1990 hielt der Schriftsteller Friedrich Dürrenmatt (er verstarb im selben Jahr) zu Ehren von Vaclav Havel eine viel beachtete und viel kritisierte Rede, in welcher er die Schweiz als ein Gefängnis bezeichnete (Hier auch als Video) Ein Gefängnis, in dem eigentlich nicht klar sei, wer die Gefangenen und wer die Wärter seien.
Im damaligen historischen Kontext wurde die Rede als antibürgerliche Kritik an den starren politischen Verhältnissen der Schweiz interpretiert, was vornehmlich die politische Linke diebisch freute. Allerdings ließ sich der streitbare Literat nie in ein politisches Schema drängen, und so erreicht seine Rede auch heute noch eine vielleicht noch aktuellere und treffendere Bedeutung als damals. Dafür hier einige Beispiele aus meinem Alltag als Lehrer, die in ähnlicher Weise sicherlich auch in Deutschland zu beobachten sind.
Die traditionelle Weihnachtsfeier unserer Schule sollte in der alten ehrwürdigen Aula stattfinden. Schließlich trifft die Nachricht ein, dass wegen Brandschutzbestimmungen die Aula nicht mehr als von 50 Personen betreten werden dürfe. Folge, die Weihnachtsfeier kann nicht in der Aula stattfinden.
Unser Schulhaus erhält einen Erweiterungsbau. Alle freuen sich: Hellere Räume, breitere Gänge, eine hervorragende, nach neuesten Energiestandards erstellte Isolation mit einem raffinierten Heizungssystem, ein Meisterwerk des schweizerischen Ingenieurswesens.
Während der Führung durch den alten Teil des Schulhauses meint die junge Architektin: „Diese Bilder können dann leider nicht mehr in den Gängen aufgehängt werden. So verlangen es die Brandschutzbestimmungen.“ Es dürften auch keine Bänke und Stühle, keine Pflanzen und Skulpturen mehr die Gänge verzieren. Die Brandschutzbestimmungen verlangen, dass die breiten Gänge leer sind, und die Schüler alle gleichzeitig bei einem Feuer das Haus verlassen können. Auch der von Schülern und Lehrern in Eigenarbeit erstellte Schülerraum im Keller wird geschlossen. Er entspricht in keiner Weise mehr den Vorschriften.
Zweiseitiger Bestimmmungs-Katalog für das Skifahren
Wenn heute ein Lehrer mit seiner Klasse nach einer dreistündigen Wanderung an einen Bergsee gelangt, müsste er eigentlich, wenn er über kein Lebensretterdiplom verfügt (und das alle 5 Jahre erneuert werden muss), die nach Abkühlung lechzende Klasse stoppen. Und wenn er selber im Besitz eines solchen Zertifikats ist, dann darf er nicht mehr als 10 SchülerInnen in seiner Gruppe das Baden erlauben, weil es sonst nämlich noch eine zweite ausgebildete Fachperson braucht.
Wenn ich heute mit meiner Klasse eine Badeanstalt besuche, wird mir als verantwortlichem Klassenlehrer immer öfter eine Art Vertrag vorgelegt (Rekord: 2 komplette Seiten in der Badi Zurzach), welche sämtliche Eventualitäten regelt. Ohne Unterschrift keinen Eintritt. Zeitgleich liegt ein zweiseitiger Katalog von Bestimmungen in meinem Fach, der das Skifahren im Skilager regeln soll.
Dem langjährigen Bäcker, der an unserer Schule Gipfeli, Sandwichs und auch Schokodrinks verkauft hatte, wurde der Auftrag entzogen. Grund: Die Ernährungsvorschriften der Stadt lassen so etwas nicht mehr zu. Gewünscht sind Vollkornbrötchen, Äpfel, Gemüseschnitten und Darwida. Folge: Unsere Schüler decken sich in der nahegelegenen Migros mit Süßigkeiten ein.
Mein Großkind darf in Zürich an seiner Schule zu seinem Geburtstag nicht mehr einen zu Hause gebackenen Schokoladenkuchen für seine Klasse mitbringen. Die Ernährungsvorschriften lassen dies nicht mehr zu. Am traditionellen „Sächselüte“-Umzug in Zürich darf ein 6-jähriger als Cowboy verkleideter Knirps nicht mit seinem „Käpseliplastikgewehr“ am Umzug teilnehmen. Seine Kindergärtnerin hat es ihm untersagt. Ich erhalte von der Lehrerin meines Sohnes einen mahnenden Brief, das Pausen-Sandwich nicht mehr in Alufolie einzupacken (was mir zu meiner Schande wirklich passiert ist, weil mir die Plastikfolie ausgegangen war).
Gestandene Lehrer kommen unter Druck, weil sie sich keinem vereinheitlichten „Disziplinarkonzept“ unterordnen wollen, Behörden und Vorgesetzte versuchen, die Presseauftritte von Lehrkräften zu reglementieren, Kleidervorschriften sind wieder offen in Diskussion, einzelne Stundenabtauschs von Kollegen müssen vier Wochen vorher eingegeben werden.
„Reformieren“, „Reglementieren“, „Strukturieren“
In einem weiteren Sinn macht diese Regulierungswut auch nicht vor unserem Unterricht halt. Es gibt kaum eine Behörde, Fachstelle oder Beratungsinstitution, die nicht ständig am „Reformieren“, „Reglementieren“, „Strukturieren“ und „Konzeptionieren“ ist.
So sollen schwächere Schüler zwar in Regelklassen integriert und bedarfsgerecht unterrichtet werden. Die Umsetzung überlässt man allerdings nicht den Lehrkräften. Es wird ein Integrationskonzept eingefordert, und ein Regelwerk mit einem institutionalisierten bürokratischen Ablauf bei der Formulierung von reduzierten Lernzielen wird nachgeliefert.
Die mit HarmoS angestrebte Vereinheitlichung unseres Schulsystems wird mit dem Lehrplan 21, mit Standards und Bildungsmonitoring eine neue Gesetzesflut und Reglementierung auf die Schule einprasseln lassen. Das Outdoorkonzept unserer Schule verschlang eine Sitzung von mehreren Stunden und ist über 7 Seiten lang.
Und wenn unsere Biologie- und Chemiestudenten ihren Abschluss in der Tasche haben, dürfen sie die auf staatlichen Rat und staatliches Geheiß erworbenen Kenntnisse gar nicht anwenden. Bei der Gentechnik sind uns so schon einige tausend Arbeitsplätze verloren gegangen, bei der Nanotechnologie droht dasselbe.
Diese Reglementierungswut stößt in immer neue Gefilde vor, welche die individuellen Lebensweisen des Einzelnen betreffen und dies in aller Freiheit.
Wenn eine Großmutter oder Tante regelmäßig Kinder hütet, soll sie neuerdings eine Ausbildung absolvieren müssen (dieser Vorschlag unserer Landesregierung wurde allerdings schubladisert). Als Fan eines Fußballclubs steht eine zwangweise Fankarte zur Debatte, als Velopendler steht mir ein Helmobligatorium ins Haus, ein Impfzwang steht auch noch zur Diskussion.
In Basel können Eltern gebüßt werden, wenn sie ihre Kinder nicht vor 22.00 Uhr ins Bett schicken oder selber einen Elternabend „schwänzen“. In den Städten will man die Pausenplätze, beliebte Aufenthaltsplätze für Jugendliche an Sommerabenden, außerhalb der Schulzeiten für die Öffentlichkeit schließen.
Nur noch Süßmost, Mineralwasser und Tee
Das alljährliche Schulhausfest, ein beliebter Anlass, der meistens bis spät nach Mitternacht ein gemütliches Zusammensein von Lehrkräften, Eltern, Behördenmitgliedern und Ex-Schülerinnen zulässt, soll künftig ohne Alkoholausschank auch für die Erwachsenen stattfinden. In unserer Nachbargemeinde, wo die Richtlinie umgesetzt wurde, werden nur noch Süßmost, Mineralwasser und Tee in Plastikbechern ausgeschenkt. Coca-Cola scheitert an den Zuckerbestimmungen. Die Folge: Nach der Theatervorführung verziehen sich die Eltern in die Restaurants oder nach Hause, der Pausenplatz darf nach 20.00 Uhr bereits aufgeräumt werden.
An unserem Schülerband-Festival im Freien kamen kürzlich zwei Spezialisten des Bundesamtes für Gesundheit und maßen die Dezibel. Aufatmen: Wir erfüllten die Auflagen, wenn auch knapp.
Das Muster dabei ist immer dasselbe: Eine Minderheit von Personen hat ein Problem oder macht Probleme (Raser, Hooligans, Alkoholsüchtige, Übergewichtige, Raucher, Nichtschwimmer, Nichthelmträger). Daraufhin werden Regelungen, Verbote und Gesetze erlassen, welche die große Mehrheit der Bevölkerung einschränkt, zum Verdruss der Regulatoren aber die Zielgruppe oft gar nicht trifft, weil diese sich eh nicht an die Regeln halten.
Eigentlich sind Gefängnisse für Gesetzesübertreter da. Aber wenn ein Staat, der seine Kernaufgaben im Wesentlichen gelöst hat, auf der Suche nach neuen Betätigungsfeldern um die Bürgerinnen und Bürger dieses Landes ein immer dichteres Netz von Gesetzen, Regelungen, Vorschriften und Verboten zieht, dann droht eine potenzielle Kriminalisierung.
Die Folgen sind Einschränkung der persönlichen Freiheit, geistige Stagnation, praxisferne Öde und eine Lähmung des gesellschaftlichen Austausches.
"Jeder Gefangene beweist, indem er sein eigener Wärter ist, seine Freiheit". (Dürrenmatt „Die Schweiz ist ein Gefängnis“ 1990)
Ganz schlimm wird es, wenn moralische Gebote, im Sinne von „du sollst nicht…“ politisches Handeln ersetzen, nach dem Motto, was mir nicht gefällt soll verboten werden. Es wird regelmäßig über das Ziel hinausgeschossen. So verwandeln sich eigentlich sinnvolle Regelungen für das Rauchen in der Öffentlichkeit und Restaurants zu Moralkeulen in einem regelrechten Kreuzzug.
„Die Gefängnisverwaltung, die alles gesetzlich zu regeln versucht, behauptet, das Gefängnis befinde sich in keiner Krise, die Gefangenen seien frei, insofern sie echte gefängnisverwaltungstreue Gefangene seien, während viele Gefangene der Meinung sind, das Gefängnis befinde sich in einer Krise, weil die Gefangenen nicht frei seien, sondern Gefangene.“ (Dürrenmatt)
Gefangene tragen keine Verantwortung. Wenn immer mehr Aufgaben und Pflichten an den Staat delegiert werden, wenn immer mehr Regeln den gesunden Menschverstand ersetzen, der bei einem überwiegenden Teil der Bevölkerung vorhanden ist, dann interessieren uns diese Aufgaben und Pflichten gar nicht mehr.
Wir verbannen Eigenverantwortung, Reflexion und Diskurs
Es wäre ja unsere Aufgabe, unsere Schüler zu lehren, mit dem Überangebot an Esswaren umgehen zu können, mit dem sie außerhalb der Klassenzimmer konfrontiert sind. Mit einer Verbannung, einem Verbot, verbannen wir auch Eigenverantwortung, Reflexion und Diskurs.
Nutznießer ist ein wachsendes Heer von Beamten, Präventionsforschern, Beratern, Case Managern, Bildungsbürokraten und Sozialarbeitern, welche die Sozialquote erhöhen, für die ein Normalbürger bereits sechs Monate im Jahr arbeiten muss. Und selbst dies reicht nicht aus, um alle öffentlich verordneten Aktivitäten bezahlen zu können. So muss sich der Staat weiter verschulden und überlässt es den künftigen Generationen, die heutigen Rechnungen zu bezahlen.
Und nicht selten verteidigen diese Kämpfer für den besseren Menschen ganz unverhohlen ihre eigenen Interessen, zum Beispiel, wenn Berufsverbände zusammen mit öffentlichen Institutionen Vorschriften für die Ausbildung erlassen, die dann als Eintrittsbarriere für neue Berufsangehörige wirken. Eine moderne Form der mittelalterlichen Zunftordnung.
„Wo alle verantwortlich sind, ist niemand verantwortlich“ (Dürrenmatt)
Während in unseren Nachbarländern solche Regelungen meistens ohne Einbezug der Betroffenen, also dem Stimmvolk, eingeführt werden, ist die Schweiz bekanntlich eine direkte Demokratie. Viele Gesetze müssen daher den Bürgerinnen und Bürgern vorgelegt werden. Gab es bei uns lange Zeit so etwas wie eine robuste Renitenz gegenüber Bevormundungsbestrebungen, so wird heute der Bevölkerung gedroht, dass man – wenn man von der EU auch weiterhin einen Marktzugang erhalten wolle – mitunter auf eigene Freiheiten verzichten müsse.
Heftig wird deshalb zurzeit über den automatischen Rechtsvollzug debattiert. Plastikstrohhalme, die Waffen der Milizwehrmänner zu Hause, Casinospielgesetze stehen zur Disposition und haben neuerdings reelle Chancen auf Mehrheiten. Die Schweizer Stimmberechtigten sind daran, sich schleichend selber zu entmündigen. Nicht die Schweizer Tugenden wie Fleiß, Pünktlichkeit und Ordnung werden hier aufs Spiel gesetzt, sondern die Eigenverantwortung, die dynamische Selbstbestimmung, die Entscheidungsfreudigkeit und der freie Geist. Leben ist auch Wagnis, Erfolg beruht auf Scheitern, Entwicklung auf Wettbewerb. Wann werden die Gefangenen revoltieren?
Einen Anfang machte ein Schüler von mir. Dimitri hieß er und er schrieb in unserer Schulhauszeitung: „Ich bin schlank, habe keine Probleme mit dem Gewicht, verhalte mich anständig und möchte mir ab und zu in der Pause ein Gipfeli leisten. Jetzt befiehlt man mir, die Mütze auszuziehen und Darwidaguetzli zu essen. Ich glaube ich ersticke hier langsam.“
Der Junge war damals 15 Jahre alt und hatte schon viel begriffen. Ich hingegen wurde als Verantwortlicher Lehrer der Schulhauszeitung dafür kritisiert, dieses Statement veröffentlicht zu haben.