die Bulgaren, auch die netten, zu 90% auf Bild-Zeitungs-Niveau sehe, waren zufällige Gespräche in der Ukraine weit häufiger niveau- und anspruchsvoll, auch in Dörfern, als in Deutschland. Dazu schon vor Jahren Sekunden-Countdown an Ampeln auch in mittleren Städten - in Deutschland mag es das auch geben, irgendwo, aber nicht da, wo ich in den letzten Jahren vorbeikam. Und am Strand praktische Solarladegeräte für Handys, Kamera usw. Hätte ich auch gerne, eigentlich - nur woher hier? Weiteres Indiz: das technische Niveau russisch-sprachiger Seiten, also gleich ob UA oder RU. Die funktionieren schon immer i.d.R. besser als deutsche, denen “cooler” Schnick-Schnack im Layout oft die Priorität hat. - Aber all das sind nur Kleinigkeiten. Ich hatte schon vor Jahren den Eindruck, daß “die” USA nichts dagegen hätten, wenn Zar und Sultan Europa angriffen - um dann zu helfen, es kaputt zu verteidigen. Von vielen vergessen bzw. verleugnet, war die schnelle Niederlage der Ukraine nicht nur in Moskau erwartet und eingeplant. Oder warum war der Abtransport der Flüchtlinge schon in den allerersten Tagen so gut organisiert? (Um nur ein Indiz von vielen zu nennen.) Und danach wäre es um die Landverbindung nach Kaliningrad gegangen, was - anders als der Großteil der Ukraine - wirklich im russischen strategischen Interesse liegt. Aber eben (wie die Krim) auch nur für Expansionabsichten wirklich von Nutzen ist, also wiederum nur einen Schritt darstellte. Dem Amis wärs recht: das kleinteilige Europa nervt doch nur. Zum Gglück steht die Ukraine noch und man kann diesall das als dumme Phantasien abtun. Das nehme ich gern in Kauf. Lieber, als es durch reales Geschehen bestätigt zu sehen.

Rudi Knoth / 20.10.2022

@Knut Schlepp Ach die NATO hat “Russland umzingelt”? Das ist die erste Umzingelung, die nur von einer Seite Stattfindet. Wo sind denn die NATO-Länder nahe von Russland im Osten, Norden und Süden?

rei svager / 20.10.2022

hallo rolf schwarz, das wort ACHSENBRUCH ist zweifellos merkwürdig….

Arne Ausländer / 20.10.2022

@Albert Pflüger: Wie es im 2. Weltkrieg war, weiß aus eigener Erfahrung nicht. Aber ich war 1994, also noch während des Krieges in Kroatien. Und da gab es auch, abseits der eigentlichen Kampfgebiete, vorwiegend friedliche Bilder. Nur waren die historischen Fassaden in Zara mit Balken geschützt, hörte man nachts Gewehrfeuer. Und den Leuten war, wie aus Gesprächen zu entnehmen, der Ernst der Lage sehr wohl bewußt. Auch die Verlogenheit vieler Akteure. Trotzdem ging - zum Glück! - auch das ganz normale Leben weiter. Ähnliches habe ich übrigens auch aus dem 2. Weltkrieg gehört - nur, wie gesagt, habe ich dazu keine eigenen Erfahrungen. Und warum sollten es in der Ukraine - wo immer möglich, also z.B. wenn keine iranisch-russischen Drohnen fliegen - so viel anders sein, als damals in Kroatien? - @A.Gerdes: Gut, daß an Juschenkos Dioxinvergiftung erinnert wird, seine mehrtägige Entführung nicht zu vergessen. Was zeigt, daß schon 2004 Moskau UND “der Westen” mit harten Bandagen um die Macht in Kiew kämpften, wie dann auch 2013/14. Daß es also nachweislich nicht nur der böse Westen war, der sich da eingemischt hatte, sondern (mindestens) ebenso sehr auch Moskau. Womit es ja wenig als Rechtfertigung für die territoriale Übergriffigkeit Moskaus seit 2014 taugt. Und bei Annexionen fremden Landes nach 1990 sind m.W. “dem Westen” keine analogen Untaten vorzuwerfen, das bleibt russische Spezialität im 21.Jh.

Knut Wuchtig / 20.10.2022

Es gibt einen Korruptionswahrnehmungsindex, in dem Länder nach Korruption aufgelistet werden, lässt sich mit der Suchmaschine ihrer Wahl ganz schnell finden. Die Ukraine belegt da Platz 117, da tröstet es auch wenig, dass Russland noch schlechter da steht. Ich will mit beiden am liebsten nichts zu tun haben und mit der Platzierung sollte auch niemand über eine Mitgliedschaft in der EU nachdenken!

giesemann gerhard / 20.10.2022

Eine ganze Natz von Feinden der Freiheit hier. Sage wie die jungen Leute in dem Artikel: Nichts als Verachtung für euch. Keine Freiheit den Feinden der Freiheit, basta. Geht zum Putin, zum Teufel - und kommt NIE mehr zurück, hört ihr? Nie mehr. Ich will das Gesockse hier so wenig sehen wie den Moslem. Im Austausch gegen die jungen Russ*Innen, die allesamt in Freiheit leben wollen und deshalb gerne kämen - noch besser: Sie sorgen selbst dafür, dass Russland endlich ein anständiges, lebenswertes Land wird. So viele Jahrzehnte nach ihrem Mit-Sieg über die allergrößten Schlächter der Weltgeschichte. Die Ukrainer und auch wir im Westen helfen ihnen dabei. So wie weiland die USA, GB und auch FR den Sowjets geholfen hatten - damit leider den Falschen, wie sich nimmer wieder zeigt. Blöd nur, dass der Kerl da Atomwaffen hat. Nur: Wir auch. Er hat weder militärisch noch human eine Chance. Das sollen wir dem ganz human sagen - wenn er will, dann ebend auch inhuman. Er hat es in der Hand, ganz allein er, der Menschenschlächter und -schinder. Und der Westen leuchtet, auch ohne Russengas und Kleptokraten. Deshalb wollen alle da hin - leider auch die, die wir nicht wollen. Weil sie uns nur versauen wollen, erklärtermaßen. „Eines Tages werden Millionen von Menschen die südliche Halbkugel verlassen, um in die nördliche einzudringen. Sicherlich nicht als Freunde. Denn sie werden kommen, um sie zu erobern. Und sie werden sie erobern, indem sie die nördliche Halbkugel mit ihren Kindern bevölkern. Der Leib unserer Frauen wird uns den Sieg bescheren.“ ―Houari Boumedienne, algerischer Präsident bis 1978, “gutezitate.###/autor/houari-boumedienne”. Keine Angst, sie sind schon lange da. Und sie hocken immer schon auf der Nord-Kugel, oder? Wir brauchen auch die Russen, um uns diese Zumutung vom Leibe zu halten. Im Augenblick feixen die M. nur, wenn sich die Christenhunde zerfleischen. Dumm seit 1453. Spätestens. Liefern beiden Seiten “Flügbümms”. Porca miseria. Kann gar nicht so viel .... .

Norbert Brausse / 20.10.2022

Viele wollen einfach nicht begreifen, dass es hier um die Ukraine geht, die sich als Staat etabliert hat und das auch bleiben will. Nicht einmal die Fakten wollen sie akzeptieren, dass Russland täglich die Ukraine mit Artillerie beschießt, um die dortige Infrastruktur zu zerstören und dabei zivile Opfer billigend in Kauf nimmt. Und als Rechtfertigung werden zivile Opfer von Kämpfen im Donbass angeführt, die es dort nicht geben würde, wenn Putin keinen Krieg begonnen hätte. Ja, es ist ein Krieg und keine Spezialoperation zur Vertreibung von Nazis. Und die Ukrainer selbst sind stolz auf ihr Land und haben auch keinen Anteil daran, dass wir in Deutschland eine Regierung haben, die alles Deutsche verachtet. Sind es aber nicht Deutsche, die hier Firmen gegründet haben, die Ukrainern, Polen und anderen Menschen Arbeit geben? Und wenn wir Deutschen uns so weiter wie bisher verhalten und auch wählen, dann werden eines nicht so fernen Tages fähige Deutsche für fähige Polen arbeiten, jedoch lieber in einem freien Breslau als in einem herunter gekommenen Berlin leben wollen.

Sabine Schönfelder / 20.10.2022

Dr.@Jäger, jetzt bitte ein bißchen stringent in der eigenen Argumentationskette verweilen…..“ Allen diesen “Internet-Söldnern” sende ich meinen Gruss:“Fahrt heim zu Putin, fahrt in die Hölle!”  Laut Selenskyjverstehern will Putin doch die ganze Welt erobern.  Brauchen wir doch n u r abzuwarten und wir befinden uns alle auf rrrrrussischem Gebiet, nastrovje!

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