Walter Naggl, Gastautor / 26.11.2022 / 12:00 / Foto: Pixabay / 57 / Seite ausdrucken

Droht Deutschland ein Abstieg wie Argentinien?

Von Walter Naggl.

Argentinien war einmal ein reiches Land, heute ist es ein Armenhaus. Auch Deutschland hat eine Reihe von verhängnisvollen Fehlentscheidungen getroffen. Droht uns jetzt ebenfalls der Absturz?

Große Organisationen, Unternehmen wie Staaten, halten viel aus. Daimler ließ sich das Milliardengrab Chrysler ans Bein binden, ohne darüber zu fallen. Reiht sich aber Fehlentscheidung an Fehlentscheidung, dann kommt es schlussendlich zum Absturz. Das Traditionsunternehmen AEG, einmal einer der größten Elektrokonzerne weltweit, zerbrach am Ende an einer ganzen Reihe von verlustbringenden Zukäufen. 

Wegen Reserven von Großorganisationen vollzieht sich der Abstieg oft erst langsam, wie ein Fluss vor dem Wasserfall. Es geht gemächlich abwärts, nichts Dramatisches passiert, bis an der Fallkante der Absturz kommt. 

Manchmal allerdings kommt das Ende durch eine einzige Weichenstellung, wie bei der Hoechst AG. Unter Mitwirkung des damaligen hessischen Umweltministers Joschka Fischer wurde 1994 der Vorstandsvorsitzende Hilger durch den Wall Street-geprägten Jürgen Dormann ersetzt. Dieser fusionierte die Hoechst AG mit der vergleichsweise unbedeutenden Rhone Poulenc zur Aventis SA und brachte den Firmensitz nach Straßburg. Was einmal die Hoechst AG war, ist heute ein Teil des Pharmakonzerns Sanofi mit Sitz in Paris.

Argentinien zählte bis in die 1940er Jahre zu den zehn reichsten Ländern der Welt. Heute ist das Land ein Armenhaus mit einer Inflation von über fünfzig Prozent. Den Abstieg leitete Juan Peron mit einer Politik der wirtschaftlichen Abschottung ein. Die versuchte Wende zur Industrialisierung misslang, und der Staat griff mit Preiskontrollen immer stärker in das Wirtschaftsgeschehen ein. Als weitere Gründe für den Niedergang gelten ein schlechtes Bildungssystem, schwache staatliche Institutionen und explodierende Staatsausgaben. Während die Bedeutung einzelner Fehlentwicklungen heftig diskutiert wird, herrscht Einigkeit darüber, dass der Niedergang das Ergebnis einer ganzen Kette von falschen Weichenstellungen war.

Ist Deutschland ein reiches Land?

Deutschland ist ein reiches Land, so wird immer behauptet. Fast scheint es absurd, das bestreiten zu wollen. So ist das mittlere Vermögen pro Erwachsenen in Deutschland etwa dreimal so hoch wie in Polen oder Ungarn und ein Vielfaches des mittleren Vermögens in Schwellenländern wie Indien. (Mittlerer Wert ist hier als Median definiert. Ordnet man alle Werte der Größe nach, so ergibt sich der Median als Wert in der Mitte. Er kommt der typischen Ausprägung am nächsten. Vermögen ist das Nettovermögen.)

Die Behauptung, dass Deutschland ein reiches Land sei, ist so zutreffend wie die Behauptung, dass Hertha BSC guten Fußball spielt. Hertha BSC spielt sicher besser als hunderte andere Vereine in Deutschland, liegt aber in seiner Liga, der Bundesliga, aktuell nur auf Platz 15 von 18. Deutschland ist in seiner Liga – nämlich der westeuropäischen Länder – ähnlich weit unten, und in diesem Sinne ist es nicht sonderlich reich. Nach der Erhebung von Credit Suisse war das Medianvermögen pro Erwachsenen in Deutschland Ende 2021 60.000 USD. Gut viermal höher war das Medianvermögen in Belgien, gut doppelt so hoch in den Niederlanden und Frankreich. Mit 122.000 USD respektive 104.000 USD war das Medianvermögen in Italien und Spanien weit höher als in Deutschland. Griechenland belegt mit 55.000 USD einen Platz knapp hinter Deutschland. 

Vergleicht man die genannten Länder nach der Wirtschaftsleistung, gemessen in BIP pro Kopf im Jahr 2020, so kommt man zu einer ganz anderen Rangfolge. Deutschland liegt mit 46.000 USD vor Belgien mit 44.000 USD, Frankreich mit 40.000 USD, Italien mit 31.000 USD oder Spanien mit 27.000. Griechenland liegt abgeschlagen bei 17.000 USD. Wie kann das sein?

Fehlentwicklungen, wohin man schaut

Falscher Umgang mit den Ersparnissen? Grundsätzlich verhält sich die deutsche Volkswirtschaft wie ein Musterschüler aus dem Lehrbuch. Die Überschüsse im Waren- und Dienstleistungshandel waren fast immer hoch. Sie stellen Ersparnisse dar, aus denen eine alte Volkswirtschaft im Prinzip über Zinseinnahmen die Renten finanzieren und Steuern senken kann. Nur leider besteht ein großer Teil dieser Ersparnisse aus Target2-Salden, mittlerweile in Höhe von 1.150 Milliarden Euro. Target2-Salden sind unverzinslich und können nicht fälliggestellt werden. Mit anderen Worten, sie sind wertlos. Wären die Target2-Salden werthaltig und würde man sie auf die rund 70 Millionen Erwachsenen im Lande verteilen, so ergäbe sich mit 76.000 USD ein Medianvermögen, das stärker im Einklang mit der wirtschaftlichen Leistung wäre. 

Man kann der Meinung sein, dass ein wirtschaftlich leistungsfähiges Land einen Aderlass wie die Target2-Salden verkraften kann. Aber kann es eine ganze Kette von falschen Weichenstellungen verkraften, zu denen laufend neue hinzukommen? Renten, die im europäischen Vergleich ebenso bescheiden sind wie die Vermögen, wobei Millionen Renten nicht das Sozialhilfeniveau erreichen. Ein soziales Netz, in dem bald Nichtbürger die Mehrheit der Leistungsempfänger stellen werden. Zweithöchste Steuerbelastung auf Arbeitseinkommen unter allen Industrienationen. Wenig erstaunlich, dass damit die Leistungsbereitschaft sinkt. Eine wuchernde Bürokratie, welche Unternehmertum unter sich begräbt. Schulbildung mit immer schlechteren Ergebnissen. Inflation der Verbraucherpreise von über 10 Prozent, bei Lebensmitteln über 20 Prozent. Institutionen wie die Presse, die ihre eigentliche Aufgabe der Überwachung nicht mehr wahrnehmen. Im Gegenteil, alle elf Minuten verlieben sich Journalist*innen (m/w/d) in ein Mitglied der Regierung. Kein Zweifel, es geht abwärts.

Die genannten Fehlentwicklungen sind nicht neu, und sie sind mehr oder weniger bekannt. Die Inflation der Lebensmittelpreise hat für Geringverdiener dramatische Auswirkungen. Doch für viele, vor allem die tonangebenden Schichten, ist das Umfeld heute so wie gestern. Es mag abwärts gehen um uns herum, aber so träge, dass schon wieder das Gefühl von Stabilität entsteht. Alles gut. Lauert denn da eine Fallkante, wo aus dem trägen Strom ein reißender Wasserfall entsteht?

Grüne Energiepolitik – ein Desaster

Ja, sie lauert, in Form einer verfehlten Energiepolitik. Sie erinnert an die verfehlte Industrialisierungspolitik der Peronisten durch staatliche Markteingriffe zum falschen Zeitpunkt. Sie ist verfehlt, weil der Anteil von Solar- und Windenergie an der gesamten Stromproduktion nicht beliebig gesteigert werden kann. Solar- und Windenergie müssen maximal im Verhältnis 60:40 durch grundlastfähige Kohle-, Gas- oder Kernkraftwerke ergänzt werden. Schließt man aber neben Kohle- auch Kernkraftwerke aus, so benötigt man Gas in hohen Mengen. Gas ist aber nicht nur aktuell teuer, es wird auch in Zukunft teuer bleiben, weil die Energienachfrage Asiens weiter steigt und weil Asien einen höheren Anteil der Stromerzeugung aus Gas anstrebt. Man will den Himmel über Delhi und Peking wieder sehen. Auf der Angebotsseite ist damit zu rechnen, dass die USA an die Grenzen ihrer Gasproduktion kommen und dann die Bereitschaft zum Export rapide abnehmen wird.

Die grüne Energiepolitik ist verfehlt, weil Deutschland aufgrund seiner geringen Fläche und nördlichen Lage kein guter Standort für Wind- und Sonnenenergie ist. Es gibt bessere. Zudem nimmt die Umwelt Schaden. Das Terminal zur Verflüssigung von LNG, das vor Wilhelmshaven entsteht, wurde von Australien aus Gründen der Umweltverträglichkeit abgelehnt. 

Die grüne Energiepolitik reißt vorhandene fossile und Kernkraftwerke ab, ohne ausreichenden Ersatz zu schaffen. Der chinesische Staatspräsident Xi sagt mit klarem Bezug auf die deutsche Energiepolitik: Wir werden das alte Haus nicht abreißen, bevor wir ein neues geschaffen haben. Heißt in der Praxis, dass China seine Kohleförderung in diesem Jahr um 300 Millionen Tonnen auf über vier Milliarden Tonnen erhöhen wird. Ob vor diesem Hintergrund der Kohleverbrauch Deutschlands in Höhe von 100 Millionen Tonnen auf null geht oder nicht, ist belanglos.

Die grüne Wirtschafts- und Energiepolitik kommt zu einem denkbar ungünstigen Zeitpunkt, wie die Politik der Peronisten. In Asien erreichen in diesem Jahrzehnt eine Milliarde Menschen die wirtschaftliche Mittelschicht. Sie werden einen entsprechenden Energiehunger entfalten, und Energie wird knapp bleiben. Das Abschalten von Kraftwerken hier wird noch lange Zeit Probleme schaffen.

Im Ergebnis wird die Energieversorgung in Deutschland noch viel kosten und unsicher werden. Verteuerung von Energie ist ja auch politisch gewollt. Die Inflation der Verbraucherpreise, die schon Ende letzten Jahres sechs Prozent erreichte, ist nun über 10 Prozent und wird aufgrund der Energiekosten hoch bleiben. 16 Prozent Inflation in zwei Jahren und kein Ende in Sicht. So etwas hat es in der Geschichte der Bundesrepublik noch nicht gegeben. Breite Schichten verlieren ein Großteil ihrer Ersparnisse und damit ihre Zukunftsperspektive. „Wirtschaften for keine future“ könnte man das in Anlehnung an einen Wahlspruch nennen. Ein sprachlicher Trümmerhaufen zur Ankündigung eines realen Trümmerhaufens. 

 

Dr. habil. Walter Naggl war langjähriger Mitarbeiter und Privatdozent am Institut für Statistik der Universität München mit Spezialgebiet Wirtschaftswissenschaften, insbesondere Konjunkturprognose, sowie selbstständiger Unternehmer.

Foto: Pixabay

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Leserpost

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Dr. Klaus Schmid / 26.11.2022

Das wird schief gehen. RotGrün wollen offensichtlich das leistungsfähige Deutschland abwracken, wohl um eine ausgeglichenere EU zu schaffen. Aber eine EU mit einem dem Libanon ähnlichen Multi-Chaos in der Mitte wird ein Desaster werden. Eben naive Zauberlehrlinge am Werk ...

W. Renner / 26.11.2022

Vielleicht gibts ja bald eine passende Binde gegen den Abstieg. Aufblasbar.

W. Renner / 26.11.2022

Dann singt der Udo „Hinterm Wasserfall gehts weiter“ … vermutlich auch wieder bergab, zumindest für alle Überlebenden, die selbstverständlich alle Widerstandskämpfer gewesen sind …

Gerd Alois Werz / 26.11.2022

Deutschland ist schon über die Fallkante hinaus. Am Anfang ist die Geschwindigkeit eben noch nicht hoch und die Menschen fühlen sich gut. Alle Indikatoren zeigen aber, dass es Abwärts geht. Beim Aufprall werden es die meisten Menschen dann aber spüren. Macht nichts, sie haben es verdient. Wie heißt es so treffend? “Nur die dümmsten Kälber wählen ihre Schlächter selber!”

W.Leich / 26.11.2022

Klimarettung als Grund für den Energieausstieg ? Das Magdalenenhochwasser 1342 zerstörte fast die gesamte Rhein-Main-Region. In vier Tagen fielen 175 Liter Regen pro Quadratmeter. Quellen sprudelten über, Hänge rutschten ab. 13 Milliarden Tonnen Boden gingen verloren. Die Flächen waren unfruchtbar geworden. Es folgten Hungersnot und Ungezieferplagen. Denkbar ist sogar, dass die darauffolgende Pestepidemie sich indirekt darauf zurückführen lässt. Vor zweitausend Jahren war Nordafrika (heute Tunesien) eine Kornkammer des Römischen Reiches, heute ist es eine Wüste. Und heute wird der Klimawandel als Folge der Industrialisierung begründet? Man mag darüber mal nachdenken !

Günter H. Probst / 26.11.2022

50% Inflation ist doch ein schönes Politziel, das die Maoanhänger, neben der Klimarattung, auf ihrem nächsten Parteitag beschließen könnten. Damit würde die Geldschwemme der EZB ganz schnell abgebaut, und die Geldvermögen und privaten Rentenversprechen eingestampft werden. Merkwürdig, daß die Wahlbürger nach der Stagnationsphase von 90 bis 20, den Abschwung nach 20 noch nicht gemerkt haben, und die Verursacher des Wohlstandverlustes immer wieder wählen. Ich freue mich auf die Jubelfeiern im nächsten Jahr zur Hundertjahrfeier des Währungszusammenbruchs.

giesemann gerhard / 26.11.2022

Argentinien ist so reich, dass die sich gar nicht so anstrengen müssen wie wir. Das ist der kleine Unterschied.

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