Die Postmoderne ist ein scheues Reh, das sich selten in voller Pracht zeigt. Sie lebt bekanntlich von der „Dekonstruktion“ des Wahrheitsbegriffs, in dessen Folge jeder die Möglichkeit haben soll, sich sein eigenes Wahrheitskonstrukt zusammen zu zimmern. Man täte jedoch der Postmoderne unrecht, sie auf irgendwelche Gender-Studien in den Elfenbeintürmen der Universitäten zu reduzieren. Denn die Bugwelle der Postmoderne prägt schon lange den gesamten politisch-medialen Diskurs aller westlichen Gesellschaften. Ab und an bekommt man mal ganz abseits der universitären Absurditäten ein Schwänzchen der Postmoderne zu sehen, an dem man sie dann packen kann. So geschehen vorigen Dienstag, dem 13. Juni 2017.
Der Rüsselsheimer Autobauer Opel stellte an diesem Tag seine neue Werbekampagne vor. Dass sie von der auch unter "Achse"-Lesern bekannten Werbeagentur Scholz & Friends geschmiedet wurde - die bekanntlich die Bundesregierung in ihrem unermüdlichen Kampf gegen alles, was nicht links ist, unterstützt, und so zarte Pflänzchen wie Gerald Hensel, das Mimöschen im Kampf gegen Nazi-Blogs, hervorgebracht hat -, sei nur am Rande erwähnt, um das Bild zu komplettieren. Der neue von Scholz & Friends kreierte Werbeslogan von Opel heißt: „Die Zukunft Gehört Allen“. Der passende Unterslogan: „Warum sollte das, was für viele wichtig ist, nur wenigen zugänglich sein?“
Man reibt sich verwundert die Augen. Einer der größten deutschen Autobauer wählt, um den Verkauf seiner Autos anzukurbeln, eine Werbekampagne, die auch "Brot für die Welt" oder "Misereor" gut anstehen würde. Oder allen im Bundestag vertretenen Parteien. Oder über dem evangelischen Kirchentag prangen könnte: „Die Zukunft Gehört Allen“ - „Warum sollte das, was für viele wichtig ist, nur wenigen zugänglich sein?“ Frau Käßmann würde sich als neues Gesicht der Opel-Kampagne sicher gut machen.
Sich der Politik mit Erweckungs- und Heilskitsch andienen
Vorgestellt wurde der neue Markenauftritt von Opel nicht zufällig im Rahmen des staatlich organisierten Hessentags, bei dem eine große Konferenz zum Thema Mobilität der Zukunft stattfand. Wenn Politiker und Wissenschaftler zusammensitzen und über das Weltklima, über Abgasnormen und Mobilitätskonzepte reden, darf natürlich das Großkapital nicht fehlen. Denn auch VW, BMW und Opel wissen, dass, wenn die Kanzlerin individuelles Autofahren nur noch mit Sondererlaubnis genehmigen will, sie andere Wege finden müssen, ihre Autos an den Mann und die Frau zu bringen. In diesem Umfeld ist eine staatstragende Kirchentagsplattitüde als Werbeslogan vielleicht der beste Weg, sich der Politik anzudienen und ihren Erweckungs- und Heilskitsch unters Volk zu bringen.
Seit dem berühmten Satz Carl Friedrich von Weizsäckers, dass es keine Außenpolitik mehr gebe, sondern nur noch Welt-Innenpolitik, sind die Bezugsgrößen, mit denen das herrschende System - und das staatlich geförderte und gelenkte Großkapital ist selbstverständlich Teil des Systems - operiert, ins Unermessliche gewachsen. „Die Zukunft gehört allen“. Das klingt nach One World und völlig inhaltsfreier guter Gesinnung. „Warum sollte das, was für viele wichtig ist, nur wenigen zugänglich sein?“. Autos als Teil der Welt-Innenpolitik.
Auch wenn Politiker keine Steuerreform hinbekommen, und ein Flughafen nun schon seit Jahren vor sich hinsiecht, zur Rettung der Welt in glorreicher Zukunft fühlen sie sich gern berufen. Es werden Blendgranaten des Aktionismus geworfen, um von den Problemen vor der eigenen Haustür abzulenken. Je zukunftsferner und gigantischer die Aufgaben und Lösungen formuliert werden, desto mehr entziehen sie sich der Tagespolitik, in der es um Überprüfbarkeit, um Debatten und Diskurse, um richtige und falsche Entscheidungen geht. Stattdessen werden Aufgaben für eine parteiübergreifende Ewigkeit ins Leben gerufen, die Politiker nur noch managen können. Die Entpolitisierung der Politik funktioniert ja nur in ihrer maximalen Entgrenzung.
Als am 25. Januar 2015 in Griechenland die kommunistische Syriza unter Alexis Tsipras die vorgezogenen Parlamentswahlen gewann, änderte sich an der Politik Griechenlands: nichts. Das war faszinierend. Denn die kommunistische Revolution, die von der Mehrheit der Griechen gewählt wurde, fiel einfach aus. Zu engmaschig ist das System gestrickt, zu klein sind die Handlungsspielräume der nationalen Politiker und zu groß die Sachzwänge innerhalb der Weltenzusammenhänge geworden. Da dürfen die Wähler durchaus mal wählen, was sie wollen, aber am Ende heißt es frei nach einer Wahlkampflosung der SPD: "Das Wir entscheidet". Alternativlosigkeit ist die letzte Alternative einer postmodernen Demokratie.
Das Paradoxe an der „Befreiung des Individuums“ ist die mentale Konfektionierung
Nach dem Zeitalter der Weltanschauungen und Ideologien, in denen Normen und Identitäten den Rahmen vorgaben, ist die westliche Welt ins Zeitalter der Postmoderne abgebogen. Diese steht für maximale Befreiung des Individuums, für Beliebigkeit und gleiche Gültigkeit von allem. Erlaubt ist, was gefällt. Das Paradoxe dieser „Befreiung des Individuums“ ist die mentale Konfektionierung, die momentan vor allem im politisch-medialen Betrieb sichtbar wird: Die Zukunft gehört allen. Solche Sätze sind so wahr und inhaltsleer, dass noch nicht einmal ihr Gegenteil falsch wäre. Die Entpolitisierung der Politik, das Erodieren aller weltanschaulichen Ansprüche hat ja nicht zu einem neuen vitalen Anarchismus geführt, sondern zu einer Form der Gleichschaltung, die durchaus ängstigen kann.
Das entpolitisierte System feiert sich als offen und tolerant, weil es auf alle inhaltliche Konkretion verzichtet. Wer auf Eindeutigkeit pocht und die absehbaren Folgen politischer Entscheidungen benannt haben möchte, gilt bereits als intolerant: „Findest Du etwa nicht, dass die Zukunft allen gehört?“ Intoleranz ist jedoch das größte Vergehen innerhalb einer auf Beliebigkeit hinauslaufenden Gesellschaftsordnung. Oder wie Frau Özuguz recht treffend formulierte: „Unser Zusammenleben muss täglich neu ausgehandelt werden.“ Denn: Die Zukunft gehört allen. Wer sich dieser täglichen Neu-Aushandlung jedoch verweigert, stellt bereits die Systemfrage und wird auch so behandelt: als Feind.
Postmoderne Ordnungen sind Ordnungen von höherer Komplexität. Wer als Einzelner noch Ordnungszusammenhänge einfordert, die überschaubar sind und den jeweils eigenen Bezugsrahmen als Maßstab haben, dem wird gern vorgeworfen, viel zu einfache Antworten auf sehr komplexe Fragen zu haben. „Ich möchte aber ein Auto mit Ledersitzen und viel PS!“ ist dann schon vollständig reaktionär. „Du musst aber an alle denken!.“ Diese Form der Komplexität dient dazu, den Einzelnen zu überfordern und ihm zu suggerieren, nur im Schwarm aller ließe sich die Komplexität der Welt bewältigen.
Komplexität bedient sich des menschlichen Schwarms und der im Schwarm zusammengeschalteten Rechenzentren. Diese neue Form der Wissenschaft fordert nichts ein, denn sie ist bereits der Zwang der Objektivität. Der Einzelne ist zum Mitmachen angehalten, hat dabei jedoch den Anspruch, es auch zu verstehen, aufzugeben. In der postmodernen Ordnung wird Politik ersetzt durch ein System, das sich ohne Fokus, ohne Werte, Ziele und Programme selbst organisiert. Der Einzelne als Individualität ist trotz seiner Befreiung schon längst verschwunden. Die Inhalte seines Lebens sind wissenschaftlich vorgegeben, was ein Synonym für alternativlos ist. Die Anerkennung der Objektivität, des Datenmaterials und der wissenschaftlichen Studien ist die einzige Entscheidung, die dem Einzelnen noch bleibt. Man kann es die Funktionsweise der künstlichen Intelligenz nennen oder die der Pilze und Flechten.
Hilfe, ein einzelner Mensch kann eine Marke setzen!
Aber das postmoderne System zeigt erste Bruchstellen. Der Brexit als Wiederherstellung nationaler Souveränität wirkt für jeden Anbeter der höheren Komplexität wie ein erschütternder Anachronismus. Die Ablehnung des europäischen Schwarms zugunsten einer Rückgewinnung nationaler Lösungsansätze ist so etwas wie die kopernikanische Wende des postmodernen Zeitalters.
Dann folgte der zweite „disruptive change“, den postmodernes Denken nie für möglich gehalten hätte: Donald Trump. Wie aus älteren Daseinsschichten bestieg auf einmal eine völlig unmodern anmutende Persönlichkeit die Weltbühne. Auch er ein anachronistischer Mensch, ein Egomane, Macher und Deal-Maker, ausgestattet mit der notwendigen Portion Großkotzigkeit, um ein System zu brechen, das immer schneller und wirkmächtiger das Individuum zum Verschwinden brachte. Sein kürzlich erfolgter Ausstieg aus dem Pariser Klimaabkommen markiert das vorläufige Ende des international entgrenzten Denkens. Auch wenn Trump vielleicht bald Geschichte sein wird, hat er gezeigt, dass ein einzelner Mensch ohne Einbettung in Parteiengeflechte und Systemzwänge eine Marke setzen kann. Nicht seine Inhalte lösen Faszination aus, sondern die Rückkehr des kantigen Einzelnen auf die Bühne der Politik. Das ist immer noch auch die Faszination, für die Amerika steht.
Ohne die mentale Konfektionierung des Individuums, das sich den Gigantenbildern vom Weltfrieden und der Klimarettung unterzuordnen hat, funktioniert das System der Kunst-Intelligenz nicht. Sich dieser Konfektionierung zu entziehen, sie zu bekämpfen und darauf zu pochen, dass, was man nicht versteht, nicht nur zu beschweigen, sondern als für das eigene Leben irrelevant zu betrachten sei, ist momentan die einzige Haltung, die der Einzelne zur Rückgewinnung seiner Autonomie einnehmen kann. Denn dass die Zukunft allen gehört, ist ja so falsch nicht. Aber zuallererst gehört die Zukunft: mir!
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