Ein Abgrund aus Infamie und Schadenfreude

Heute ist der 18. Jahrestag der Anschläge vom 11. September 2001. Aus gegebenem Anlass bringen wir einen Beitrag, der vor acht Jahren in der Welt erschienen ist. Er hat leider nichts von seiner Aktualität verloren. Seitdem gab es Hunderte von Anschlägen mit Tausenden von Opfern. Alles halb so schlimm angesichts der bevorstehenden Klimakatastrophe.

Auch nach zehn Jahren haben die Amerikaner die Anschläge von 9/11 nicht verarbeitet. Deutsche Intellektuelle sind da schon weiter.

Das amerikanische Gesellschaftsmagazin "People", das sich sonst mit den Freuden und Leiden der Schönen und der Reichen beschäftigt, ist in dieser Woche mit einer Titelgeschichte über "The Children of 9/11" erschienen.

Es sind nicht die Waisen, die ihre Eltern bei den Terroranschlägen vor genau zehn Jahren verloren haben, sondern Kinder, die am 11. September 2001 noch nicht geboren waren. Sie haben ihre Väter nie kennengelernt: Grace, Rodney, Alexa, Parker, Lauren, Ronald, Robyn, Jamie, Allison und Gabriel.

Sie wissen, wann und wie ihre Väter ums Leben gekommen sind, die Mütter haben es ihnen erzählt. Eine von ihnen sagt: "Am 11. 9. gehen wir immer zum Rollschuhfahren oder Burgeressen - in eines seiner Lieblingslokale." Eine andere: "Ich konnte es mir nicht erlauben, zusammenzubrechen, ich hatte zu viel zu tun."

Der Vater innerhalb von Sekundenbruchteilen pulverisiert

Die heute Neun- bis Zehnjährigen sind ganz normale Kinder, zumindest scheinen sie es. Ein Psychologe hätte dennoch wenig Mühe, herauszufinden, dass sie "traumatisiert" sind. Wären sie es nicht, wären sie nicht normal.

Sie sind alt genug, um sich vorzustellen, dass der eigene Vater innerhalb von Sekundenbruchteilen pulverisiert wurde. Oder dass er aus einem Fenster sprang, weil der schnelle Tod im freien Fall die bessere Alternative zum Verbrennen bei lebendigem Leibe war.

Gabriel, am 11. 9. geboren, schickt seinem Vater jedes Jahr an seinem Geburtstag eine Nachricht an einem Ballon: "Du fehlst mir" oder: "Unser Team hat im Baseball gewonnen."

Man kann den Kindern nur wünschen, dass sie nie erfahren, wie man in Deutschland in diesen Tagen des 11. September 2001 gedenkt. Hinter der Fassade aus Mitgefühl und Trauer lauert ein Abgrund aus Infamie und Schadenfreude.

"Nationalfolkloristische Bedeutung"

Ein Berliner Feuilletonist, der zu den Begabteren seines Faches gehört, verschwendet keinen Gedanken an die vielen Toten und stellt ganz entspannt fest, "der Einsturz zweier hässlicher und sehr verzichtbarer Türme" habe nur eine "nationalfolkloristische Bedeutung".

Für ihn "wird der 11. September 2001 bleiben als die Geburtsstunde der bemannten fliegenden Architekturkritik". Und: "Das Ingenieurbüro bin Laden & Erben könnte weiterhin viel zur Verschönerung der Welt beitragen."

Ja, die Witzischkeit kennt keine Grenzen. Und die Kehrseite eines physischen Kollateralschadens mit fast 3000 Toten kann auch ein ästhetischer Kollateralnutzen sein.

Bereits fünf Tage nach 9/11, am 16. September 2001, hatte der Komponist Karlheinz Stockhausen die Anschläge als "das größte Kunstwerk, was es je gegeben hat" , bezeichnet.

Architekturkritik der Mauerexperten

Und sollte jetzt der 11. September 2001 als "die Geburtsstunde der bemannten fliegenden Architekturkritik" in die Geschichte eingehen, dann ist es nur eine Frage der Zeit, bis Auschwitz als die Ouvertüre zum organisierten Massentourismus gewürdigt wird.

Wenn so ein architekturkritischer Beitrag in der "Jungen Welt" steht, dem Blatt also, das sich vor kurzem aus Anlass des 60. Jahrestages des Mauerbaus bei den bewaffneten Organen der DDR für "28 Jahre Friedenssicherung in Europa" bedankt hat, dann könnte man ihn als "marginal" abtun.

Aber der Ton hat sich inzwischen auch im medialen Mainstream festgesetzt. Im Kulturmagazin der ARD, „ttt", war vor kurzem die wohlwollende Rezension eines verschwörungstheoretischen Buches zu sehen, dessen einschlägig vorbelastetem Autor bescheinigt wurde, er würde nur "kritische Fragen" stellen.

Und kann es etwas Wichtigeres geben, als Fragen zu stellen, kritische dazu, die offizielle Sachverhalte in Zweifel ziehen? Man wird ja noch fragen dürfen!

"Interpretationen, die später kamen"

Hat es den Holocaust wirklich gegeben? Sind die Japaner in Pearl Harbor in eine Falle der Amerikaner getappt? War 9/11 ein Insider-Job, ein Joint-Venture von CIA und Mossad?

Letzten Donnerstag kam Roger Willemsen in der "kulturzeit" auf 3sat zu Wort. Der immer elegant gekleidete und sorgfältig frisierte Publizist sagte dabei unter anderem, "das ganze Ereignis ist erst hinterher gemacht worden", 9/11 bestünde "aus allen Interpretationen, die später kamen".

Auf die leicht suggestive Frage der Moderatorin "Wofür wird der 11. September in Amerika so dringend gebraucht? Hat das zu tun mit der Krise der Amerikaner?" antwortete Willemsen mit den Worten: "Er wird gebraucht, weil er eine identitätsstiftende Kraft entwickelt", dennoch "leitet der 11. 9. irgendwie auch den Niedergang des amerikanischen Imperiums mit ein"; Politik sei "auf eine Weise fühlbar geworden, dass das Gefühl selber fast zur moralischen Vorschrift geworden ist".

Die Moderatorin nahm den Faden auf. "Das Gefühl ist überhaupt unglaublich wichtig. Es gibt einen Schmerzenskult um diesen Tag herum und insofern ähnelt er dem Holocaust. Gibt es da… Parallelen, Ähnlichkeiten?"

"Kriegstreiberische" Kollegen in den Medien

"Oh ja!", stimmte Willemsen begeistert zu, "es gibt die Parallele darin eben, dass beide Ereignisse gefühlt werden müssen, das heißt der Opferbegriff bekommt eine eigene Heiligkeit und er wird auch zur politischen Währung"; von da kam Willemsen auf Abu Ghraib, Guantanamo und "kriegstreiberische" Kollegen in den Medien zu sprechen, die bereit wären, "in einer Notsituation Grundüberzeugungen des humanen Zusammenlebens, auch des demokratischen zu veräußern", das sei für ihn "ein bleibender Schrecken".

Man muss solche Plaudereien zweimal hören, um sich der Brutalität, die in ihnen nistet, bewusst zu werden.

Hätte die Moderatorin in einem der Türme ihr Prada-Jäckchen vergessen oder Willemsen in dem Durcheinander seinen Füllfederhalter verloren, wären sie anders aufgelegt gewesen.

Angesichts von 3000 Toten, die in dem Gespräch nicht einmal erwähnt wurden, von einem "Schmerzenskult" zu fabulieren, zeugt von einer Gefühlskälte, wie sie spätestens seit der Posener Rede von Heinrich Himmler zur Grundausstattung vieler deutscher Intellektueller gehört.

Jeden Bezug zur Realität verloren

9/11 aus der Ferne erlebt zu haben und dabei sachlich und unbeteiligt geblieben zu sein, ist eine Leistung, die man nicht genug preisen kann, sozusagen ein Ruhmesblatt der deutschen Kulturgeschichte.

Das Interview mit Willemsen war kein Ausreißer sondern Programm. Einen Tag später, am 9. 9., wurde an gleicher Stelle der norwegische "Friedensforscher und Friedenskämpfer" Johan Galtung vernommen, der 1987 mit dem Alternativen Friedensnobelpreis ausgezeichnet wurde und seitdem als Kapazität auf seinem Gebiet gilt.

Tatsächlich ist Galtung ein Autist, der jeden Bezug zur Realität verloren hat. Gleich nach 9/11 rief er zu einem "friedlichen Dialog der Kulturen" auf. Dass dieser Ruf ungehört verhallte, lag natürlich nicht an den Terroristen.

"Man hat keinen Versuch gemacht, die andere Seite zu verstehen… Man hat nur sich selbst als Opfer betrachtet, man hat nicht versucht zu verstehen, was haben wir gemacht, das vielleicht eine Wirkung gehabt hat."

Für die armen deutschen Seelen beten

Er dagegen sei ein "Friedensvermittler", der "mit den Leuten" redet und versucht "zu verstehen, wie sie denken". Diese Leute hätten "ihr Bild von der Welt" und dieses Bild "ist nicht viel mehr wahnsinnig als das Bild, das man im Westen hat von diesen Leuten".

So viel Äquidistanz zwischen friedliebenden Terroristen auf der einen und kriegerischen Westlern auf der anderen Seite wurde von der Moderatorin mit zustimmendem Kopfnicken abgesegnet.

Was Galtung anschließend von sich gab, war allerdings so wirr, dass es selbst der Moderatorin zeitweise die Sprache verschlug - ohne dass sie zum Telefon gegriffen und eine Ambulanz gerufen hätte.

Denn sie hatte es mit einem "Friedensforscher und Friedenskämpfer" zu tun, der 1987 den Alternativen Friedensnobelpreis bekommen hat.

Am Sonntag wird ganz Amerika der Toten von 9/11 gedenken. Ich werde einen der vielen Gottesdienste besuchen und für die armen deutschen Seelen beten.

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Leserpost

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Martin Landner / 11.09.2019

Es ist immer noch einer der besten Artikel von Broder. Nach 9/11 wurde einfach klar, dass Linksextreme Gewalt, Vorurteile & Rassismus lieben, solange es nur gegen Amis oder Europäer geht.

Wolf Köbele / 11.09.2019

“Die heute Neun- bis Zehnjährigen sind ganz normale Kinder, zumindest scheinen sie es. Ein Psychologe hätte dennoch wenig Mühe, herauszufinden, dass sie „traumatisiert“ sind. Wären sie es nicht, wären sie nicht normal.” Können Sie sich vorstellen, was beim Lesen Ihres überaus berührenden Beitrags in mir (Jg.1944) vorgeht? Und das nach den grauenhaften Humorbeiträgen im ÖR, von denen ich vorgestern und gestern lesen mußte! Ein drecks “Comedian” und ein verblödetes Weib könnten wenigstens aufgrund ihrer Minderbegabung mit §51 davonkommen, Roger Willemsen aber nicht. Zu Recht rücken sie ihn (und den fliegenden Architekten) in eine Reihe mit der Posener Rede! - Jetzt bin ich ganz arg deprimiert. Aber für dankbare Grüße reicht’s noch.

Werner Arning / 11.09.2019

Echtes Mitgefühl scheint kein linkes Gefühl zu sein. Linkes Mitgefühl scheint heuchlerisch und berechnend zu sein. Immer auf der Suche nach der ideologischen Nutzbarkeit. Immer bereit zu instrumentalisieren. Immer auf der Suche nach Bildern. Nach „unschönen Bildern“. Hauptsache der Richtige wird durch diese Bilder diskreditiert. Für Linke ist alles politisch. Auch das Mitgefühl. Linke sind eher gefühlsarm. Gefühl ist für sie Mittel zum Zweck. Ein Stilmittel der Propaganda. Eines unter mehreren. Man wählt das, welches die größtmögliche Wirkung erzielt. Und wenn Leid beim Betrachter die größtmögliche Wirkung erzielt, dann wird Leid zur Schau gestellt. Aber! Es muss das „richtige“ Leid sein. Wieviel wert ist das Leid, fragt sich wohl der Linke. Kann ich es ausschlachten in meinem Sinne? Flüchtlingsleid etwa lässt sich herrlich ausschlachten. Arme, weinende Menschen aus ausgebeuteten Ländern. Aber amerikanisches Leid? Das Leid von Reichen? Womöglich von Ausbeutern? Was fangen wir damit an? Das hat wahrscheinlich nicht einmal existiert, oder? Das Leid von womöglich alten weißen Männern. Würde uns das interessieren? Würde das für unsere Propaganda hilfreich sein? Unserem Weltbild dienlich sein? Unser Weltbild bestätigen? Nein, der aufrechte Linke geht mit seinem Mitgefühl sehr selektiv um. Denn nichts ist unpolitisch. Der Linke ist ein unverbesserlicher Kopfmensch. Gefühle sind ihm suspekt.

Michael Liebler / 11.09.2019

Wie verkommen sind diese “Meinungsmacher” geworden, der hässliche Deutsche feiert fröhliche Urständ.

Antonio Ponzio / 11.09.2019

liebe herr broder die deutsche Seelen wird immer ärmer. wunderbarer Artikel. tanti saluti dal atlantico. antonio.

Chris Groll / 11.09.2019

Hallo Herr Broder,  es ist wie Sie sagen: “Man muss solche Plaudereien zweimal hören, um sich der Brutalität, die in ihnen nistet, bewusst zu werden.” Viele sogenannte “Intelektuelle” im Westen haben den Sinn für Realität verloren und sie sind sich dessen nicht einmal bewußt. Wenn ich das lese, verstehe ich auch langsam , warum so wenig Empathie für deutsche Opfer von Terroranschlagen vorhanden ist. Wir Westeuropäer (vor allen Dingen wir Deutsche) haben das Gefühl für Anteilnahme und Mitleid verloren bzw. haben wir das nur noch für islamische/kommunistische Opfer. Ich schließe mich Ihnen an und werde für die armen verirrten deutschen Seelen beten.

Christian Freund / 11.09.2019

Der Angriff auf die USA am 9.11. kam aus Deutschland. Das hat hier niemanden, damals wie heute, auch nur im geringsten echauffiert. Damals beschlich mich zum ersten Mal das Gefühl, der Deutsche ist, aufgrund seiner politischen Dummheit, nach wie vor gefährlich.

Thomas Taterka / 11.09.2019

” Der Prüfstein für eine erstrangige Intelligenz ist die Fähigkeit, zwei entgegengesetzte Ideen zugleich im Kopf zu haben und doch weiter in Funktion zu bleiben. Zum Beispiel : man wäre imstande zu sehen, daß die Dinge hoffnungslos liegen, und dennoch fest entschlossen, sie zu ändern. “ F. Scott Fitzgerald, Der Knacks

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