Rainer Bonhorst / 13.08.2020 / 14:00 / Foto: Christoph Braun / 22 / Seite ausdrucken

Egal, mit wem er nicht Kanzler wird

Manchmal fallen mir die Augen, wenn ich an die SPD denke, so schnell zu, dass ich keine Zeit mehr habe zu denken: „Jetzt schlafe ich ein.“ Und eine halbe Stunde später wache ich über dem Gedanken auf, es sei nun Zeit, die SPD zu suchen.

Aber welche SPD? Und wo ist sie? Auf der Suche nach der verlorenen SPD muss ich mich wohl von dem textlichen Vorbild lösen, das diese Eingangszeilen diktiert hat. Und zwar völlig. Denn es stellt sich die Frage: Soll ich meine Suche in der verlorenen Zeit beginnen oder in der rätselhaften Gegenwart. Da die Gegenwart so rätselhaft, also möglicherweise interessant ist, beginne und bleibe ich hauptsächlich im Hier und Heute.

Was ist das Rätselhafte an der heutigen SPD? Sagen wir mal so: Wenn es Robert Lembke und sein heiteres Ratespiel noch gäbe, könnten weder die Ratefüchse noch der zu erratende Gast selber die Frage beantworten: „Wer bin ich?“ Auch nicht die Frage: „Was bin ich.“ Eine mögliche Antwort wäre allerdings: „Ich bin bipolar.“ Oder genauer: „Wir sind bipolar.“

Aber hier rätseln wir schon weiter: Wer genau ist bipolar? Die neue altlinke beziehungsweise neoaltlinke SPD-Führung, die sich einen liberalen Pragmatiker als Kanzlerkandidaten verpasst hat? Oder Olaf Scholz, der sich dem Diktat unterworfen, und unter seinem liberal-pragmatischen Mantel rote Socken und rote Krawatte angezogen hat? 

Wieder ganz Kind werden

Bevor wir uns dieser Frage weiter widmen, hier ein kurzer Ausflug in die linke Begrifflichkeit. Zwar ist Die Linke als Partei ein noch junges, entlaufenes Kind der alten Mutter SPD. Aber die Mutter ist ihrer mütterlich-vernünftigen Rolle überdrüssig und möchte wieder ganz Kind werden, ganz wie ihr entlaufenes Baby. Und dies so sehr, dass man Mutter und Tochter für Zwillinge halten könnte, die sich nach langer Trennung wieder umarmen. 

Es sei ihnen gegönnt, wäre da nicht noch der verschwundene Vater. Die Linke ist ja nicht nur ein Kind der Mama SPD sondern leider auch des Papa SED. Das war, ehe er abgetaucht ist, ein ziemlich übler Typ. Aber die kleine Linke hängt an ihm und will von seinen Schandtaten nichts wissen. Und Mama SPD? Die hält Augen und Ohren zu, um die neue Nähe zur verlorenen Tochter nicht zu belasten.

Aber wie passt Olaf Scholz in dieses unheimlich herzige Bild? Er ist doch einer, der eigentlich in die Reihe der alten Sozialdemokraten gehört, von Willy Brandt über Helmut Schmidt bis zu Gerhard Schröder. Also in eine Reihe, die mit linken Volksfronten, ob kindisch oder erwachsen, gar nichts am Hut hatte. 

Handelt es sich um einen Etikettenschwindel?

Verabschieden wir uns mal von Robert Lembke, begeben wir uns in einen Supermarkt. Dort finden wir auf fast allen angebotenen Waren ein schönes Etikett, das beschreibt, was sich unter der Verpackung befindet. Wenn aber die Beschreibung auf dem Etikett und die Ware in der Verpackung nicht übereinstimmen, spricht man von einem Etikettenschwindel. Im Extremfall ein Straftatbestand. Handelt es sich also bei der Kanzlerkandidatur von Olaf Scholz für die neoaltlinke SPD von heute um einen Etikettenschwindel?

Der Teufel steckt im Detail. Vieles hängt von der Frage ab, wie genau die Bipolarität dieser seltsamen Paarung aussieht. Schmückt sich die SPD-Spitze mit dem spröd-bürgerlichen Herrn aus dem hohen Norden, damit nicht jeder gleich merkt, was sie eigentlich vorhat? Das ist die eine Frage. Die andere: Ist der Kandidat ein echter liberaler Pragmatiker? Versucht er gar einen Marsch durch die SPD-Institutionen, um sie von ihrer linken Sackgasse zurück auf den Pfad der halblinken bürgerlichen Mitte zu führen? Oder schlägt sein Herz doch deutlich weiter links, als sein Bürgermantel (in Bayern wäre es Loden) vermuten lässt? Würde er sich also, nach Abstreifen des Mäntelchens fröhlichen Herzens, ja kumpelhaft an den Tisch der ganz linken Verwandtschaft setzen und über Deutschlands sozialistische Zukunft plaudern? 

Es gibt eben mehrere Formen des Etikettenschwindels. In jedem Fall steht draußen etwas anderes, als drin ist. Also statt what you see is what you get (Wysiwyg) eher so etwas wie eine surprise party.

Egal, mit wem er nicht Kanzler wird 

Aber es gibt noch eine weitere Möglichkeit. Vielleicht ist es allen Beteiligten ziemlich wurscht, wer wie mit wem was macht. Weil die etwas vereinsamte neolinke SPD einfach nur beim linken Töchterchen Unterschlupf und Gesellschaft sucht. Koste es, was es wolle. Und weil eine Partei, die von der 20-Prozent-Marke nur träumt, sowieso nicht den Kanzler stellt. Weil es Olaf Scholz im Grunde egal sein kann, mit wem er nicht Kanzler wird. 

Wäre damit der Etikettenschwindel vom Tisch? Nicht ganz. 

Zwar könnte Scholz auch in einem grün-rot-roten Bündnis nicht Kanzler werden, sondern müsste unter der gemeinsamen Kanzlerschaft von Robert Habeck und Annalena Baerbock dienen. (Geht nicht, ich weiß. Es gibt nur einen Rudi Völler.) Aber er hätte immerhin die Chance, weiter zu dienen, als Minister, wie bisher. Das macht das Bündnis der alten Neulinken mit den neuen Altlinken zu einem gar nicht so unattraktiven Farbenspiel.

Natürlich gibt es einen Haken. Das sind die Wähler. Die ganz linken Linken haben – wie auch die ganz rechten Rechten – schon vor langer Zeit erkannt, dass der Wähler in der Politik ein unangenehmer Störfaktor ist. Eine Entstörung – so wünschenswert sie erscheinen mag – ist in westlichen Demokratien unmöglich. Das bedeutet in der Praxis, dass manche Blütenträume unerfüllt bleiben. Der Grün-rot-rote könnte so einer sein.

Eine Verbannung ins Exil

Die Zukunft sieht eher Schwarzgrün aus. Das würde heißen, dass Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans mit Olaf Scholz regierungsfern Platz nehmen müssten. Für Esken und Walter-Borjans wäre das ein Stück Normalität, für den Bundesfinanzminister wäre das eine Verbannung ins Exil. Was wäre ihm lieber, ein Exil mit weitgehend intakter liberal-pragmatischer Ausstattung oder ein Ministeramt mit rot leuchtendem Outfit? Der werfe den ersten Stein, der noch keiner Verlockung nachgegeben hat. 

So wie die Dinge liegen, bleibt die Bipolarität des SPD-Dreiers aber eher ein Fall für die politische Psychoanalyse und wird in der real existierenden deutschen Regierungspolitik keine Hauptrolle spielen. Ich kann also getrost wieder einnicken und muss nicht – um einen kompakter schreibenden Autor als den eingangs bemühten literarischen Einschläfer zu zitieren – an Deutschland in der Nacht denken. Oder schrecke ich, wie der Langschreiber, plötzlich wieder auf? 

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Leserpost

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Oliver Groh / 13.08.2020

Die SPD hat die Bundespolitik eher planmäßig vernachlässigt. Das macht aber nichts, da die SPD die größte Machtfülle in diesem Land hat. In fast allen Bundesländern regiert sie mit, die größten Medienkonzerne ( Funke , Zeit usw. ) sind SPD gesteuert. Dazu kommen diverse Stiftungen, welche genehme Studien veröffentlichen. Über den Einfluss bei den Zwangsgebührensendern brauchen wir nicht reden. Bleiben noch die beiden Amtskirchen, die Gewerkschaften , der komplette Bildungssektor, Verwaltungen und nicht zuletzt Stadtwerke und Sparkassen. Diese Gesamtheit des gleichen Denkens zieht ja Deutschland nach unten. Damit das nicht auffällt bleibt man in Berlin lieber unsichtbar.

B. Oelsnitz / 13.08.2020

Über die SPD und ihre Zukunft wurde in der NZZ bereits ausführlich, und m. A. n. durchaus abschließend, vor Monaten disputiert. Sie ist eine sich im Abgang befindliche alte Volkspartei, die in anderer Form durchaus in einem neuen Konglomerat fortbestehen kann. Ihre alte Rolle wird sie nie mehr einnehmen, u. a. weil sie die Geister, die sie rief, nicht mehr los werden wird. Sie wird im Strom der GT (GROSSE TRANSFORMATION) schlicht untergehen. - Der Kandidat selbst kann alles mögliche werden (K, VK, Schröders Nachfolger oder Vorstand einer großen deutschen Bank und so er sich transformiert auch Frau). Darüber muß man sich nun wahrlich nicht unbedingt Gedanken machen, zumal offen ist ob, genauer wann, die nächste Entscheidung ansteht. Es gibt sicherlich andere Themenkreise, die man ernsthaft anfassen sollte.

Ulla Schneider / 13.08.2020

Er war der fadeste von allen alten Sozis, kaum sichtbar. So einer mit Lederflicken an den Ellbogen, hinterste Reihe. Ich sag Euch was: Madame Merkel wirds für ein halbes Jahr, dann übernimmt Scholli und zack!  sitzt er im Sessel! Dto wird evtl. in USA mit Biden und Harris passieren ( hoffenlich nicht!!!). Biden singt heitschi, bumbeitschi und übergibt aus ” diversen” Alterserscheinungen das Zepter an Harris weiter.

claude de jean / 13.08.2020

Das “Oppositschönsten” der Spd ist genial… Inwieweit die Pseudodemokratie des Qualitätsmediums Tralala macht,weiss niemand der Spd gekauften Redaktionsstuben,aber für die Journaliliekriminellen läuft es jeden Tag schlechter… Würde der Spiegel trotz dreutscher Niedertracht Propaganda/Sorosfinanzierung scheitern.. Hätten deutschlands Bürger eine Chance…

Andi Nöhren / 13.08.2020

Kanzlerkandidatur Olaf Scholz. Wen interssiert dieses Thema überhaupt? Das ist nicht einmal ein Sommerloch-Thema. Liest wirklich noch jemand Artikel, die sich mit dieser Sache beschäftigen?

Gudrun Meyer / 13.08.2020

Olaf Scholz gehört nach meinem Eindruck zu den unauffälligen, etwas mittelmäßigen Menschen, die gute Arbeit leisten, wenn sie in guten Teams arbeiten. Auch Helmut Kohl war so ein Typ, und ich würde nicht sagen, dass er seine Sache schlecht gemacht hätte. Das gute Team sehe ich diesmal allerdings nicht. Außerdem ist es unwichtig. Der Kanzler-Wumms wird Scholz nicht zum Kanzler machen, fertig. Die SPD steigt ab, die Grünen steigen auf, auch ohne dafür echte Leistungen bringen zu müssen, zumal niemand etwas dergleichen von der Gender/Klimawandel/Multikulti/“Kampf gegen Rechts”-Partei erwartet. Wenn Annalena “D hat pro Einwohner 9 Gigatonnen CO2-Emission pro Jahr” Baerbock Kanzler*in wird oder auch “nur” an einen wichtigen Posten im Kabinett eines erträglich vernünftigen Kanzlers kommt, können wir uns eh auf noch mehr von all dem verlassen, was das Land zerstört - noch mehr Windräder, noch mehr Unterwerfung unter muslimische Clans, noch mehr Kampf gegen die Werte-Union und ähnliche “Gefährder”, noch mehr “Schutzmaßnahmen”, die jede frühere Normalität außer Kraft setzen. Im übrigen ist es nicht mehr wichtig, wen wir wählen. Die UnionFDPSPDGrüneLinke bekommt zusammen mindestens 80% der Stimmen, wenn nicht 90%, und es gibt zwar in jeder Untergruppe dieser Einheitsfront Politiker, die bei 2 x 2 auf immer und ausnahmslos 4 kommen, Wolfgang Kubicki zum Beispiel, aber sie bestimmen nicht den Kurs. Dieser Kurs ist radikal identitätslinks, radikal realitätsfern und radikal auf einen totalen Staat erpicht, der diesmal mit weniger offener Gewalt vorgehen wird. Soweit doch Gewalt nötig ist, überlässt er sie seinen Kreaturen von Antifa, BLM usw., wobei diese Schläger und Plünderer nicht ahnen, dass sie die Gewalt eines Regimes vollziehen, für dessen Kritiker und Opfer sie sich gerne halten. Wahlen entscheiden in so einem System über personelle Konkurrenzen, nicht über verschiedene, politische Optionen.

Heinz Becker / 13.08.2020

Oh je, dem Autor ist das politische Fadenkreuz wieder vollkommen verrutscht. Scholz liberal? Wikipedia: In seiner Juso-Zeit unterstützte er den Freudenberger Kreis (den Stamokap-Flügel der Juso-Hochschulgruppen) sowie die Zeitschrift spw und warb in Artikeln für „die Überwindung der kapitalistischen Ökonomie“. Die SPD linke Mitte? Im Unterschied zur SED? Fehlt nur noch die Legende von der Zwangsvereinigung. SED, SPD haben die selben Wurzeln, die einen sind der Wolf im Wolfspelz, die anderen der Wolf im roten Schafspelz, gewissermassen Bolschewiki und Menschewiki. Man sollte auch nicht vergessen, dass sich die SPD erst 1959 -Godesberger Programm - mit Ach und Krach zu Marktwirtschaft, Demokratie und Westbindung in der BRD bekannt hat, wohl auch ein Etikettenschwindel…Den gibt es aber auch bei den angeblichen Christen der CDU: CDU steht drauf und Erika ist drin…

Rolf Mainz / 13.08.2020

Das Thema Kanzlerkandidatur der SPD ist angesichts der Marginalität der Partei ein schlechter Scherz. Die Rolle der SPD bleibt die gleiche wie bisher: aus CDU-CSU-Sicht das ungeliebte Regierungsanhängsel zwecks Sicherung der Mehrheit. Momentan scheint sich im Bundestag künftig ein schwarz-grünes Bündnis anzubahnen, welches auf eine SPD-Beteiligung möglichst gern verzichten würde, je nach Stimmenlage jedoch notfalls wieder auf die SPD zurückgreifen wird. Von der Kanzlerschaft ist die SPD hingegen so weit entfernt wie Frau Merkel vom Physik-Nobelpreis.

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