And as we wind on down the road
our shadows taller than our soul…
Led Zeppelin, “Stairway to Heaven”
Das hätte ich mir im Februar 1968 nicht träumen lassen, als ich mit einem Bus voll Kölner Kriegsgegner nach Berlin zum Vietnamkongreß der APO fuhr—daß ich vierzig Jahre später die besten Vorsätze haben würde, an den Gedenkfeiern für die amerikanischen Soldaten teilzunehmen, die in jenem Krieg fielen.
Am 13. November dieses Jahres jährte sich zum fünfundzwanzigsten Mal die Einweihung des Vietnam Memorial in Washington, D.C., dieses von der damals einundzwanzigjährigen Studentin Maya Lin in einem anonymen architektonischen Wettbewerb entworfenen Geniestreichs einer Gedenkstätte. Am 11. November, in Erinnerung an den Waffenstillstand, der den Ersten Weltkrieg beendete, findet in den U.S.A. traditionell der “Veterans Day”statt, der Tag der Kriegsveteranen, und seit einigen Jahren hat sich zeitgleich eine neue Tradition eingebürgert, nämlich daß Freunde und Familienangehörige in Vietnam gefallener GIs an “The Wall”, wie das zweimal fünfundsiebzig Meter lange in den Erdgrund eingelassene Memorial aus schwarzem Granit schlicht genannt wird, in tagelanger Zeremonie die darauf eingravierten 58.195 Namen vorlesen.
Bob Ladd, mein Harley-Davidson/Buell-Händler im Shenandoah Valley, etwa 40 Meilen von meinem Haus, der vier Jugendfreunde in Vietnam verloren hatte, war diesmal einer der Rezitierenden, und er hatte mich wie alle seine Kunden eingeladen, ihn am Wochenende per Motorrad die hundertfünfzig Meilen nach Washington zu begleiten, um anschließend in der Parade durchs Regierungsviertel mitzuknattern; kein Problem, auch wenn du kein Veteran bist, schrieb er in der Einladung; alle Motorradfahrer seien willkommen. Ich ließ mich nicht zweimal bitten. Das anfangs von manchen Gestrigen wegen seines Mangels an heroischer Militärästhetik und von Rassisten wegen der chinesischen Herkunft des architektonischen Wunderkindes Maya Lin angefeindete, mittlerweile jedoch meistbesuchte, meistbewunderte und meistbetrauerte Denkmal der Nation ist kein Platz, an dem heute noch das Für und Wider der indochinesischen Katastrophe diskutiert wird; beim Gedenken an die meist jungen, meist wehrpflichtigen Soldaten, die dabei ihr Leben ließen, verstummt politische Händelsucht und Besserwisserei (von wenigen ewig-rechthaberischen Schreihälsen auf beiden Seiten abgesehen).
Treffpunkt war zwischen sechs und sieben Uhr morgens der Parkplatz vor Bobs Harley-Laden in Staunton, Virginia; von dort sollte es um Punkt sieben unter Begleitung einer Polizeieskorte losgehen. Dutzende, vielleicht hunderte von Motorrädern wurden erwartet, eine Menge, die in Washington auf Tausende anschwellen sollte. Das Wetter war die ganze Woche sonnig gewesen, doch am Vorabend fing es an zu regnen. In den Nachrichten verkündete der Fernsehmeteorologe hoffnungsvoll, gegen Morgen würde es wieder aufklaren. Ich hatte meine Maschine auf Hochglanz poliert, legte mir besonders warme Unterwäsche zurecht, war auch ansonsten, dachte ich, gut auf klammes Herbstwetter vorbereitet. Da ich zuerst noch von Charlottesville über die Blue Ridge Mountains nach Staunton fahren mußte und dafür bei Nässe im Dunkeln mit einer Stunde rechnete, riß mich der Wecker um halb fünf aus dem Schlaf. Draußen goß es in Strömen. Auf Weather.com wurde ich belehrt, daß es inzwischen auf Afton Mountain, über den der Paß durch die Blue Ridge nach Staunton führt, schneite. Damit wurde mir das Risiko zu groß. Also setzte ich auf meinen Ausweichplan: Von Charlottesville direkt Richtung Washington zu fahren und mich gegen neun auf einem Rastplatz kurz vor der Stadt der Kräderkavalkade anzuschließen.
Seit meiner Jugend war ich nicht in so miesem Wetter auf zwei Rädern gefahren. Nur Mut, sagte ich mir, versuchte mir auszureden, daß es der helle Wahnsinn war, daß ich mit dem Schicksal spielte, aus lauter Eigensinn fern jeder Schlacht ein nachträgliches sinnloses Opfer des Vietnamkrieges zu werden. Doch endlich, nach wenigen Meilen in dichtem Nebel auf rutschigem Herbstlaub, im Licht meines reflektierten Scheinwerfers, hatte ich ein Einsehen mit mir und kehrte enttäuscht nachhause zurück.
Später erfuhr ich, daß auch drüben im Shenandoah Valley die meist älteren Herren, viele davon Vietnamveteranen, von ihren Maschinen gestiegen und stattdessen in für den Wetternotfall bereitgestellte Busse geklettert waren. Und während in Charlottesville mit anbrechendem Tageslicht tatsächlich die Sonne durch den Nebel brach, wanderten die Regenschauer nach Norden, um sich zur Paradezeit über Washington auszubreiten.
Unsere Vietnamkriegsgeneration sollte eine Petition im Kongreß einbringen, den Veterans Day auf eine wärmere Jahreszeit zu verlegen. Wie wär’s mit dem 30. April? An dem Tag fiel 1975 Saigon, und in Washington steht dann das milde Frühjahr in schönster Kirschblütenpracht. Mag das zwar im Gegensatz zum Ende des Ersten Weltkrieges eine Niederlage markieren—die Veteranen von 1918, die auszogen, um die Welt “safe for democracy” zu machen, sind längst unter der Erde, während es denen von 1975 noch ein paar Jährchen vergönnt sein mag, sich auf ihre Brummer zu schwingen, um—die Widersprüche der Demokratie und die Launen der Freiheit im Kopf—ihrer toten Kameraden zu gedenken, denen es nicht mehr vergönnt war, sich den Wind um die Sturzhelme wehen zu lassen.
Szenen von der Einweihungsparade des Vietnam Memorial am 13. November 1982 gibt es hier zu sehen: http://www.youtube.com/watch?v=gy7a83WGstA