Jetzt soll es also doch eine rotrotgrüne Minderheitsregierung in Thüringen richten. Weil es sich nicht gehört, dass ein Ministerpräsident bei seiner Wahl auf Stimmen der AfD angewiesen ist, wie dies beim FDP-Mann Kemmerich der Fall war. Die Union erklärt sich also bereit, die Kröte der Tolerierung einer linken Regierung zu schlucken. Wohl bekomm‘s.
Wer nun aber meint, dass mit der Wahl des Regierungschefs das Problem der Neutralisierung der AfD-Fraktion im Landtag gelöst wäre, der dürfte sein blaues Wunder erleben. Die Kombination aus linken Regierungsfraktionen ohne eigene Mehrheit, bürgerlichen Oppositionsfraktionen und einer ziemlich großen Fraktion von Unberührbaren, die in ihrem Wahlverhalten frei und vor allem unkalkulierbar ist, dürfte für manche Überraschung gut sein in der laufenden Legislaturperiode.
Wollen Linke, Grüne, SPD, CDU und FDP ihr eisernes Gesetz „Nichts darf beschlossen werden, wenn es allein durch die Zustimmung der AfD zustande kommt“ ohne Abstriche durchziehen, werden sie eine Gratwanderung vollführen müssen und sich dabei womöglich nur durch streckenweise Selbstverleugnung vor dem Absturz retten können. Mir ist es jedenfalls ein Rätsel, wie das funktionieren soll.
Die allererste Frage lautet doch: Darf bei einer solchen Koalition ohne eigene Mehrheit die bürgerliche Opposition überhaupt noch eigene Anträge stellen, die ihrem konservativen Profil entsprechen? Bei denen also die Gefahr besteht, dass die linken Regierungsparteien die Anträge ablehnen, die AfD aber zustimmt – dies schon allein, um alle anderen zu ärgern? Und dann plötzlich die Mehrheit da ist, nur mithilfe der AfD? Neue Gesetze also, bei denen die AfD-Strategen hinterher lautstark vekünden können: Ohne uns hätte es sie nicht gegeben? Denkbar wäre hierbei schließlich Vieles: Schärfere Abschiebe-Regelungen, eine Umgehungsstraße, Kopftuchverbot an Schulen, Rückabwicklung von Schulreformen. Wären solche Politikansätze für CDU oder FDP in der Opposition ab sofort tabu?
Oder müssen in dem Fall dann die linken Regierungsparteien gegen ihren Willen zustimmen, damit die Stimmen der Unberührbaren unwichtig werden, eben neutralisiert?
Eine bizarre Situation
Aber auch was mögliche Projekte der linken Regierung selbst angeht, so wäre sie nicht gefeit dagegen, dass sie Unterstützung von blau erhält, aber auf Ablehnung bei schwarz-gelb stößt. Die so beliebten Aktionen gegen das Pflanzenschutzmittel Glyphosat sollte Rotrotgrün schon mal gleich vergessen. Hierbei würde die AfD nämlich sofort zustimmen, die Bauernfreunde der Union und die liberale FDP wohl kaum. Auch irgendwelche Ideen zur finanziellen Besserstellung der Armen dürfen SPD und Linke nur mit sehr spitzen Fingern anfassen. Achtung! Zustimmung droht, seitens der AfD; während das Thema andererseits nicht gerade nach einer Herzensangelegenheit von FDP und Union riecht.
Haben also die bürgerlichen Oppositionsparteien eine moralische Verpflichtung, die Regierung bei allen zweifelhaften Vorhaben zu unterstützen? Und muss im Gegenzug Rotrotgrün alle Anträge der Union durchwinken, damit auch von dieser Seite aus nichts anbrennt?
Erforderlich werden also künftig bei allen möglichen Gesetzesvorhaben, Anträgen oder Resolutionen intensive Konsultationen zwischen Regierung und einem Teil der Opposition, letztlich jeweils kleine Koalitionsverhandlungen, um nichts anbrennen zu lassen. Aber auch intensive Fraktionssitzungen, in denen die Abgeordneten auf den jeweiligen Kurs eingeschworen werden.
Das irgendwelche Gesetzesvorhaben einmal unplanmäßig nicht durchkamen, weil einzelne Angeordnete Gewissensbisse gekriegt haben, ist nichts Neues im Parlamentarismus. Es wird dann womöglich nachgebessert, und beim nächsten Mal klappt es vielleicht, oder auch nicht. Jetzt haben wir aber eine völlig andere Situation, eine denkbar bizarre: Die größte Gefahr wäre jetzt der Fall X: Dass ein Gesetz glatt durchkommt, aber eben mit den falschen Ja-Stimmen. Die Katastrophe. Was dann? Finden dann auch Nachbesserungen statt, um es bei der nächsten Abstimmung wieder kippen zu können, damit es nicht mit einem falschen Tonfall in die Geschichtsbücher eingeht?
Leute, macht euch auf was gefasst
Es wird kompliziert, Leute, macht euch auf was gefasst. Womöglich wird es auch ruppig.
Denn schon stellt sich eine weitere Frage: Kann man sich eine Konstellation aus Regierung und Opposition vorstellen, der ein größeres Erpressungspotential innewohnt als die, die sich jetzt anbahnt: Eine linke Minderheitsregierung und eine sehr starke Oppositions-Fraktion, die unbedingt neutralisiert bleiben soll? Ich meine hier Erpressung zwischen Koalition und Opposition, noch ganz ohne die Schurken der AfD im Hintergrund.
Man ist in gegenseitiger Anhängigkeit. Eine Schicksalsgemeinschaft aus Regierung und Opposition, auf Gedeih und Verderb aufeinander angewiesen – kann das gut gehen? Und wenn dann jener Fall X eintritt und die Hütte brennt, werden die gegenseitigen Schuldbezichtigungen das Parlament erzittern lassen.
Minderheitsregierungen sind ohnehin eine schwierige Angelegenheit, mit meist nicht sehr langer Halbwertzeit. Sie machen im Grunde nur dann Sinn, wenn das Prinzip von wechselnden Mehrheiten angepeilt wird, ansonsten hätte man schließlich gleich in Koalitionsverhandlungen einsteigen können. Wie aber sollen solche wechselnden Mehrheiten hergestellt werden, wenn die größte Oppositionsfraktion unbedingt draußen vor zu bleiben hat?
Eine vielsagende Präferenz der CDU-Vorsitzenden
Wer sich wem unterzuordnen gedenkt, hat die CDU-Bundesvorsitzende bereits angedeutet. Als sie nämlich noch am Tag seiner Wahl den Ministerpräsidenten zum Rücktritt aufforderte. Und zwar mit dem Argument aufforderte, Kemmerich fehle zum Regieren die Mehrheit im Parlament. Die Feststellung stimmt. Sie gilt aber auch für Rotrotgrün. Schwarzgelb wäre also lediglich auf die Unterstützung von Rotrotgrün angewiesen gewesen, die AKK offenbar ausschloss, die Gegenoption nicht.
Halten wir also fest, ganz unabhängig von der kritisierten Art der MP-Wahl: Der nun angepeilten Lösung, dass Schwarzgelb eine rotrotgrüne Regierung unterstützt, scheint der CDU-Chefin die größere Selbstverständlichkeit innezuwohnen als der umgekehrten Konstellation. Eine vielsagende Präferenz der CDU-Vorsitzenden.
Das alles zeigt das Dilemma auf, in dem sich heute Thüringen, morgen womöglich ganz andere Bundesländer oder auch der Bund befinden. Es zeigt deutlicher als je zuvor, was heute fehlt bei uns im Land: Eine konservative, bürgerliche, salon- und vor allem koalitionsfähige rechte Partei. Wer meint, so etwas sei heute einfach nicht mehr üblich oder nötig, der muss mit Thüringer Zuständen leben - und bitte gerne meine obigen Fragen beantworten: Wie soll das funktionieren?