Die Rolle der Briten bei der Gründung des jüdischen Staates war zwiespältig. Bis heute bleibt das Verhältnis zwischen Israel und Großbritannien heikel und von seiner Vorgeschichte überschattet.
Die kürzlich gewählte Labour-Regierung in London hat einen Teil ihrer Waffen-Exporte nach Israel gekündigt, was große Bewegung in israelischen Medien auslöste. Dabei ist es ein Schritt von eher symbolischer Wirkung, da Britanniens Lieferungen nicht mal ein Prozent der israelischen Rüstungsimporte ausmachen. Indessen zählt in der Politik oft gerade das Symbolische – zumal in einer so mit bedeutungsschwerer Vergangenheit beladenen, ambivalenten, oft zum Zerreißen gespannten Beziehung wie der zwischen dem Vereinigten Königreich und Israel.
Englische Professoren erklären ihren Studenten, der jüdische Staat im Nahen Osten verdanke seine Existenz eigentlich ihnen, den Briten. Ich habe es einst als Visiting Lecturer an einer Universität in Mittelengland wörtlich so gehört. Und so viel ist richtig: Es war die sogenannte Balfour-Deklaration, ein am 2. November 1917 geschriebener Brief von nur einem Dutzend Zeilen, unterzeichnet vom britischen Außenminister Lord Balfour, gerichtet an den britischen Parlamentsabgeordneten und Zionistenführer Lord Walter Rothschild, der die Gründung eines jüdischen Staates im Nahen Osten ins Rollen brachte. Zu den Anregern jenes Briefes gehörte der in England lebende Chaim Weizmann, der im Unterschied zu anderen führenden Zionisten auf der Staatsform bestand: keine „Kulturgemeinschaft“, Siedler-Assoziation oder andere lockere Form von Zusammenschluss sollte es werden, sondern ein richtiger Staat nach europäischem Muster.
Der entscheidende Satz der Balfour-Deklaration lautet:
„Die Regierung Seiner Majestät betrachtet mit Wohlwollen die Errichtung einer nationalen Heimstätte für das jüdische Volk in Palästina und wird ihr Bestes tun, die Erreichung dieses Zieles zu erleichtern“, es folgen zwei Bedingungen: Weder dürften durch diese Gründung die Rechte der „bestehenden nicht-jüdischen Gemeinschaften in Palästina“ beeinträchtigt werden noch die der Juden, die in anderen Ländern lebten.
Eine solche Erklärung durch die Regierung Großbritanniens hatte damals enormes, völkerrechtlich relevantes Gewicht: Die Engländer waren im Begriff, gemeinsam mit ihren Alliierten den Ersten Weltkrieg zu gewinnen, vor allem den Krieg im Nahen Osten gegen das osmanisch-türkische Großreich, das mit Deutschland verbündet war. Die britische Regierung erhoffte sich von ihrem offenen Eintreten für das zionistische Projekt die Unterstützung einflussreicher – vor allem amerikanischer – jüdischer Kreise im Ersten Weltkrieg, aber auch später, für eine britische Dominanz im Mittleren Osten. Zwei Tage vor der Niederschrift der Balfour-Deklaration eroberten britische Truppen die zentrale Wüstenstadt Beer-Sheva im Negev, eine Woche später die Küstenstadt Gaza, womit der Weg frei wurde zur Einnahme von Damaskus und zu einer drei Jahrzehnte währenden britischen Vorherrschaft im Nahen Osten.
Groll der arabischen Wüstenstämme gegen die türkische Obrigkeit
Beträchtlichen Anteil an den britischen Siegen gegen die Türken hatte das Übergehen Hussains, des Emirs von Mekka, den die osmanische Regierung als „Sherif“, als höchsten Vertreter ihrer arabischen Untertanen eingesetzt hatte, mit seiner Streitmacht von mehreren tausend Beduinenkriegern auf die Seite der Engländer. Hier entlud sich seit der Jahrhunderten aufgestaute Groll der arabischen Wüstenstämme, die im osmanischen Reich in Verachtung, zunehmend im Elend lebten, gegen die türkische Obrigkeit.
Nahost-Reisende und Forscher wie der Schweizer Johann Ludwig Burckhardt, der um 1800 im Auftrag der britischen African Association den Nahen Osten bereiste, hatten immer wieder auf das Potenzial der frustrierten, von den Osmanen unterdrückten Wüstenaraber hingewiesen. Burckhardt, aus der bekannten Baseler Familie, verfügte über exzellente Sprach- und Landeskenntnisse, sein Arabisch war besser als das vieler Araber (er klagte in Briefen über die mangelnden Grammatik-Kenntnisse seiner Geschäftspartner in Aleppo), und seine später in mehreren Büchern veröffentlichten Einblicke in das Innenleben und die Mentalität der arabischen Stämme sind von bis heute unübertroffener Authentizität.
Hundert Jahre nach Burckhardts frühem Tod (er starb 33-jährig 1817 in Kairo) kam die britische Regierung auf seine politischen Analysen zurück und reagierte positiv auf die Pläne einer arabischen Rebellion gegen die verhasste türkische Kolonialmacht, die Faisal, Sohn des Emirs von Mekka, um 1915 suggerierte. Gertrude Bell, eine britische Millionärstochter und Geheimdienst-Mitarbeiterin, empfahl ihren Freund Faisal zugleich als künftigen König eines zu schaffenden arabischen Staates.
Denn das war Faisals und seines Bruders Abdallah Bedingung für ihre Waffenhilfe gegen die Türken: die Erfüllung der alten Sehnsucht nach einem arabischen Staat. Seit 1250 war das islamische Reich von Nicht-Arabern regiert worden, erst von den Mamelucken, dann von den Ottomanen; und die Araber des Hedshas, die eigentlich den Islam in die Welt gebracht hatten, lebten darin als weitgehend machtlose, zunehmend verachtete Minderheit. Der junge Geheimdienstoffizier Thomas Edward Lawrence, ein Archäologe und Linguist aus Oxford, später ein begabter Schriftsteller, dessen Erinnerungen an den Wüstenkrieg, The Seven Pillars of Wisdom, zu den einfühlsamsten Büchern über den Nahen Osten gehören, fungierte als Verbindungsmann zwischen dem englischen Oberkommando und den gegen die Türken kämpfenden arabischen Stämmen. Die Briten gaben also 1917 zwei Staatsversprechen im Nahen Osten: eins den Juden mit der Balfour-Erklärung, das andere dem Emir von Mekka für einen nach dem gewonnenen Krieg zu gründenden arabischen Staat.
Großbritannien, Siegermacht des Ersten Weltkriegs, dominierte den Nahen Osten
Es wurden derer gleich drei: Irak, Syrien und Jordanien. Für mehrere Jahrzehnte dominierte Großbritannien, Siegermacht des Ersten Weltkriegs, den Nahen Osten, teilte ihn auf und schuf Staaten. Im Grunde ist die heutige staatliche Struktur der Region, mitsamt ihren Konflikten, britisches Erbe. Das Emirat und spätere Königreich Jordanien entstand 1923 durch Abtrennung vom eigentlich den Juden zugedachten Mandatsgebiet, um Abdallah, den zweiten Sohn des Emirs von Mekka, für seine Kriegsdienste zu belohnen. Sein älterer Bruder Faisal wurde König im Irak. Syrien und auch den damals überwiegend von Christen bewohnten Küstenstreifen Libanon überließen die Briten 1920 auf der Konferenz von San Remo ihrem Weltkriegs-Alliierten Frankreich. Während die Araber mit gigantischen Gebieten bedacht wurden, blieb für die Juden das Gebiet zwischen Jordan und dem Mittelmeer, wo nach dem 1922 getroffenen Beschluss des Völkerbundes unter britischem Mandat die versprochene „Schaffung einer nationalen Heimstätte“ für das jüdische Volk in die Tat umgesetzt werden sollte: „close settlement by Jews on the land“.
Dagegen regte sich bald arabischer Widerstand. Bereits in den frühen Zwanziger Jahren, als die jüdische Einwanderung ins Mandatsgebiet – ermutigt von den Erklärungen des Völkerbundes – dramatisch zunahm. Schon seit der Jahrhundertwende hatte der Jüdische Nationalfonds Keren Kayemet Ländereien von türkisch-osmanischen oder arabischen Großgrundbesitzen aufgekauft – die ihrerseits of im Ausland lebten –, wodurch tausende arabische Pächter und Bauern ihre Existenzgrundlage verloren. Die jüdischen Agenturen verpachteten das von ihnen gekaufte Land grundsätzlich nur an Juden – das war nicht sehr generös, aber naheliegend, wenn man „close settlement of Jews“ in die Tat umsetzen wollte.
Vor allem europäische und russische Juden wanderten damals ein, über einhunderttausend im Verlauf der zwanziger Jahre, die – falls sie es nicht schon vorher waren – hart und verwegen wurden beim Trockenlegen von Sümpfen, Ackern auf steiniger Scholle, Anlegen von Plantagen in der Wüste. Erste Zusammenstöße zwischen den jungen Siedlern und den arabischen Fellachen, 1921 ein erstes Massaker in Jaffo, 1926 der arabische Aufstand, 1929 das große Massaker in Hebron, bei dem Dutzende Juden grausam ermordet wurden, darunter Frauen und Kleinkinder. Die britische Ordnungsmacht griff nur halbherzig ein.
Zwar versuchte der Kommandeur der britischen Truppen in Hebron, Raymond Cafferata, weitere Bluttaten zu verhindern, doch seine Bitte um Verstärkung wurde von den Vorgesetzten in Jerusalem abgelehnt, da es auch dort zu antijüdischen Ausschreitungen gekommen war. Die überlebenden Hebroner Juden wurden von der britischen Polizei gezwungen, die Stadt zu verlassen.
Die Briten setzten ihre Restriktionen gnadenlos um
Auch damals bestand die Forderung der politischen Führer der Araber – etwa des berüchtigten, später mit Hitler kollaborierenden Großmufti von Jerusalem, Amin al-Husseini – in der Überlassung des gesamten britischen Mandatsgebiets zwecks Gründung eines weiteren arabischen Staates. Diese Forderung – bis heute lebendig in der Parole der pro-palästinensischen Demonstranten „From the river to the sea“ – stand auch hinter den meist „Arabischer Aufstand“ genannten Sabotageakten und Guerilla-Attacken von 1936, die insgesamt drei Jahre dauern sollten und tausende Tote forderten. Die Briten reagierten zunehmend mit Zugeständnissen gegenüber der arabischen Seite. Das größte war die Begrenzung der jüdischen Einwanderung ausgerechnet 1939, kurz vor Beginn des Zweiten Weltkriegs, der viele Juden zur Flucht aus Europa nötigte.
Im Mai 1939 veröffentlichte die britische Regierung das „Weißbuch“ (White Paper), ein Konzept zur Eindämmung der vom Völkerbund gebotenen jüdischen Einwanderung ins Mandatsgebiet: nur noch 10.000 Juden jährlich durften dort einreisen, eine lächerliche Zahl angesichts der Hunderttausenden, die aus Europa fliehen mussten. Das „Weißbuch“ versuchte nachzuweisen, dass die natürlichen Ressourcen des Gebiets nicht ausreichten, alle jüdischen Einwanderer aufzunehmen. (So wurde berechnet, das Land könne nur einhunderttausend Menschen mit Trinkwasser versorgen – heute versorgt das israelische Wassersystem Mekorot, gestützt auf neue Technologien der Meerwasserentsalzung, zehn Millionen Israelis, dazu noch Jordanien und die Palästinensergebiete). Und die Briten setzten ihre Restriktionen gnadenlos um. Sie hinderten ganze Einwanderer-Schiffe (Foto oben) am Anlegen in den Häfen des Mandatsgebiets und deportierten die eben Gefüchteten in Lager auf Zypern, in einigen Fällen sogar zurück nach Europa.
Dabei kam es zu Todesopfern. So waren die ersten von den Briten getöteten Gegner im Zweiten Weltkrieg nicht etwa Soldaten der Deutschen Wehrmacht, sondern Juden. Am 2. September 1939 beschoss die British Royal Navy das Einwandererschiff Tiger Hill mit 1.400 Flüchtlingen aus Osteuropa. Es gab mehrere Tote, nur 200 der Passagiere schafften es ans Ufer, wo eine Menschenmenge wartete, alle anderen wurden im Internierungslager Sarafand inhaftiert. Die Passagiere des Schiffes Exodus deportierte man 1947 sogar zurück nach Deutschland. Schon damals war das Verhältnis zwischen der Mandatsmacht und den jüdischen Organisationen zerrüttet. Es verschlechterte sich – auch wegen des bewaffneten Widerstands der Haganah und anderer jüdischer Gruppen – bis zum Herbst 1947 so sehr, dass die Briten ihr Mandat an die UN, die Nachfolge-Organisation des Völkerbundes, zurückgaben.
Kurz darauf beschlossen die UN den Teilungsplan, festgehalten in der UN-Resolution 181, der den Weg ebnete für die Gründung eines jüdischen Staates. Auch hier hatten nochmals die Briten ihre Hand im Spiel, denn der Teilungsplan folgte einer Empfehlung der britischen Peel-Kommission von 1937. Aus strategischen Gründen lag ihnen daran, den Küstenstreifen zum Mittelmeer möglichst der arabischen Kontrolle zu entziehen. Bei der entscheidenden Abstimmung 1947 verweigerte Großbritannien jedoch die Zustimmung. Bis heute bleibt das Verhältnis zwischen Israel und Großbritannien heikel und von seiner Vorgeschichte überschattet, einer Geschichte von kolonialen Ambitionen, doppeltem Spiel und Verrat.
Dieser Beitrag erschien zuerst in der Neuen Zürcher Zeitung (NZZ).
Chaim Noll wurde 1954 unter dem Namen Hans Noll in Ostberlin geboren. Seit 1995 lebt er in Israel, in der Wüste Negev. Chaim Noll unterrichtet neben seiner schriftstellerischen Tätigkeit an der Universität Be’er Sheva und reist regelmäßig zu Lesungen und Vorträgen nach Deutschland. In der Achgut-Edition ist von ihm erschienen „Der Rufer aus der Wüste – Wie 16 Merkel-Jahre Deutschland ramponiert haben. Eine Ansage aus dem Exil in Israel“.