Chaim Noll / 14.06.2020 / 08:53 / Foto: Freud / 83 / Seite ausdrucken

Massenhysterie: „Don’t go with the flow“

Wo ist Greta Thunberg? Ich will nicht behaupten, dass ich sie vermisse, trotzdem mache ich mir Gedanken, wie sie so sang- und klanglos verschwinden  konnte. Wochen lang haben wir täglich von ihr gehört und gelesen, ihre verfusselten Schals und Hoodies in Nahaufnahme gesehen, sie hielt Reden vor den Vereinten Nationen, konferierte mit Staatsoberhäuptern, überquerte Ozeane unter Kamera-Begleitung, ihr blasses, kaum erkennbares Lächeln, ihr Stirnrunzeln waren Schlagzeilen wert.

Dann kam Corona und nach Corona die Black-Lives-Matter-Bewegung mit einem neuen Heiligen, und irgendwo im halb Verborgenen lauert schon die nächste atemberaubende Aufregung mitsamt ihren anbetungswürdigen Figuren. Wir leben in einer Zeit massenhysterischer Aufwallungen. Da die Wirtschaft in den letzten zwei Jahrzehnten gnadenlos globalisiert wurde, treten auch die Massenpsychosen global in Erscheinung. Und geben uns das Gefühl im Wortsinn welterschütternder Ereignisse.

Wie verhält man sich in solchen Tagen? Wie bewahrt man die zum Überleben nötige Ruhe, wie erhält man seine psychische Gesundheit in den Stoßwellen immer neuer Elektroschocks? Den Rummel ignorieren? Nicht selten verwandelt sich die Hysterie in Massenpanik, dann muss man im Bilde sein, reagieren, Entscheidungen treffen. Andererseits weiß jeder Viehhirt: Es ist lebensgefährlich, sich einer Stampede frontal entgegenzustellen. Die in Panik geratene Herde zertritt alles, was ihr im Wege steht. In den Tagen der Greta-Hysterie oder der „Kampf-gegen-Rechts“-Mobilisierung konnte ein zweifelndes Wort zu ernsthaften existenziellen Schäden führen, zum Abbruch von geschäftlichen Beziehungen, zum Ende von Freundschaften, zum Verlust des Arbeitsplatzes, zu Ausgrenzung und Ächtung.

Also lieber Mitmachen, und sei es zum Schein? Die amerikanische Autorin Amanda Ripley, eine Spezialistin für Crowd Dynamics, rät auch davon dringend ab. „Don't go with the flow“, schrieb sie in einem 2009 erschienenen Essay, Lass dich nicht von der Strömung mitreißen. Sie empfiehlt, sich aus großen, dichten, in eine bestimmte Richtung drängenden Menschenmassen herauszuhalten, im direkten wie übertragenen Sinn. „Inmitten von etwas“ zu sein, von Gleichgerichteten umringt, womöglich „von allen vier Seiten“, sei ein deutliches Zeichen, dass man sofort nach einem Fluchtweg Ausschau halten müsse. Man solle sich schrittweise seitwärts bewegen, empfiehlt Ripley, um langsam, aber sicher den Rand des strudelnden Stromes zu erreichen. Die alten Chinesen haben es noch kürzer und deutlicher gesagt: „Nur tote Fische schwimmen mit dem Strom“.

„Unfehlbarkeit“ der Mehrheit?

Festzuhalten ist, dass beide Quellen das Mitschwimmen, Mitlaufen, das gedankenlose oder opportunistische Mitmachen für etwas Lebensgefährliches halten. Das wird denen, die sich in großen Menschenmengen, in Mehrheiten sicher dünken, unbegreiflich bleiben. Obwohl historische Erfahrung – gerade aus der jüngeren deutschen Geschichte – dafür spricht, Mehrheiten unter Umständen zu misstrauen. (Vor allem, wenn man sicher sein kann, ob es sich nicht nur um gut orchestrierte, medial überrepräsentierte Minderheiten handelt). Erschwerend wirkt sich aus, dass wir alle in Respekt vor der Mehrheit erzogen sind, weil Demokratien auf Mehrheitsentscheidungen beruhen. Es ist dennoch verhängnisvoll, von einer „Unfehlbarkeit“ der Mehrheit auszugehen (wie früher der des Papstes). Die Bibel selbst wusste es besser: „Folge nicht der Mehrheit zum Bösen“, heißt es im Buch Exodus 23,2. Das Problem ist also schon seit einigen tausend Jahren bekannt.

Vom Brand des Wiener Ring-Theaters 1881 ist eine Geschichte überliefert, für die ich mich nicht verbürgen kann. Meine Großmutter hat sie mir erzählt, die solche Geschichten liebte. Sie selbst hatte sich als Jüdin während der NS-Zeit in einer Flucht nach vorn mit den Behörden angelegt, weshalb sie zuerst in längere Gestapo-Haft kam und daher sehr spät ins KZ Theresienstadt, zu spät, um noch nach Auschwitz ins Gas transportiert zu werden. Sie führte ihr Überleben auf ihr abweichendes, wagemutiges Verhalten zurück.

Beim Brand des Wiener Ring-Theaters wehte der brennende Vorhang von der Bühne ins Publikum, bei der ausbrechenden Massenpanik starben mehrere hundert Menschen, die meisten dadurch, dass sie im Gedränge an den Theaterausgängen erstickt und zertreten wurden. Überlebt hätten unter anderem die wenigen Verwegenen, so erzählte meine Großmutter, die entgegen der allgemeinen Bewegung den Mut aufbrachten, in Richtung Bühne (und von dort durch einen wenig frequentierten Bühnenausgang aus dem Theater) zu flüchten, obwohl von dort das Feuer kam.

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Test 45: 60606

Belo Zibé / 14.06.2020

Es bedarf wohl immer einer gewissen Masse, will sich etwas Neues etablieren. Gefährlich wird es, wenn die Stimmen derer, die am Rande der Strömung stehen nicht mehr wahrgenommen werden können oder dürfen.Oft sind es dann jene Stimmen, nach denen nach verheerenden Massenhysterien gesucht wird, um ihnen ein Denkmal zu errichten. Plötzlich werden jene zu Stars, deren gesellschaftlich-berufliche Existenz wenige Dekaden zuvor zerstört wurde , die Todgeweihte waren oder ihr Leben sogar verloren. Gerade der Denkmalbaumeister Deutschland sollte aus seiner jüngsten Geschichte gelernt haben , dass mit zunehmender Intensität von Glaubensbekenntnissen , der Anbetung eines neuer Ideale , auch die Notwendigkeit offener Ohren zunehmen muss.

Geert Aufderhaydn / 14.06.2020

"Etiam si omnes, ego non". (Auch, wenn alle es tun - ich nicht!") Rechtsanwalt Joachim Steinhöfel hatte diesen Wahlspruch einige Zeit ganz oben in seiner Homepage. Nun ist er weg, warum?

Rainer C. Ment / 14.06.2020

@Rolf Lindner. Der Brand im Tunnel von Kaprun kam mir auch als erstes in den Sinn, nach dem im Artikel erwähnten Theaterbrand. Es sollen sogar einige wenige den Weg nach unten gefunden und überlebt haben. Es hat oft Vorteile, sich antizyklisch zu verhalten oder entgegen einer kurzfristig auftretenden Hysterie. Viele der hier im Forum geäußerten Gedanken und Aphorismen sprechen mir aus der Seele. Allein, es bleibt der Zweifel, ob man selbst in einer entsprechenden Situation unter Handlungszwang und Entscheidungsdruck die nötige Gelassenheit hätte, zu widerstehen bzw. das "Richtige" zu tun.

Gert Köppe / 14.06.2020

Meiner Meinung nach sollte man keiner Mehrheit hinterher rennen ohne wenigstens den Sinn der Strömung zu hinterfragen. Ich sage immer, wenn die Mehrheit sich morgen dazu entscheiden würde sich kopfüber vom Hochhaus zu stürzen, dann springe ich doch ganz sicher nicht einfach hinterher. Warum sollte ich auch? Deshalb zählt auch die ständige Phrase "Das machen doch alle so!" für mich nichts. Ich bin ich und nicht "Alle". Schon allein damit bin ich jedem Kollektivisten und Gleichmacher ein Dorn im Auge. Zumal hier in Deutschland, wo sich eine Minderheit postum zur Mehrheit aufschwingt, weil sie die relevanten Institutionen für sich gekapert haben, sollte man sich gut überlegen, wem man vertraut. Wer die Deutungshoheit an sich gerissen hat ist damit noch lange keine Mehrheit. Auch im SED-Staat DDR war es nicht anders. Von den 17 Millionen DDR-Bürgern waren doch nicht 15 Millionen Kommunisten. Ganz und gar nicht. Auch dort herrschte eine Minderheit, mit Hilfe eines Unterdrückungs-Apparates, der Stasi, über die Mehrheit der Menschen. Hier entwickelt es sich in die gleiche Richtung. In dem Fall haben Sie, Herr Noll, Recht. Man ist gut beraten rechtzeitig aus dem Strom der vermeintlichen Mehrheit, die in Wahrheit keine ist, seitlich auszuscheren. Nicht nur tote Fische und Abfall schwimmen mit dem Strom, der Strom fließt auch immer nur bergab. Aufwärts wird es so nicht gehen, im Gegenteil. So langsam glaube ich das nur noch eine echte Naturkatastrophe, größeren Ausmaßes, die Menschen aus diesem weltweiten Irrsinn befreien kann. Der Schwachsinn muss erst unter gehen sonst hat die Vernunft keinen Platz.

Christoph Kaiser / 14.06.2020

Und wo steht: "Lasst sie fahren, die blinden Blindenleiter!" ....?

toni Keller / 14.06.2020

Wir erleben im Moment ein interessantes Phänomen: wer es auch nur wagt die staatlichen Zwangsmaßnahmen in Frage zu stellen, wer es auch nur wagt vorsichtig nach der Sinnhaftigkeit und der Angemessenheit der Coronamaßnahmen zu fragen, dem wird sofort unterstellt ganz böse zu sein.Früher war das so, dass man Leuten die sich nach einem starken Staat sehnten, Leuten die nicht permanent den Staat und seine Maßnahmen kritisierten und Leute die nicht permanent die Autoritäten hinterfragten in die rechte Ecke stellte.Rechte waren konform, Linke dachten quer, so das Narrativ.Heute ist es komplett umgedreht!Um noch ein chinesisches Sprichwort beizusteuern: Es gibt angeblich einen chinesischen Fluch der da lautet: "Mögest du in interessanten Zeiten leben.

Wolf Hagen / 14.06.2020

Es sind gefährliche Zeiten, in den wir momentan leben, nicht nur wegen Corona- und Multiresistenten-Viren, die einen überall ereilen können, sondern und gerade auch, wenn man sich auf die Face-to-Face-Kommunikation mit anderen Menschen einlässt. Verlässt man die halbwegs sicheren eigenen vier Wände, läuft man Gefahr Opfer eines Einzelfalls zu werden, der meist von einem gewissen "Ein Mann" verübt wird (oder eben Ein MännerIn). Will man solches vermeiden und meidet deshalb EinMännerInnen ist das mit Sicherheit irgendwie rassistisch, weswegen man nun in Gefahr ist Job, Freunde und überhaupt der Menschenrechte verlustig zu werden, oder Opfer der örtlichen AntiFa-Gruppe, die selbstverständlich nur Haltung für das Gute zeigen wollte. Selbst im beruflichen Alltag lauert überall der Rassismus, wie der weltbewegende Rossmann-Zwischenfall in Berlin zeigt (nicht zu Verwechseln mit dem Roswell-Zwischenfall), denn dort wurde einer farbigen Dame mit deutschem Namen, eben jener nicht geglaubt, als sie mit Kreditkarte bezahlen wollte! Ein Rassist, wer nun daran denkt, es wäre möglich, dass der Kassiererin schon öfters ausländisch aussehende EinMännerInnen gefälschte Karten unter die rassistische, weisse Nase hielten. Ergo wurde nun die Polizei gerufen die, man ahnt es schon, erst einmal davon ausging, dass der rassistische Verdacht der Kassierin richtig sein könnte und zwar aus den gleichen rassistischen Gründen, die schon den Verdacht der Kassiererin erregten. Dies war allerdings falsch. Am Ende musste ein heldenhafter Abgeordneter der SED das Ganze natürlich publikumswirksam ins Netz stellen, mit der Folge, dass die wirtschaftliche Existenz des Polizeibeamten und der Kassierin nun wahrscheinlich dahin sind. Eine einfache Entschuldigung hätte es nämlich nicht getan, bei soviel Rassismus! Also besser zuhause bleiben und bloß nicht kommunizieren, wogegen ich ja gerade selbst verstoße. Noch gehe ich die Gefahr ein.

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