Von C. Wright Mills.
Wer sind eigentlich die Machteliten in einer Gesellschaft? Wer ist in der Lage, Geschichte zu machen und große politische Entscheidungen mitzuprägen? Auf Fragen wie diese ging der US-amerikanische Soziologe C. Wright Mills in seiner epochalen Studie „The Power Elite“ vor über einem halben Jahrhundert ein – und seine Einschätzung hat nichts an Aktualität verloren, im Gegenteil. Im Folgenden ein Auszug aus dem Buch „Die Machtelite“, das in deutscher Sprache von Marcus B. Klöckner, Björn Wendt und Michael Walter neu herausgegeben wurde.
Der Macht eines gewöhnlichen Menschen sind verhältnismäßig enge Grenzen gezogen, die sich etwa mit denen seiner alltäglichen Umwelt decken, also mit den Grenzen seines Familien- und Freundeskreises, des Berufslebens und der Nachbarschaft. Doch selbst innerhalb dieses kleinen Bereichs scheint der Durchschnittsmensch von mächtigeren Kräften, die er weder begreifen noch meistern kann, getrieben zu sein. Auf umwälzende Veränderungen, die sein Verhalten und seine Anschauungen bestimmen, hat er keinerlei Einfluss, denn es liegt einfach in der Struktur der modernen Gesellschaft, dass sie dem Einzelnen Ziele setzt, die gar nicht die seinen sind. Von allen Seiten bedrängt und Veränderungen unterworfen, hat der Mensch unserer Massengesellschaft das Gefühl, ohne Lebensinhalt, ohne Ziel und Zweck in einem Zeitalter zu leben, das ihn zur Machtlosigkeit verurteilt.
Indessen sind keineswegs alle Menschen in diesem Sinne „gewöhnliche“ Menschen. Die Zentralisierung sämtlicher Macht- und Informationsmittel bringt es mit sich, dass einige wenige in unserer Gesellschaft bestimmte Positionen einnehmen, von denen aus sie sozusagen auf die anderen herabsehen und die Alltagswelt der Durchschnittsmenschen mit ihren Entscheidungen beeinflussen können. Diese wenigen sind nicht Sklaven ihres Berufs oder Gefangene ihres Arbeitsplatzes. Sie können vielmehr Arbeitsplätze für tausend andere schaffen oder beseitigen. Sie werden auch nicht von ständigen Alltags- und Familienpflichten eingeengt, sondern können ihnen, wenn sie wollen, jederzeit entfliehen. Sie sind auch nicht an einen bestimmten Ort gebunden, sondern können wohnen, wo und wie es ihnen beliebt. Für sie heißt es nicht, sie hätten nur „zu tun, was Tag und Stunde fordern“. Sie selbst stellen nicht wenige dieser Forderungen auf und sorgen dann dafür, dass andere sie erfüllen.
Ob sie es zugeben oder nicht: Durch ihre Erfahrung im Umgang mit den technischen und politischen Machtmitteln sind sie der ganzen übrigen Bevölkerung weit überlegen. Die Durchschnittsamerikaner könnten durchaus von den Mächtigen sagen, was Jacob Burckhardt über die „großen Männer“ geschrieben hat: „Sie sind alles das, was wir nicht sind.“
Strategisch wichtige Kommandostellen
Die Machtelite besteht aus Männern, die sich kraft ihrer Positionen hoch über den begrenzten Horizont des Durchschnitts erheben. Ihre Stellungen geben ihnen die Möglichkeit, Entscheidungen von größter Tragweite zu treffen. Dabei ist nicht so wesentlich, ob sie von dieser Möglichkeit Gebrauch machen und solche Entschlüsse wirklich fassen oder nicht. Ausschlaggebend ist vielmehr die Tatsache, dass sie auf Grund ihrer Schlüsselpositionen die Möglichkeit dazu haben. Unterlassen sie es zu handeln, versäumen sie, eine Entscheidung zu treffen, so hat dies oft schwerer wiegende Folgen als ihre tatsächlichen Entschlüsse; beherrschen sie doch die mächtigsten Hierarchien und Organisationen der modernen Gesellschaft. Sie leiten die großen Wirtschaftsunternehmen. Sie sitzen an den Schalthebeln des Staatsapparates und beanspruchen für sich alle Vorrechte, die sich daraus ergeben. Sie befehligen die Streitkräfte. In unserer Gesellschaftsstruktur nehmen sie die strategisch wichtigen Kommandostellen ein. Sie verfügen damit auch über alle Mittel, von der Macht, dem Reichtum und der Prominenz, deren sie sich erfreuen, wirksam Gebrauch zu machen.
Nun besteht aber die Machtelite keineswegs aus einsamen Herrschern. Die eigentlichen Herren ihrer Ideen und Entschlüsse sind oft Referenten, Berater und Gutachter, die Lenker und Gestalter der öffentlichen Meinung. Unmittelbar unter der Elite stehen dann die Berufspolitiker der mittleren Machtsphäre: die Kongressabgeordneten und Interessenvertreter einflussreicher Gruppen, außerdem die neue und die alte Oberschicht der Gemeinden, Städte und Regionen. Schließlich sind diese gehobenen Kreise noch in sehr eigenartiger, von uns noch genauer zu erforschender Weise mit den professionellen Berühmtheiten durchsetzt, die davon leben, dass man dauernd (aber, solange sie berühmt sind, niemals genug) über sie berichtet. Wenn diese Berühmtheiten auch nicht an der Spitze einer der herrschenden Hierarchien stehen, so sind sie doch häufig dazu imstande, die Aufmerksamkeit der breiten Masse auf sich zu ziehen und von anderen Dingen abzulenken, oder einfach das Sensationsbedürfnis der Bevölkerung zu befriedigen.
Darüber hinaus finden sie unmittelbar Gehör bei denen, die selbst Machtstellungen innehaben. Als Sittenrichter, Techniker der Macht, als Prediger des Wortes Gottes oder Schöpfer der Massengefühle mehr oder weniger ungebunden, gehören diese Ratgeber und Berühmtheiten mit zum Drama der Elite, dessen Hauptdarsteller die Männer in den Kommandostellen der großen institutionellen Hierarchien sind. […]
Die Unsichtbarkeit der anonymen Vielzahl
Diese unterschiedlichen Facetten der Elite sind, wenn man sie richtig versteht, eng miteinander verbunden. Im Zuge dieser Untersuchung über die erfolgreichen Amerikaner werden wir jede einzelne betrachten. Wir werden der Reihe nach mehrere höheren Kreise unter dem Gesichtspunkt untersuchen, dass sie Anwärter für die Elite stellen, und werden uns dabei an jene Institutionen halten, die das Bild der heutigen amerikanischen Gesellschaft bestimmen. Wir werden dabei versuchen, die in und zwischen diesen Institutionen bestehenden Querverbindungen von Reichtum, Macht und Ansehen aufzuspüren. Aber unser Hauptanliegen bleibt die Frage nach der wirklichen Macht derjenigen, die heute die höchsten Kommandostellen innehaben, und nach der Rolle, die sie in der Geschichte unserer Epoche spielen.
Eine solche Elite kann als allmächtig gelten und ihr Einfluss auf einen umfassenden Geheimplan zurückgeführt werden. So erklärt beispielsweise der Vulgär-Marxismus die Ereignisse und Entwicklungstendenzen mit dem „Willen der Bourgeoisie“, der Nazismus durch eine „Verschwörung des Weltjudentums“, der kleine Mann im heutigen Amerika mit der „verborgenen Macht“ kommunistischer Agenten. Betrachtet man die Elite als allmächtige historische Ursache, ist die elitebildende Gruppe niemals ganz sichtbar. Sie ist dann tatsächlich so etwas wie ein weltlicher Ersatz für den Willen Gottes und scheint auch als eine Art Vorsehung wirksam zu werden, nur dass man dabei eine wesentliche Einschränkung macht: Man schreibt für gewöhnlich Menschen, die nicht zur Elite gehören, die Fähigkeit zu, erfolgreich Widerstand zu leisten und die „Allmächtigen“ schließlich zu stürzen.
Die umgekehrte Ansicht, dass nämlich die Elite völlig machtlos sei, ist heute bei liberal gesinnten Beobachtern recht populär geworden. Sie vertreten die Auffassung, dass die Elite alles andere als allmächtig, vielmehr so zersplittert sei, dass ihr jede Möglichkeit des Zusammenwirkens als geschichtsbildender Kraft fehlt. Ihre Unsichtbarkeit habe nichts Geheimnisvolles an sich, sondern sei nur die Unsichtbarkeit der anonymen Vielzahl. Die Leute in den offiziellen Führungspositionen seien durch den Druck anderer Elitegruppen oder von der Öffentlichkeit als Wählerschaft oder aber durch die von der Verfassung gesetzten Grenzen derart in Schach gehalten, dass man sagen könne, es gäbe zwar Oberschichten, aber keine wirklich herrschende Klasse, zwar einzelne Mächtige, aber keine Machtelite, zwar eine gesellschaftliche Schichtung, aber kein eigentliches Machtzentrum. Im Extrem ist diese Vorstellung einer durch ständige Kompromisse geschwächten und bis zur völligen Bedeutungslosigkeit aufgesplitterten Elite nur ein Ersatz für den Glauben an ein unpersönliches Kollektivschicksal, denn nach dieser Ansicht haben die Entscheidungen der sichtbaren Führer der gehobenen Kreise keine geschichtliche Bedeutung.
Ein romantisches Durcheinander?
Überall in der Welt scheint die Vorstellung von einer allmächtigen Elite vorherrschend zu sein. Alle erfreulichen Ereignisse und jede vorteilhafte Entwicklung werden von den Leuten, die die öffentliche Meinung machen, im Handumdrehen den Führern des eigenen Landes zugeschrieben, die Schuld an allem Unglück und jeder nachteiligen Entwicklung dagegen dem fernen Feind. In beiden Fällen geht man von der Allmacht böser Herrscher oder großer Führer aus. Innerhalb der Nation ist das entsprechende Verfahren etwas komplizierter: Ist von der Macht der eigenen Partei oder Gruppe die Rede, so wird diese wie auch ihre Führung stets als „machtlos“ hingestellt, und nur „das Volk“ ist allmächtig. Handelt es sich jedoch um die Macht der gegnerischen Partei oder Gruppe, so wird diese als allmächtig bezeichnet, das Volk dagegen für machtlos erklärt.
Ganz allgemein neigen Amerikaner in Machtpositionen dazu, aus konventionellen Gründen ihre wahre Macht zu verleugnen. Kein Amerikaner will als jemand gelten, der nach einem öffentlichen Amt strebt, damit er von dort aus herrschen oder regieren kann. Er behauptet vielmehr, nur deshalb nach dem Amt zu streben, weil er dort besser „dem Volke dienen“ könne. Er bezeichnet sich deshalb auch niemals als Beamten, als den Bürokraten, der er ist, sondern stets als „public servant“, als Staatsdiener. Diese Pose ist inzwischen zum Bestandteil des öffentlichen Auftretens aller mächtigen Männer geworden, und konservative Schriftsteller legen diese Erscheinung häufig sogar als ein Anzeichen für die „amorphe Machtsituation“ aus, die sich in den USA angeblich zu entwickeln beginne. Doch die „Machtsituation“ im heutigen Amerika ist weit weniger amorph als die Denkweise jener, die glauben, darin ein romantisches Durcheinander erblicken zu können. Auch handelt es sich nicht bloß um eine vorübergehende „Situation“, sondern vielmehr um eine klar abgestufte und dauerhafte Struktur. Wenn diejenigen, die die obersten Stufen einnehmen, auch nicht allmächtig sind, so sind sie andererseits doch nicht machtlos. Wir müssen Größe, Formen und Reichweite der Macht erkennen und ihre Abstufungen erfassen, wenn wir die Machtfülle der Elite ermessen wollen.
Wäre die Macht, über Fragen von nationaler Bedeutung zu entscheiden, völlig gleichmäßig verteilt, so gäbe es keine Machtelite; es gäbe auch keine Stufen der Machtfülle, sondern eine vollkommen gleichmäßige Machtverteilung. Im umgekehrten Falle, das heißt, wenn sich alle Macht ausschließlich in den Händen einer kleinen Gruppe befände, gäbe es ebenfalls keine Abstufung, sondern nur die kleine Gruppe der mächtigen Herrscher und die riesige, undifferenzierte Masse der machtlosen Beherrschten. Die heutige amerikanische Gesellschaft entspricht weder dem einen noch dem anderen Extrem, und doch ist es nützlich, sich diese Möglichkeiten einmal vor Augen zu führen, weil so das Verständnis für die tatsächliche Machtstruktur in den Vereinigten Staaten und die Stellung der Machtelite in ihr wesentlich erleichtert wird.
Die Rolle der Machtabstufungen
In jeder der mächtigen Institutionen der modernen Gesellschaft gibt es eine Machtabstufung. Kein Straßenhändler hat in irgendeinem gesellschaftlichen Bereich so viel Macht wie der Chef eines großen Konzerns. Kein Leutnant an der Front ist so mächtig wie der Stabschef im Pentagon. Kein Hilfssheriff hat so viel Autorität wie der Präsident der Vereinigten Staaten. Um die Machtelite definieren zu können, müssen wir also zunächst entscheiden, auf welcher Stufe der Macht wir die Grenze ziehen wollen. Setzen wir sie zu tief an, so wird die Elite so umfangreich, dass sie aufhört, eine Elite zu sein. Setzen wir die Grenze zu hoch, dann wird der Kreis der Auserlesenen zu klein. Wir wollen deshalb erst einmal eine vorläufige, sozusagen erst mit Bleistift angedeutete Linie ziehen und die Machtelite ganz grob als diejenigen politischen, wirtschaftlichen und militärischen Gruppen umschreiben, die als kompliziertes Gebilde einander überschneidender Kreise an allen Entscheidungen von zumindest nationaler, wenn nicht internationaler Tragweite teilhaben. Wenn Entscheidungen von solcher Tragweite gefällt werden, ist also jedes Mal die Machtelite im Spiel.
Wenn wir gesagt haben, dass in der modernen Gesellschaft offensichtlich eine Abstufung der Macht und ihrer Anwendungsmöglichkeiten gegeben ist, so will das nicht heißen, dass die Mächtigen sich einig sind, dass sie genau wissen, was sie tun, oder dass sie bewusst an einer gemeinsamen Verschwörung beteiligt sind. Mit diesen Problemen werden wir am besten fertig, wenn wir uns zunächst mit der gesellschaftlichen Stellung der Machtelite sowie mit den Folgen ihrer Entscheidungen beschäftigen und dann erst nach dem Ausmaß ihres Verantwortungsbewusstseins oder der Reinheit ihrer Motive fragen.
C. Wright Mills: „Die Machtelite“, herausgegeben von Björn Wendt, Michael Walter und Marcus B. Klöckner, 576 Seiten, Westend Verlag, 4.11.2019
Wer sind eigentlich die Machteliten in einer Gesellschaft? Wer ist in der Lage, Geschichte zu machen und große politische Entscheidungen mitzuprägen? Auf Fragen wie diese geht der US-amerikanische Soziologe C. Wright Mills in seiner epochalen Studie „The Power Elite“ ein. Mills hat 1956 eine fundamentale Kritik am demokratischen System seines Landes abgeliefert, die bis heute nachhallt. Die gesellschaftlichen und politischen Verwerfungen, die aktuell in den USA zu beobachten sind, sind das Produkt schwerer politischer Fehlentwicklungen, die bis in die Zeit Mills' zurückgehen.