Wer denkt an das Schicksal der vielen Abgewählten nach der letzten Bundestagswahl? Einer von ihnen ist Dr. Herbert Wollmann, Ex-SPD-MdB aus Stendal.
Die Bundestagswahl ist vorüber, und der Wähler (oder „das Wählende“, wie es ja korrekt heißen muss) hat sich ein neues Parlament zusammengewürfelt. Völlig ahnungs- und gnadenlos, welche einzelnen menschlichen Schicksale so an einer Schicksalswahl hängen. Christian Lindner ist weg, Kubicki war kurz weg und ist wieder da, wenngleich in der außerparlamentarischen Opposition, aus der er die FDP in neue, schwindelerregende Tiefen führen wird, und Robert Habeck war auch kurz weg, hat sich aber überzeugen lassen, doch weiterzumachen. ’S muss ja weitergehen, ’s muss ja weitergehen.
Emilia Fester kann nun wieder ihre Jugend genießen, für die sie drei Jahre und für die der Steuerzahler (pardon: das Steuerzahlende) etwa eine halbe Million Euro geopfert hat, dafür hat die SPD aber jetzt Timon Dzenius im Parlament, der lustige T-Shirts trägt. Ob er auch für TikTok und eine halbe Million Scheine tanzt, ist noch unklar.
Was aber ist mit den kleinen Abgeordneten? Denen, die einfach immer nur die Hand hoben oder senkten oder sich in Ausschüssen mit der Novelle der Schneidenschärfe in den Mahlwerken von Barista-Kaffeemaschinen beschäftigten? Wer denkt an all die braven Abgeordneten, die ein unbarmherziger Wähler nach Hause schickte?
Ich! Ich mache das.
Nehmen wir als Beispiel Dr. Herbert Wollmann. Dr. Herbert Wollmann von der SPD. Dr. Herbert Wollmann ist 1951 hauptsächlich in Berlin-Karlshorst geboren und wechselte 1992 nach Stendal, wo er das Herzkatheter-Labor des örtlichen Krankenhauses plante, aufbaute und leitete. Man könnte sagen, er war buchstäblich mit Herzblut bei der Sache.
Nicht einfach nur Stendal, sondern Super-Stendal
Im Ampeljahr 2021 kandidierte er sowohl als Direktkandidat, als auch, über den vorletzten Listenplatz 8 abgesichert, als Indirektkandidat auf der SPD-Liste von Sachsen-Anhalt. Stolze 27,5 Prozent fuhr der rüstige Rentner seinerzeit ein und wurde mit einem hübschen Schleudersitz im Bundestag belohnt. Dort arbeitete er irgendwie und irgendwas im Sport- und Gesundheitsausschuss des Deutschen Bundestags.
Aber das ist noch nicht alles! Was hat dieser Mann für Stendal, für Sachsen-Anhalt, für Deutschland nicht alles geleistet! So ist Dr. Wollmann beispielsweise „seit 1996 persönlich von Herrn Jüttung berufenes Vorstandsmitglied der Jüttung Stiftung!“ Das ist doch was! Das können die wenigsten von sich sagen! Außerdem spielt Dr. Wollmann Tischtennis! Und er rudert! Was für ein SPD-Mitglied ein gutes Training für Talkshows ist! Und als ob das nicht genug wäre: Er ist Deutscher Schülermeister im Vierer und Bronzemedaillenträger im Achter bei deutschen Meisterschaften! Und manchmal geht er auch Rennradlaufen und Skifahren. Oder so. Was sich eben gerade anbietet.
Und auch das ist noch lange nicht alles, leider! Er ist nämlich – gelernter Ossi – auch in der Stendaler Einheitsfraktion im Stadtrat Stendal, seit „2014 für die SPD, die seit der Wahl im Mai 2019 eine Fraktion mit Frau Carola Radtke (Ortsbürgermeisterin von Stendal-Wahrburg) und Dr. Marcus Faber (FDP, Mitglied des Bundestages) eingegangen ist und sich “Fraktion SPD, FDP, Ortsteile im Stadtrat der Hansestadt Stendal” nennt“. Jawohl. Damit aber immer noch nicht genug, oh nein: So war er im März 2015 sogar Ersatzkandidat für die Landtagswahl 2016! Das muss ihm erst einmal jemand nachmachen. Oder vormachen. Wenn er kann. Das ist doch nicht einfach nur Stendal, das ist Super-Stendal!
Und dann das! Dann kam die Shitsalswahl 2025, verursacht durch die Untreuen der FDP. Wie er der „Volksstimme“ noch am 6.2.2025 erzählte, will der Wundersenior „Wunder wiederholen“ und – nur für den wirklich unwahrscheinlichen Fall, dass es nur wunderlich statt wunderbar wird – „kommunalpolitisch aktiv bleiben“, da er „mit Sicherheit nicht den Rest seines Lebens auf einem Kreuzfahrtschiff“ verbringen will.
„Jeder Dritte, der mir begegnet, hat mich abgewählt“
Dr. Herbert Wollmann, Direktkandidat der SPD im Wahlkreis 66 Altmark – Jerichower Land, wurde gewählt. Aber nur mit 11,7 Prozent, noch hinter dem Mann der CDU und ganz weit hinter dem finsteren Thomas Korell, Dachdecker bei der AfD. Der unseren wackeren Helden mit 38,8 Prozent aller Stimmen – also dem Dreifachen dessen, was der rüstige Rentner erhielt – vernichtend schlug. Und obwohl Dr. Wollmann auch noch über den Listenplatz 5 abgesichert war, es half alles nichts. Für Dr. Wollmann war und ist jetzt ein Pappkarton mit seinen persönlichen Habseligkeiten, den er aus dem Bundestag tragen muss, seine letzte Amtshandlung als SPD-MdB.
Aber nicht mit Dr. Wollmann! Jedenfalls nicht so einfach. Wenn er gehen muss, dann nicht kampflos. Da darf dann schon einmal die gute alte Wählerbeschimpfung ran. Er hat dem heute-journal nämlich ein Interview gegeben. Wörtlich sagte er: „Wenn ich mir vorstelle, jeder Dritte, der mir begegnet, hat mich abgewählt oder läuft der AfD hinterher oder sieht nicht, was er eigentlich gewählt hat, Höcke und was dahinter kommt, dann finde ich das schon sehr bedenklich! Da überlegt man sich manchmal: Willst Du hier überhaupt noch leben?“
Augenscheinlich will Dr. Herbert Wollmann genau das nicht. Er wird umziehen. Weg von Stendal, da, wo er Mitglied im Einheits-Stadtrat war, weg von den undankbaren Stendalern, die ihn ABGEWÄHLT und stattdessen der finsteren Brut Mordors ihre Stimme geliehen haben, weg von jedem Dritten, der Hitler gewählt hat, weg von ihnen, den Undankbaren, den Gemeinen, den dreckigen Stimmzettelfalschausfüllern, die einen Dr. Herbert Wollmann gar nicht verdient haben! Die ihn gegen einen Dachdecker aus dem dunklen Ossiland ausgetauscht haben!
Dr. Wollmann geht. Möge Gott ihn schützen. Vor jedem dritten Stendaler. So wie ihm geht es vielen Grünen- und SPD-Radfahrenden in diesen Tagen. Menschen, die heute Deutschland und morgen die ganze Welt retten wollten. Abgewählt. Abgelehnt. Ich sehe ihn vor mir: Mit seinem Papierkarton, der Ernennungsurkunde von Herrn Jüttung und dem Ruderpokal der Schülermeister im Vierer der Deutschen Demokratischen Republik von 1968 oder so. Ein letzter Blick, bevor der AfD-Mann einmarschiert. Und beim Hinausgehen summt er die Internationale.
(Weitere traurige Schicksal des Autors unter http://www.politticker.de)
Von Thilo Schneider ist in der Achgut-Edition erschienen: The Dark Side of the Mittelschicht, Achgut-Edition, 224 Seiten, 22 Euro.