Die EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hat gestern die „Lage der Union“ so konsequent schöngeredet, dass wohl die wenigsten EU-Bewohner glauben können, in der gleichen Welt wie sie zu leben. Sind Sie bereit für einen Ausflug in Ursulas Welt?
Die EU-Kommission backt ungern kleine Brötchen. Entsprechend heroisch klingt die Schlagzeile ihrer Pressemitteilung zu Ursula von der Leyens „Rede zur Lage der Union“ vom 13. September. „Präsidentin von der Leyen: Europa stellt sich seinem historischen Auftrag“, dröhnt es einem hier entgegen. Und weiter:
„In ihrer Rede zur Lage der Union hat die Präsidentin der Europäischen Kommission Ursula von der Leyen die wichtigsten Prioritäten und Leitinitiativen für das kommende Jahr skizziert, aufbauend auf den Erfolgen und Errungenschaften der Europäischen Union in den vergangenen Jahren. Von der Leyen verwies auf die Wahl des Europäischen Parlaments im Juni 2024 und betonte, in einer Welt voller Ungewissheiten müsse sich Europa wieder gemeinsam seinen historischen Herausforderungen stellen. Nach dem Grundsatz: Heute handeln, um für morgen bereit zu sein.“ Und von der Leyen wird zitiert mit: „Die Zukunft unseres Kontinents hängt von unseren heutigen Entscheidungen ab. Von den Schritten, die wir zur Vollendung unserer Union unternehmen.“
Fragt sich, was genau mit dieser „Vollendung“ gemeint ist.
Von der Leyens etwa 60-minütige Rede ist gut dokumentiert: sowohl in Schriftform in mehreren Sprachen als auch in einer Video-Aufzeichnung aus dem EU-Parlament in Straßburg. Außerdem ist eine Absichtserklärung von der Leyens verfügbar, die sie in Briefform an die Präsidentin des EU-Parlaments Roberta Metsola und an den spanischen Ministerpräsidenten Pedro Sánchez, der derzeit den Ratsvorsitz innehat, gerichtet hat. Darin erläutert sie die Maßnahmen, die die EU-Kommission im kommenden Jahr durch Rechtsvorschriften und andere Initiativen zu ergreifen beabsichtigt. Zunächst zur Rede. Als Einleitung wählt von der Leyen – respektive ihre Redenschreiber – einen Hinweis auf die Europawahl 2024:
„Meine Damen und Herren Abgeordnete, in weniger als 300 Tagen werden die Europäerinnen und Europäer in unserer einzigartigen und bemerkenswerten Demokratie zu den Wahlurnen gehen. Wie bei jeder Wahl ist dies der Moment, wenn die Menschen über die Lage in unserer Europäischen Union nachdenken werden – und darüber, was jene geleistet haben, die unsere Mitbürgerinnen und Mitbürger vertreten.“
Nun, hoffentlich tun sie Letzteres wirklich.
„Führende Rolle bei ehrgeizigsten Transformationen“
Nachdem sie u.a. die „Folgen des zerstörerischen Klimawandels“ erwähnt hat, gibt von der Leyen zu bedenken, dass es in Anbetracht der anstehenden Wahl darum gehe, „das Vertrauen der Europäerinnen und Europäer“ zu verdienen. Wörtlich sagt sie:
„In den kommenden 300 Tagen müssen wir die Aufgaben zu Ende bringen, die sie [die Europäerinnen und Europäer] uns anvertraut haben. Ich möchte diesem Haus für seine führende Rolle bei der Realisierung einer der ehrgeizigsten Transformationen danken, die diese Union je in Angriff genommen hat. Als ich im Jahr 2019 mit meinem Programm für ein grünes, digitales und geopolitisches Europa vor Ihnen stand, war mir klar, dass einige von Ihnen Zweifel hegten. Und das war, bevor die Welt durch eine globale Pandemie und einen brutalen Krieg auf europäischem Boden aus den Fugen geriet. Aber schauen Sie nur, wo Europa heute steht: Wir haben die Geburt einer geopolitischen Union erlebt – die die Ukraine unterstützt, der Aggression Russlands standhält, auf ein selbstbewusst agierendes China reagiert und in Partnerschaften investiert. Wir haben einen europäischen Grünen Deal, der das Herzstück unserer Wirtschaft und von beispielloser Ambition getragen ist. Wir haben den Weg für den digitalen Wandel geebnet und sind weltweit Vorreiter bei den Online-Rechten. Wir haben NextGenerationEU ins Leben gerufen – eine historische Errungenschaft, die Investitionen und Reformen im Umfang von 800 Milliarden Euro kombiniert und gute Arbeitsplätze für heute und morgen schafft. Wir haben das Fundament für eine Gesundheitsunion gelegt, und dabei geholfen, einen gesamten Kontinent zu impfen – sowie weite Teile der Welt noch dazu. Wir haben damit begonnen, uns in kritischen Bereichen wie Energie, Chips und Rohstoffe unabhängiger zu machen. Ich möchte Ihnen auch für die bahnbrechende Arbeit danken, die wir für die Gleichstellung der Geschlechter geleistet haben. Als Frau bedeutet mir das sehr viel.“
Im Anschluss an diese überwältigende Erfolgsbilanz geht von der Leyen auf die einzelnen Punkte ihrer Agenda näher ein: Der Europäische Green Deal etwa sei aus der Notwendigkeit heraus geboren, „unseren Planeten“ zu schützen. Der diesjährige Sommer sei der heißeste gewesen, der jemals in Europa verzeichnet worden sei. Griechenland und Spanien seien von verheerenden Waldbränden und katastrophalen Überschwemmungen heimgesucht worden. Überall in der Union habe es Chaos und Elend durch extreme Wetterereignisse gegeben. Und von der Leyen betont: „Dies ist die Realität eines Planeten, der kocht.“ Doch die Klima-Agenda sei auch zu einer wirtschaftlichen Agenda weiterentwickelt worden, und die europäische Industrie zeige Tag für Tag, dass sie bereit sei, diesen Übergang voranzubringen. Sie beweise, dass Modernisierung und Dekarbonisierung Hand in Hand gehen können. In den vergangenen fünf Jahren sei die Zahl sauberer Stahlfabriken in der EU von null auf 38 gestiegen, und es gelte, den Stapellauf des ersten Containerschiffs zu feiern, das mit sauberem Methanol aus Sonnenenergie betrieben wird. Stolz verkündet von der Leyen: „Das ist die starke Antwort Europas auf den Klimawandel.“
Um einen Ansatz für jedes industrielle Ökosystem zu entwickeln, solle noch in diesem Monat damit begonnen werden, eine Serie von Energiewende-Dialogen mit der Industrie zu führen. Kernziel werde es sein, jeden Sektor gezielt bei der Entwicklung seines Geschäftsmodells für die Dekarbonisierung der Industrie zu unterstützen. Auch ein Paket für die Windkraft in Europa solle vorgelegt und Genehmigungsverfahren noch weiter beschleunigt werden.
Noch ein neuer EU-Beauftragter
Diese wie verheißungsvolle Drohungen wirkenden Ankündigungen sind aber längst nicht alles. Von der Leyen kommt auch auf „Fairness“ zu sprechen:
„Nehmen Sie nur den Elektrofahrzeug-Sektor. Eine entscheidende Industrie für eine saubere Wirtschaft – mit enormem Potenzial für Europa. Doch nun werden die Weltmärkte mit billigeren chinesischen Elektroautos überschwemmt. Der Preis dieser Autos wird durch riesige staatliche Subventionen künstlich gedrückt. Das verzerrt unseren Markt. Und so, wie wir dies nicht von innen akzeptieren, akzeptieren wir es auch nicht von außen. Und so kann ich Ihnen heute mitteilen, dass die Kommission eine Antisubventionsuntersuchung zu Elektrofahrzeugen aus China einleitet.“
Zum Thema Lebensmittelsicherheit versichert von der Leyen, dass sie einen „strategischen Dialog zur Zukunft der Landwirtschaft in der EU“ starten wolle und betont: „Ich bin und bleibe davon überzeugt, dass Landwirtschaft und Naturschutz zusammen gehen. Wir brauchen beides.“ Besonders stolz zeigt sich von der Leyen auf das Programm „NextGenerationEU“, mit dem der Wirtschaftsmotor nach der „globalen Pandemie“ sofort wieder angeworfen worden sei. Die Ergebnisse seien nun sichtbar: Europa verzeichne nahezu Vollbeschäftigung. Und von der Leyen frohlockt:
„Statt Millionen von Menschen, die einen Arbeitsplatz suchen, suchen jetzt Millionen von Arbeitsplätzen nach Menschen. Der Arbeits- und Fachkräftemangel hat Rekordstände erreicht – sowohl bei uns als auch in allen anderen großen Volkswirtschaften. 74 Prozent aller KMU [kleine und mittlere Unternehmen] geben an, unter Fachkräftemangel zu leiden.“
Drängt sich die Frage auf, ob der Fachkräftemangel nicht eher auf fehlende Qualifikationen zurückzuführen ist. Denn von der Leyen gibt durchaus zu, dass sich acht Millionen junge Menschen weder in Arbeit noch in Schule oder Ausbildung befinden. Als Lösung für den Fachkräftemangel sieht sie allerdings weitere Zuwanderung an.
Zum Thema Inflation beteuert von der Leyen, dass Christine Lagarde und die Europäische Zentralbank alles daran setzten, um die Inflation einzudämmen. Eine gute Nachricht sei, dass die Energiepreise dank der Maßnahmen auf europäischer Ebene erneut zurückgingen. Putin habe zwar Gas gezielt als Waffe eingesetzt und damit Ängste vor einem Blackout und einer Energiekrise wie in den 70er Jahren geschürt, doch von der Leyen klopft sich auf die Schulter:
„Wir haben es geschafft. Weil wir uns geschlossen gezeigt – unsere Nachfrage gebündelt und Energiekäufe gemeinsam getätigt haben. Wir müssen deshalb nach Wegen suchen, wie wir dieses Erfolgsmodell in anderen Bereichen wie bei kritischen Rohstoffen oder sauberem Wasserstoff kopieren können.“
Um besonders kleine und mittlere Unternehmen zu unterstützen, soll noch vor Ende des Jahres u.a. ein KMU-Beauftragter der EU ernannt werden, der von der Leyen direkt Bericht erstatten soll. Außerdem soll ebenfalls noch in diesem Jahr das erste Treffen des neuen Clubs für kritische Rohstoffe einberufen werden. Von der Leyen ermutigt die EU-Mitgliedstaaten, ihr Gesundheitswesen, ihr Justizsystem und ihr Verkehrsnetz weiter zu digitalisieren. Europa habe eine Vorreiterrolle beim Umgang mit den Risiken der digitalen Welt übernommen: Um vor Desinformation und Verbreitung schädlicher Inhalte zu schützen, seien der Digital Services Act und der Digital Markets Act verwirklicht worden. Was von der Leyen hier allerdings als „historische Errungenschaft“ in positivem Sinn bezeichnet, kann durchaus auch als Zensurbestrebungen aufgefasst werden.
Blaupause für die ganze Welt?
Ursulas Erfolgsstory geht noch immer weiter: Die EU-Kommission habe ein innovationsfreundliches Gesetz zur Künstlichen Intelligenz (KI) vorgelegt, das bereits zu einer Blaupause für die ganze Welt geworden wäre. Von der Leyen wünscht sich für die KI ein ähnliches Gremium wie den Weltklimarat, das der Politik immer die neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisse zur Verfügung stellt.
Schließlich kommt sie auf die Ukraine und auf die Erweiterung der EU zu sprechen. Hier beteuert sie: „Wir werden der Ukraine bei jedem Schritt auf ihrem Weg zur Seite stehen. So lange wie nötig.“ Und sie bilanziert:
„Wir haben allein in diesem Jahr 12 Milliarden Euro für die Zahlung von Löhnen und Renten bereitgestellt. Um Krankenhäuser, Schulen und andere Dienste am Laufen zu halten. Und mit unserem ASAP-Vorschlag steigern wir die Munitionsproduktion, um den unmittelbaren Bedarf der Ukraine zu decken. Doch wir schauen weiter voraus. Deshalb haben wir die Bewilligung von weiteren 50 Milliarden Euro für Investitionen und Reformen vorgeschlagen. Sie werden zur Zukunft der Ukraine beitragen, zu ihrem Wiederaufbau als modernes und blühendes Land. Und diese Zukunft ist deutlich abzusehen. Dieses Haus hat es laut und deutlich ausgesprochen: Die Zukunft der Ukraine liegt in unserer Union.“
In ihrer zusätzlichen Absichtserklärung wird von der Leyen noch konkreter:
„Auch jetzt, wo der Krieg schon fast zwei volle Jahre andauert, steht Europa unerschütterlich und ungebrochen an der Seite der Ukraine, und wird dies so lange wie nötig tun. Die Union und ihre Mitgliedstaaten haben insgesamt bereits 76 Mrd. EUR zur Unterstützung der ukrainischen Wirtschaft und Gesellschaft und des ukrainischen Militärs bereitgestellt. Ich bin stolz darauf, dass wir vorschlagen werden, den vorübergehenden Schutz von Ukrainerinnen und Ukrainern in der EU zu verlängern. Das bedeutet, dass unsere ukrainischen Freunde weiterhin Zugang zu unserem Arbeitsmarkt, unseren Schulen und unserem Gesundheitssystem haben werden. Auf dem Weg zum rechtmäßigen Platz der Ukraine in der Union werden wir deren wirtschaftliche Heranführung vorantreiben. Gleichzeitig verschärfen und verlängern wir die Sanktionen, arbeiten daran, unsere militärische Unterstützung durch die Europäische Friedensfazilität zu erhöhen, und bilden ukrainische Soldatinnen und Soldaten aus. Wir stehen vor einer historischen Aufgabe. Während sich die Kandidatenländer auf den Beitritt vorbereiten, muss sich auch die Union auf die Situation einstellen. Diese nächste Erweiterung muss ein Katalysator für den Fortschritt sein, wie auch alle bisherigen Erweiterungen durch tiefgreifende institutionelle Reformen vorbereitet und mit diesen verknüpft wurden. Die Kommission wird ihre Ideen hierzu einbringen.“
„Blühende Gemeinschaft“
Auch die Zukunft des Westbalkans und Moldaus sieht von der Leyen in der EU, und sie spricht von einer „vollendeten Union mit über 500 Millionen Menschen, die in einer freien, demokratischen und blühenden Gemeinschaft leben“, einer Union „mit lebendigen Demokratien, in denen die Justiz unabhängig ist, Opposition respektiert wird und Journalistinnen und Journalisten geschützt werden. Weil Rechtstaatlichkeit und Grundrechte stets die Grundlagen unserer Union bilden werden – in den heutigen wie auch künftigen Mitgliedstaaten.“
Klingt wunderbar. Nur: Wie sah noch gleich die Realität in der Coronakrise in Bezug auf die Grundrechte aus? Und wie verhält es sich mit dem Respekt gegenüber einer Oppositionspartei beispielsweise im deutschen Bundestag? Geradezu beschwörend fügt von der Leyen an: „27 von uns haben mit dem Aufbau einer Gesundheitsunion begonnen. Und ich glaube, dass mehr als 30 Staaten sie vollenden werden. 27 von uns haben mit dem Aufbau der Europäischen Verteidigungsunion begonnen. Und ich glaube, dass mehr als 30 Staaten sie vollenden werden. Und ich glaube, dass Europa auch mit mehr als 30 Staaten funktioniert.“ Um die EU-Erweiterung voranzubringen, will sie aber nicht unbedingt auf eine Vertragsänderung warten. Denn sie ist sich sicher: „Eine erweiterungsfähige Union können wir rascher erreichen.“
Martina Binnig lebt in Köln und arbeitet u.a. als Musikwissenschaftlerin (Historische Musikwissenschaft). Außerdem ist sie als freie Journalistin tätig.