Documenta: Wie konnte das nur passieren?

Wie konnte der Antisemitismusskandal auf der documenta nur geschehen? Vermutlich sind wir nicht weniger ignorant als die Deutschen vor 100 Jahren.

Ich glaube nicht, dass die Leute vor 100 Jahren – vor Hitlers Machtantritt – so furchtbar anders waren, als wir es heute sind. Zumindest nicht in existenziellen Dingen. Und existenziell ist die Frage nach dem Umgang mit dem Antisemitismus auf der documenta 15. Wenn Sie also wissen wollen, wie es sein konnte, dass Leute, die vermutlich noch nicht mal etwas gegen ihre jüdischen Nachbarn und Kollegen hatten, so derart indifferent, zweideutig, egozentrisch oder blind sein konnten, müssen Sie dieser Tage nur nach Berlin und Kassel schauen, sich in Erinnerung rufen, wie in den Medien über die ersten Antisemitismusvorwürfe seit Januar gesprochen und geschrieben wurde und wie die zuständigen Politiker darauf reagierten.

Ich kenne keine Juden oder Nichtjuden – zumindest nicht persönlich –, die Heiko Maas abgenommen hätten, dass er „wegen Auschwitz“ in die Politik gegangen sei. Wäre dem so gewesen, hätte er anders gehandelt, als er die Möglichkeit dazu hatte. Ich kenne auch keine Juden oder Nichtjuden, die sonderlich viel auf die Kasseler Polit-Blase geben, Claudia Roth für eine ehrliche Haut in Sachen documenta halten, für willens oder gar für fähig, das Desaster aufzuklären und für die Folgen geradezustehen. Schon alleine die Idee, Projekte zur NS-Geschichte nach Kassel zu schicken, anstatt über die Israel-Boykott-Kampagne, Palästinasolidarität und linken Antisemitismus zu reden, zeigt doch, wie wenig der Kultur-, Medien- und Politbetrieb von dem begriffen hat, was seit dem Bundestagsbeschluss gegen BDS von 2019 in Deutschland vor sich geht.

Es gibt Moderatoren im öffentlich-rechtlichen Rundfunk, die die Brauen hochziehen und gelangweilt die Augen verdrehen – höre ich zumindest aus ihren Stimmlagen und ihrem Tonfall heraus – und über alles zu reden bereit sind, nur eben nicht über Antisemitismus auf der documenta, weil das für ihren Geschmack schon viel zu oft geschehen ist und es schließlich noch anderes gibt, über das es sich zu reden lohnt, und die documenta schließlich nicht nur aus Antisemitismus bestünde. Gibt schließlich noch andere, die gelitten haben. Die Schwarzen. Die Muslime und so weiter.

Ich vermute, dass es vielen Deutschen damasl egal gewesen ist, was mit den Juden wird – nörgeln sowieso immer rum –, dass sie froh gewesen sind, als sie endlich weg waren und Genugtuung empfanden, dass sie glaubten, dass ihnen schon recht geschieht, dass sie schließlich dieses oder jenes getan hätten, über das man sich nur empören kann, dass sie dieses oder jenes wären, das man ganz entschieden ablehnt und weit von sich weisen würde. Dass sie einem eh nur Schaden zufügen oder Scherereien bereiten, dass sie nicht zu einem passen, dass jeder sehen muss, wo er bleibt, dass man sich endlich befreit hat aus einem Joch oder von einer Last und so weiter. Wahrscheinlich ist das alles zu milde formuliert. Aber die kalte Leidenschaft, den brennenden Hass, die Häme, Schadenfreude, die innerlich auffrisst, haben sicher nicht alle verspürt, die es vor 100 Jahren in der Hand hatten. Und dennoch ist es geschehen. Weil, darum, obwohl und trotz.

 

Dieser Beitrag erschien zuerst auf Sylke Kirschnicks Blog.

Foto: Twitter/documenta/

Sie lesen gern Achgut.com?
Zeigen Sie Ihre Wertschätzung!

via Paypal via Direktüberweisung
Leserpost

netiquette:

Helmut Bühler / 12.08.2022

Diese Analyse streift nur das eigentliche Problem. Schuld an der Judenvernichtung war nicht vordringlich die Ignoranz gegenüber antisemitischen Umtrieben, sondern der beflissene Untertanengeist und der Konformismus der Deutschen. Und daran hat sich auch nichts geändert, wie man sehr schön an der Reaktion auf die Corona-Maßnahmen erkennen kann. Allzeit bereit, der Regierungspropaganda zu folgen werden meine Mitbürger gerne jeden beliebigen Feind vernichten, den Politik und Medien ihnen kenntlich machen.

Jörg Themlitz / 12.08.2022

Dass die Leute vor 100 Jahren nicht “furchtbar” anders waren, wird wohl stimmen. Da sich ethisch, moralische Ansichten grundsätzlich erkennbar (natürlich fließend) alle 350 - 450 Jahre ändern. Die äußeren Bedingungen in allen Lebensbereichen waren grundsätzlich anders. Bei seinen Überlegungen wie aus dem unterschwelligen Hass gegen Juden bei ca. 20 Prozent der damaligen Bevölkerung ein Hass mit derartigen Verbrechen sich bei viel mehr Deutschen entwickeln konnte, sah Victor Klemperer drei wesentliche Gründe. Die Übersteigerte Romantisierung, den Einstrom von Ostjuden nach Deutschland, welcher von den Westjuden ebenso kritisch gesehen wurde, und die rassehygienischen Forschungen jüdischer Wissenschaftler. Hier besonders eine Gruppe die nach dem Judengen (Überlegenheitsgen) geforscht hat. Das war selbstverständlich Wasser auf die Mühlen der Nazipropaganda. Leider wird hier bei achgut immer wieder “Rasse” und “Klasse” vermengt. Die Linken hassen den kapitalistischen und sehr erfolgreichen Staat Israel. Die Klasse der kapitalistischen Juden. Die Entwicklung Israels zu einem kapiatlistischen Staat eng verbunden mit den USA, war für so manchen Juden der Grund, Israel wieder zu verlassen und sich in den Ostblock zu begeben. Von den sozialistischen Ideen die im “Der Judenstaat” aufgeschrieben wurden, es war überall die Zeit der sozialistischen Ideen, ist in Israel nicht viel umgesetzt worden.Versuchen Sie mal mit einem Juden der Kommunist ist, eine positive Diskussion über Israel zu führen. Habe ich mehrfach hinter mir. Zur Documenta: Ich bin dafür, dass so etwas gezeigt wird. Heiko Maas sollte dann nach dem Ausschwitzbesuch die Schulklasse an der Hand durch die Documenta führen, zeigen und sagen: Schaut genau hin! Das ist da. Der Hass gegen Juden existiert und ist für jeden sichtbar.

Peter Woller / 12.08.2022

Der Holocaust wurde nach 1945 verdrängt. Es gab auch keine nennenswerte Reue. Im Gegenteil, man wollte das leidige Thema genervt abgeschlossen wissen. Wenn in Kassel Neonazis eine antisemitische Demo losgelassen hätten, dann hätte es in Politik und Medien laut geknallt. Aber so?

Karl Georg Lempenheimer / 12.08.2022

Wenn wir die Geschichte von vor 100 oder bis vor 77 Jahren nicht aufgearbeitet haben sollten, hat die Medizin nichts getaugt. Da sie gefühlt nichts getaugt hat, schüttet man immer mehr von derselben hinein. Super intelligent. Eine andere Art von Impfung. Da kann man schon mal die Augen verdrehen.

Jürg Casanova / 12.08.2022

Der politmediale Mainstream – alle fest in der Hand des grün-sozi-kommunistischen Narrativs – hat die selbsterklärte Definitionshoheit darüber, was antisemitisch sein soll, vor allem Neonazis, Anti-Coronamassnahmen-Demonstranten, Menschen, die die Regierung kritisieren. Die reale antisemitische Politik, die u. a. im Abstimmungsverhalten an der Uno oder in der alltäglichen Umarmungspolitik mit den islamischen Ländern zum Ausdruck kommt, indem man Millionen von Judenhassern ins Land holt oder Terrororganisationen wie die Hamas und die Hisbollah unterstützt, wird als Friedenspolitik verkauft und eine Mehrheit der Bevölkerung glaubt das. Genauso wie damals eine Mehrheit den Schalmeien und Kriegshetzern der Nationalsozialisten geglaubt hat. Und wenn all die jetzt inszenierten Prozesse in Richtung Krieg und Pogrome ihr Unheil angerichtet haben, werden wieder alle fragen: Wie konnte das geschehen? Und was die kunstproduzierende Klientele anbelangt: Die meisten Künstler und Künstlerinnen nagen am staatlich servierten Bankett und haben genau wie die Medien ihre Kontrollfunktion gegenüber den Machthabenden ad acta gelegt und auf dem Dachboden entsorgt.

Harald Unger / 12.08.2022

“Gibt schließlich noch andere, die gelitten haben.” - - - Oh ja. Unter den Schwarzen, den (neben China) größten und grausamsten Sklavenhaltern und Händlern aller Zeiten. Unter den Muslimen, den Juniorpartnern der Nazis, wurden bisher ca. 225 Mio Ungläubige geschlachtet. - - - Daß der Hass auf alles Jüdische und auf Israel seit Anfang ‘20 erneut global lodert, hat eine konkrete, machtpolitische Ursache. Nein, nicht der närrische Greis. Insofern hatte die furchtbare Documenta das Fähnchen schon im richtigen Wind.

Dr Stefan Lehnhoff / 12.08.2022

Die unsägliche Haltung, die hinter dem Antisemitismus steckt ist natürlich die gleiche wie vor 100 Jahren . Und es gibt sie überall, natürlich auch bei Juden selbst, wie die jüngste Hetzte des Zentralrats orsitzenden gegen „Coronaleugner“belegt oder die sehr aktive Teilnahme des World Jewish Congress an dem Projekt ein globales Wahrheitsministerium zu erreichten zeigt. Weder die Opfer- noch die Täterkinder der von damals haben irgendwas gelernt. Hatte je ein rationaler Mensch etwS anderes angenommen? Kann ich mir nicht vorstellen.

Michael Müller / 12.08.2022

Warum sollten die Vorfahren der Leute so anders sein als ihre genetischen Ableger? Schopenhauer, der an die Wiedergeburt glaubte, sagte, dass das ständig dieselben Schauspieler seien, nur in wechselnden Kostümen. Wiedergeburt hin, Wiedergeburt her: Die Darsteller tun zumindest so, als wären sie schon seit Ewigkeiten dabei. Tja, so sieht halt eben die genetische Verkettung aus! Die bewusstlosen 68er glaubten tatsächlich, dass sie so völlig anders sind, als ihre Väter, nur weil sie lange Haare und vergammelte Jeans trugen. Sie drehten politischen Gegnern, die im Hörsaal ins Mikrofon sprachen, einfach den “Saft” ab, sodass die niemand mehr hören konnte, oder überbrüllten sie. Ihre Väter, die SA-Männer, haben das genauso gemacht. Sie haben also die gleiche Handlungsweise gezeigt wie ihre Väter, obwohl sie mit denen vollkommen verfeindet waren und es somit nicht von ihnen gelernt haben konnten. Tja, so sieht halt die Allmacht der Gene aus!!! Man ist halt eben doch nicht so frei, wie man glaubt. Übrigens: In der 68er -Zeit waren diesmal auch die Frauen kräftig mit dabei, sich so zu benehmen wie ihre Väter. Früher konnten sie keine SA-Männer sein: logisch. Die Wahrheit ist leider die: Nicht nur die documenta, sondern überhaupt die Geschehnisse der letzten Jahre haben deutlich vor Augen geführt, dass das Ganze wie eine Art Wiederholungsfilm im Fernsehen abläuft: 1920er/1930er reloaded. Und das besonders Erniedrigende: Obwohl man die Vergangenheit kennt, kann man trotzdem nichts dagegen machen, dass sie sich im Prinzip gerade wiederholt, weil halt eben dieselben Schauspieler dabei sind, wie Schopenhauer sagen würde. Mein Kumpel gibt immer gern den alten, ehrwürdigen Jorge aus Umberto Ecos “Der Name der Rose” wieder.  Das geht dann ungefähr so: “Bewahren, sage ich. Bewahren!!! Nicht ständig nach Neuem suchen!!! Es gibt auch eigentlich gar nichts Neues. Es gibt nur… sagen wir einmal… so etwas wie wundersame Wiederholungen.” Wie recht der alte, ehrwürdige Jorge doch hatte.

Weitere anzeigen Leserbrief schreiben:

Leserbrief schreiben

Leserbriefe können nur am Erscheinungstag des Artikel eingereicht werden. Die Zahl der veröffentlichten Leserzuschriften ist auf 50 pro Artikel begrenzt. An Wochenenden kann es zu Verzögerungen beim Erscheinen von Leserbriefen kommen. Wir bitten um Ihr Verständnis.

Verwandte Themen
Sylke Kirschnick, Gastautorin / 19.03.2024 / 14:00 / 11

Manipulierte Angaben zu Opferzahlen durch die Hamas

Wenn öffentlich-rechtliche Medien über die Lage im Gaza-Streifens berichten, übernehmen die oft die Opferzahlen der Hamas. Denen ist aber grundsätzlich nicht zu trauen. Jeden Morgen…/ mehr

Sylke Kirschnick, Gastautorin / 18.04.2023 / 16:00 / 18

Kunst ist etwas anderes als Biologie

In der Kunst sind Transmenschen nun schon jahrzehntelang präsent und dies gerade nicht als Feindbild. Doch die Pläne der Politik werden die Akzeptanz solcher Menschen…/ mehr

Sylke Kirschnick, Gastautorin / 14.04.2023 / 16:00 / 22

Gender-Ikone vom Kopf auf die Füße gestellt

Judith Butler gilt als die Begründerin der Gender Studies und brachte in den 90er Jahren frischen Wind an die Universitäten. Rückblickend wurde solide Wissenschaft jedoch…/ mehr

Sylke Kirschnick, Gastautorin / 13.04.2023 / 16:00 / 12

Der Mönch und die „Letzte Generation“

Savonarola war ein italienischer Dominikanermönch zur Zeit der Renaissance. Als Buß- und Verzichtsprediger jagte er seinen Zeitgenossen im Florentiner Dom Angst vor quälenden Höllenstrafen ein.…/ mehr

Sylke Kirschnick, Gastautorin / 18.03.2023 / 14:00 / 45

Wie die Öffentlich-Rechtlichen sich selbst überflüssig machen

Ich halte die öffentlich-rechtlichen Medien für unentbehrlich. Ganz einfach, weil sie die Vermittlung einer verbindlichen Faktenbasis sicherstellen können. Nur müssten sie das eben auch tun.…/ mehr

Sylke Kirschnick, Gastautorin / 25.02.2023 / 10:00 / 50

Nancy Faesers Migrations-Manipulation

Nancy Faeser vermischt manipulativ den Fall der Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine, die aufzunehmen hierzulande die meisten Bürger gern bereit sein dürften, mit der irregulären Zuwanderung…/ mehr

Sylke Kirschnick, Gastautorin / 15.01.2023 / 14:00 / 16

Zu wenig Islam im Theater? Er will es so.

Neulich hörte ich amüsiert im Deutschlandfunk – mit anklagendem Unterton, wie sollte es anders sein –, dass der Islam im Theater hierzulande nicht oder kaum…/ mehr

Sylke Kirschnick, Gastautorin / 04.01.2023 / 14:00 / 32

Ist der Westen noch zu retten?

Ist der Westen noch zu retten? Hat er sich außenpolitisch verzockt? Wie sieht es im Innern etablierter liberaler Demokratien aus? Auf Fragen wie diese gibt…/ mehr

Unsere Liste der Guten

Ob als Klimaleugner, Klugscheißer oder Betonköpfe tituliert, die Autoren der Achse des Guten lassen sich nicht darin beirren, mit unabhängigem Denken dem Mainstream der Angepassten etwas entgegenzusetzen. Wer macht mit? Hier
Autoren

Unerhört!

Warum senken so viele Menschen die Stimme, wenn sie ihre Meinung sagen? Wo darf in unserer bunten Republik noch bunt gedacht werden? Hier
Achgut.com