Wolfram Weimer / 16.01.2019 / 11:15 / Foto: Pixabay / 20 / Seite ausdrucken

Die Zwickmühle des Jeremy Corbyn

Die Niederlage von Theresa May beim Brexit-Entscheid des Parlaments dürfte in Großbritannien ein politisches Erdbeben auslösen. Mit dem mühsam ausgehandelten Abkommen scheitert zugleich eine Regierung; das Königreich taumelt einem “No-Deal-Brexit” entgegen, eine Staatskrise steht bevor. Notfall- und Aufschiebepläne machen zwischen Brüssel und London die Runde. Doch die Zeit ist knapp, denn wenn Großbritannien den Brexit bis in den Mai verschiebt, müsste das Land bei den Europawahlen absurderweise noch mitwählen, heißt es aus Brüssel.

Die Premierministerin warb bis zur letzten Minute für ihren Deal und warnte die Abgeordneten davor, sich über das Ergebnis des Brexit-Referendums von 2016 hinwegzusetzen. Wer sich ihrem Deal verweigere, begehe einen “Vertrauensverrat” an der britischen Bevölkerung. Zugleich mahnte sie in dramatischem Tonfall vor einem Auseinanderbrechen des Vereinigten Königreichs im Falle eines EU-Austritts ohne Abkommen. Schottland werde dann seine Unabhängigkeit einfordern und Nordirland die Vereinigung mit Irland suchen. Doch die Drohungen verpuffen. 

Da die regierenden Tories in der Brexit-Frage tief gespalten sind, richten sich nun viele Blicke auf den Oppositionsführer Jeremy Corbyn, den 69 Jahre alten Chef der Labour-Partei. In der Regierungskrise könnte er zum Retter in der Not aufsteigen. Unter seiner Ägide ist die alte Arbeiterpartei zu neuer Stärke angewachsen, die Umfragewerte sind gestiegen, Zehntausende neuer Mitglieder wurden gewonnen, mit 540.000 Briten ist Labour jetzt wieder die größte Partei der EU. Corbyn setzte auf einen stramm linken Kurs und mobilisierte damit die alte Stammwählerschaft.

Doch auch Corbyn hat ein Brexit-Problem und eiert im Moment der Entscheidung gewaltig herum. Die Mehrheit seiner Parteimitglieder (eine Umfrage hat 72 Prozent ermittelt) will am liebsten mittels eines zweiten Referendums den Brexit zu Fall bringen. Unter der Losung “Love Corbyn – hate Brexit” mobilisieren immer mehr Funktionäre für einen Exit vom Brexit.

Ein alter, eingefleischter Brüssel-Gegner

Doch Corbyn hat sich anders positioniert: “We can’t stop Brexit” ist seine Losung. Corbyn will aus drei Gründen keine neue Abstimmung. Erstens ist er selbst ein alter, eingefleischter Brüssel-Gegner, der die Europäische Union als ein Europa des Großkapitals und der Konzernbosse ansieht. Zweitens weiß Corbyn, dass auch weite Teile der englischen Arbeiterschaft für den Brexit gestimmt haben. Sie will er nicht enttäuschen und verlieren. Und drittens wittert er in der Regierungskrise ohne zweites Referendum den schnelleren Weg zur Macht.

Corbyns Kalkül geht so: Wenn der “Tory-Brexit” (so sein Wording) keine Parlamentsmehrheit finde, müsse es zu baldigen Neuwahlen kommen. Er werde diese gewinnen und dann mit einer Labour-Mehrheit einen besseren Brexit-Deal, den “Better Brexit” aushandeln. Mit Neuwahlen bekäme Großbritannien “Zeit für weitere Verhandlungen”. 

“Eine Regierung, die ihre Anliegen im Parlament nicht durchsetzen kann, ist überhaupt keine Regierung”, tönt Corbyn in Vorfreude auf den Machtwechsel. Doch sein Kalkül ist ebenso wankend wie das von Theresa May. Denn auch Corbyn weiß seine eigene Partei immer weniger hinter sich. In der Parlamentsfraktion wächst die Gruppe der Remainers, die keine Nachverhandlungen, sondern das zweite Referendum fordern.

Umfragen zeigen zudem, dass Corbyn mit seiner Brexit-Befürwortung ein Wahldesaster bevorstehen würde. Neuwahlen könnten für ihn also auch nach hinten los gehen. Obendrein glaubt in Großbritannien kaum jemand, dass er bei etwaigen Neuverhandlungen mit Brüssel tatsächlich ein besseres Ergebnis aushandeln könnte. Und so wirkt Corbyn mit seinem taktischen Eiertanz wie ein machthungriges Spiegelbild von May: Sie will eigentlich in der EU bleiben, aber ihre Partei zwingt sie in eine Brexit-Politik. Er will eigentlich raus aus der EU, doch seine Partei treibt ihn zu Remain-Experimenten. So taumeln am Ende beide in der Regierungskrise umher.

Dieser Beitrag erschien zuerst auf The European

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Leserpost

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Albert Sommer / 16.01.2019

Wir erleben ein filmreifes Bühnenstück. So sehr ich die Briten auch um ihre Chance beneide, so sicher bin ich mir wiederum, das es nie zu diesem Brexit kommen wird. Die ganze Inszenierung stinkt zum Himmel. Noch vor Ende des Monats wird man entweder verkünden den Austritt zu verschieben und/oder gleich neu “abstimmen” zu lassen. Es hat schließlich Tradition in der EU, das so immer so oft abgestimmt wird bis den EUrokraten zu Brüssel das Ergebnis passt.

Wolfgang Kaufmann / 16.01.2019

Die EU ist ein subtiles Instrument, mit dem Deutschland seine Vorherrschaft in Europa sichert. Wir reden immer von Mehrheiten. Aber dann ziehen wir einsam unsere Entscheidung durch, jeden hereinzulassen, und torpedieren die Einigkeit der 27 anderen Mitglieder, umzäunte Hotspots einzurichten (Gipfel Juni 2018). Es sind Welten zwischen unserem Sagen und unserem Tun. – Große Europäer sind wir nur, solange sich die anderen unterordnen. Sobald sie es nicht tun, heißen wir sie alles Mögliche. Wir sind nicht offen und tolerant, wir sind engstirnig und dogmatisch.

Jan Fiedler / 16.01.2019

Wie hieß es schon im “Asterix” die spinnen die Briten.

beat schaller / 16.01.2019

Ich bin Ihrer Meinung Herr Dietl, und wünsche GB weiter gutes Gelingen. Unter Staaten darf es keine Verträge geben, die nicht gekündigt werden können ohne dass man zum Abschuss (Boykott) freigegeben wird.  GB ist stark und vernetzt genug und es ist vielleicht doch eine Zeitfrage, ob denn die EU (nicht Europa) wirklich so weitergehen kann. *Ischias"kann auch den eigenen Weg verzögern. So wie man sieht ist ebendiese EU schon beim Steuerprojekt angekommen und wird auch da nicht Halt machen, bis schlussendlich nichts mehr da ist um verteilt zu werden. Personenfreizügigkeit mit einer EU, bei der ein einziger grosser Staat (D) also Merkel im Alleingang die Schengen Regeln abschafft und damit nicht nur die EU mit nicht identifizierbaren Migranten flutet, sondern den Kontinent. Das ist doch in der Tat beängstigend. Um dagegen etwas zu tun,  lohnt es sich, sogar etwas kürzer zu treten! Wenn man die Fakten auf dem Tisch hat, dann ist man in der Lage, die dringenden Entscheide zu fällen und eines nach dem Anderen anzugehen. Daran ist mit Sicherheit nicht nur GB interessiert, sondern auch die EU- Staaten. b.schaller

Uta Buhr / 16.01.2019

@Helge-Rainer Decke. Da stimme ich Ihnen mal ohne Abstriche zu, lieber Herr Decke. GB, ein Narrenschiff. Genauso wie unser inzwischen zu einem Hippiestaat verkommenes Land. Und dass ohne Dexit, also ohne jede Not.

Rudolf Stein / 16.01.2019

Was ich nicht verstehe: warum wiederholt sich nicht, was im WK II so er- folgreich war, wenn auch schmerzhaft: eine direkte wirtschaftliche Untestützung durch die Vettern aus Übersee, die USA.  Jedenfalls so lange, bis sich die Wirtschaft des UK vom Brexit erholt hat. Der schöne Nebeneffkt für die USA und der böse Nebeneffekt für die Beamten in Brüssel: USA ante Portas! Es müsste doch genügend Schiffe und Flugzeuge in den USA geben, solches zu verwirklichen. Und deutsche U-Boote brauchten sie auch nicht mehr zu fürchten… .

Lutz Muelbredt / 16.01.2019

Bis zur totalen Sinn- und Substanzentleerung wird von May und Johnson sowie von Corbyn bis zur letzten Sekunde gezockt. Anders ist das überhaupt nicht mehr rational einzuordnen.

Thomas Bonin / 16.01.2019

Gut vorstellbar, dass es letztlich doch bei der No-Deal-Variante bleiben wird. Zwar könnte Brüssel nachjustieren, wird es aber bleiben lassen, da die Befürchtung (oder Angst?) schlichtweg zu offenkundig ist, zumal weitergehende Nachbesserungen etwaigen “Wackelkandidaten” Auftrieb verschaffen könnte. Die Gretchenfrage seitens der May-Opponenten (hier Tories und de verbündete DUP betreffend; Labour selbst pokert ohnehin nur mit gezinkten Karten) entzündet sich einzig daran, dass Brüssel weder für die Backstop-Problematik noch in der Frage, ab wann das Vereinigte Königgreich schlußendlich eigenständige Handelsverträge abschließen “darf”, vertraglich wasserfeste dead-lines benennt. Beide Aspekte sind weiß Gott keine Kinkerlitzchen, über die sich unangestrengt am heimeligen Kamin plaudern ließe, sondern der Schlüssel für ein souverän agierendes Großbritannien (spätestens nach dem Zeitraum nach einer - wie auch immer gearteten - Übergangsphase). Von daher ist der Verdacht, Brüssel reagiere auf essentielle britische Interessen nach Kolonialherrenart, nicht so ganz von der Hand zu weisen.

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