Quentin Quencher / 10.03.2016 / 16:30 / 1 / Seite ausdrucken

Ein Arzttermin. Und ein Wahltermin.

Es war ja nur ein Routinetermin beim Arzt. Ein paar Tage vorher war mir etwas Blut abgezapft worden, nun lagen die Resultate vor. Der Arzt bittet mich Platz zu nehmen, setzt sich an seinen Rechner, ruft eine Seite auf und beginnt das Gespräch, während er auf den Monitor schaut, mit den Worten: „Ah ja, Herr Quencher, wie geht es ihnen denn heute?“ Fast schien es so, als ob ich nur an meinen Werten, die er auf seinem Bildschirm ablesen konnte, erkennbar wäre. Für ihn war ich in diesem Moment eine Akte, die er zu bearbeiten hat, damit am Ende irgendwelche aus dem Urin abgeleiteten Blutwerte und der Blutdruck, und was weiß ich nicht alles, stimmt. Die Erfahrungen haben ihn gelehrt, dass es dem Patienten gut gehen muss, wenn diese Werte im grünen Bereich sind. Die Frage nach meinem Befinden war nur eine obligatorische. Doch mir ging es Scheiße an diesem Tag.

Warum genau, weiß ich nicht mehr, schon im Wartezimmer nervte mich die Sprechstundenhilfe. Immer wenn sie zu einem Patienten sprach, manchmal einfach nur als Aufforderung an Herrn XY bitte in den Behandlungsraum X zu gehen, oder zur Blutabnahme, immer dann veränderte sich die Tonlage ihrer Stimme. Etwa so wie mache Menschen zu kleinen Kindern sprechen, ein paar Oktaven höher, was wohl Nähe zum Kind ausdrücken soll. Gefehlt hat bloß noch die entsprechende Wortwahl: „Kommen sie Frau YX, wir gehen fein pipimachen.“ So hat sie es natürlich nicht gesagt, aber ihre Art mit Patienten umzugehen, die war so. Schon wegen dieser schrecklichen Sprechstundenhilfe dachte ich darüber nach, den Arzt zu wechseln.

Ok, ich war gereizt an diesem Tag. Irgendwas an mir oder mit mir war passiert und heute kann ich nur darüber spekulieren, was es war. Möglicherweise war mir mal wieder ein Fußnagel eingewachsen und ich hatte die falschen Schuhe angezogen. Wenn ich Probleme mit meinen Fußnägeln habe, so ist dies ein Stressindikator. Dabei bin ich eigentlich nicht so zimperlich, selbst beim Zahnarzt verspüre ich kaum Nervosität. Aber ein eingewachsener Fußnagel ist schlicht eine Katastrophe, weil dieser Umstand anzeigt wie es um meine Ehe bestellt ist. Nämlich schlecht, zumindest temporär.

Mein Problem mit den Fußnägeln begann, als ich merkte, dass ich eine Lesebrille brauche. Das Lesen ohne Lesebrille war schwierig geworden, das Schneiden der Nägel natürlich auch. Und wenn ich meine Fußnägel nicht regelmäßig ganz kurz schneide, dann wachsen die bei mir eben ein. Doch wenn ich im Bad bin, habe ich nur ganz selten die Lesebrille dabei, also unterlasse ich lieber die Pediküre bevor ich mich noch selbst verstümmle. Manchmal habe ich dann nach meiner Frau gerufen, sie gebeten, sie möge mir doch bitte meine Brille bringen. „Ach Quatsch“, sagte sie dann meist, „zeig deinen Fuß her, ich mache das“. Daraus hat sich so eine Art Ritus entwickelt, immer wenn ich mir Badewasser eingelassen habe - ich liebe es lange in der Badewanne zu liegen, dies ist Genuss, im Gegensatz zum duschen, was mehr wie ein Quicki ist, um etwas Notwendiges schnell zu erledigen - also immer wenn ich in Wanne stieg, kam dann kurz darauf meine Frau ins Bad, wusch mir den Rücken und prüfte, unter anderem, die Fußnägel.

Haben wir eine Ehekrise, was bei uns eben auch gelegentlich vorkommt, dann tut sie das nicht. Ich würde es auch gar nicht zulassen. In der Folge wachsen mir die Fußnägel ein. Sie werden zum Indikator, welcher erstens aussagt, dass meine Augen nicht mehr so gut sind wie früher, und zweitens, ob sich meine Ehe gerade in einer Krise befindet. Ein oberflächlicher Betrachter wird zu dem Schluss kommen, weil mir die Fußnägel eingewachsen sind, habe ich Schmerzen und bin deshalb so gereizt. Dabei stören mich die Schmerzen viel weniger, es ist mehr das durch die Ehekrise hervorgerufene seelische Ungleichgewicht, das mich so gereizt werden lässt.

Indikatoren muss man eben lesen können. Ohne zusätzliche Infos geht das oft nicht. Ich hatte nicht den Eindruck, dass mein Arzt, als er sich nach meinen Befinden erkundigte, ohne mich anzusehen, und auf den Monitor blickend, wirklich an derartigen Infos interessiert war. Es war eine reine Höflichkeitsfloskel. Für ihn schien alles OK, die Diabetes gut eingestellt, Blutdruck und Puls ebenfalls im grünen Bereich. Dem Patienten muss es also gut gehen. Doch dem, also mir, ging es überhaupt nicht gut. An den Werten die er da auf seinem Bildschirm sah, konnte er es nicht erkennen, er hätte sich meine Fußnägel anschauen, und die Geschichte dazu anhören müssen.

Glücklicherweise kann ich wählen. Was ich auch tat und mir einen anderen Arzt suchte. Beim neuen Doc schaute ich mir zuerst die Sprechstundenhilfe an, ob die auch ihre Patienten wie kleine Kinder anspricht, und dann, gewissermaßen als Warnung, erzählte ich dem neuen Arzt, warum ich die Praxis gewechselt habe. Das ist jetzt schon eine ganze Weile her, und ich kann mich nicht erinnern, dass der neue Arzt ein einziges mal auf den Monitor schaute und gleichzeitig mit mir sprach.

Diese kleine Arztgeschichte kommt immer dann in den Sinn, wenn ich in Nachrichten von Zahlen, Indikatoren und dergleichen höre. Umfrageergebnisse, Ifo-Index, XY-Index, Daxkurve, Arbeitslosenquote, Verschuldungsquote, Bevölkerungspyramide, Außenhandelsüberschuß und und und. Wie in einen Bann geschlagen hocken Politik und Medien vor dem Monitor und studieren diese Zahlen, um herauszufinden, ob es der Bevölkerung gut geht oder welche Werte eine Gefahr darstellen könnten.

Jede neue Umfrage, irgendwelche Studien von irgendwelchen Instituten, werden als Gradmesser für den Gesundheitszustand herangezogen, um dann, je nachdem welche Medizin verkauft werden soll, der Bevölkerung Pillen und Zuckerli zu verteilen. Entscheidungen nach Aktenlage könnte es genannt werden. Stück für Stück werden diese Zahlen zum Ersatz für die Menschen. Ein Streit entsteht, darüber welche Zahlen von Bedeutung sind, ja sogar von einem Glücksindex wird manchmal gesprochen, weil eben alles in Zahlen ausgedrückt werden soll.

Nur wenn Wahlen anstehen, dann auf einmal wird so getan, als ob auch auf die Geschichten hinter den Indikatoren gehört werde. Wählerstimmen heißt nämlich die Währung mit der diese ganzen Zahlendeuter bezahlt werden. Daran erinnern sie sich, wenn Zahltag ist. Diese Währung wird aber nur an eine ganz bestimmte Personengruppe ausgegeben, nämlich den Wahlberechtigten, sprich den Staatsbürgern. Auch das wird nur kurz vor der Wahl beachtet.

Nun werden die eingewachsenen Fußnägel bemerkt, und der eine oder andere lässt sich auch noch erzählen, warum es zu diesem misslichen Zustand gekommen ist. Die Verwunderung über die Übellaunigkeit des Wählers schwindet, und schlagartig dämmert es ihnen, all die Zahlen und Indikatoren zeigten wenig über Befindlichkeiten an. Ohne die zusätzlichen Infos aus den Geschichten dahinter sagen die Indikatoren wenig aus, verleiteten dazu anzunehmen, alles sei in Ordnung.

Ob mein neuer Arzt besser ist als der vorherige - ich weiß es nicht. Jedenfalls hört er mir zu, schaut mich an wenn er mit mir redet und seine Sprechstundenhilfe behandelt mich nicht wie ein kleines Kind. Ich fühle mich wohler in seiner Praxis, als Mensch und Patient verstanden. Grund genug für mich meine Wahl nicht zu bereuen.

Und genau nach diesem Kriterium, ob ich mich verstanden fühle, danach werde ich meine Wahlentscheidung treffen. Na ja, eigentlich stimmt dies nicht ganz, in Wahrheit will ich nur abwählen, und zwar diejenigen von denen ich weiß, meine Befindlichkeiten interessieren die einen Scheiß. Ob die anderen es dann besser machen, wird sich zeigen. Sie sollen ihre Chance bekommen.

Kürzlich erschien von Quentin Quencher: »Deutschland in der Pubertät«. Auch als Ebook erhältlich, beispielsweise hier oder hier.

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Leserpost

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Hermann Kanther / 10.03.2016

Nichts gegen Zahlen, Herr Quencher. Natürlich kann man - ich kenne das aus Großunternehmen bestens - bei der Steuerung nach Zahlen schnell den Kunden aus dem Auge verlieren. Aber im Prinzip sind Zahlen natürlich besser als Stories (auch beliebt) und Befindlichkeiten. Könnte beispielsweise die Bundesregierung mit Zahlen umgehen, oder besser noch: die Presse, dann würde viel schneller deutlich, dass bestimmte Dinge extrem teuer sind (beispielsweise die Energiewende, die ja nicht mal CO2 einspart, sondern nur kostet) oder dass aus gut 1 Million Zuwanderern pro Jahr zzgl. Familiennachzug in wenigen Jahren 10% oder 20% der Bevölkerung werden und dass dies finanziell, ähem, schwierig wird. Man könnte auch berechnen, was die Migration oder die Niedrigzinspolitik jeden Deutschen heute und in den nächsten Jahrzehnten kosten wird. Auch nicht schön. Statt diese Zahlen zu betrachten, wird aber lieber auf ein Flüchtlingskind oder hundert sächsische Demonstranten geblickt. Das Ergebnis ist bekannt. Insofern würde ich mir mehr Accountants und Wirtschaftsprüfer in der Politik wünschen.

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