Die Würde des Menschen ist unauffindbar
Links sein ist eine einzige kognitive Dissonanz. Wer gestern noch gegen Hate-Speech wetterte und Black Lives vor Mikroaggression schützen wollte, sieht heute bei dem polit-taktischen Manöver Horst Seehofers der Ankündigung einer Strafanzeige gegen die taz-Kolumnistin Hengameh Yaghoobifarah die Pressefreiheit in Gefahr. Jetzt gibts schon aufgeregte Unterschriftensammlungen der üblichen Verdächtigen.
Natürlich ist dieser Personenkreis deckungsgleich mit jenem, der Akif Pirinçcis Bücher nach seiner Pegida-Rede 2015 am liebsten in einem Verwaltungsakt hätte verbrennen lassen. Links sein bedeutet Freiheit für alle, aber nur zur Bedingung der herrschenden Meinung. All animals are equal, but some animals are more equal than others. Nur wer diese Dissonanz ignoriert oder, noch besser, wem sie gar nicht erst auffällt, kann links sein oder überhaupt irgendwie Ideologe, egal welcher Richtung.
Zunächst einmal eins. Ich kann mir nicht vorstellen, dass es irgend jemanden da draußen gibt, der glaubt, dass auch nur einer derer, die die Stuttgarter Innenstadt auseinandergenommen und die Polizisten zusammengetreten haben, morgens, bei Kaffee und Croissants, die von ihnen abonnierte taz lasen und sich dann dachten: „Recht hat sie, die Hengameh! Setzen wir ihre Worte in Taten um! Quasi wie bei Faust I, Bruder! Im Anfang war die Tat!“ Nein. Stuttgart ist nicht Hate-Speech. Stuttgart ist Multikulti, Stuttgart ist bunt. Deutschland ändert sich. Freuen sie sich nicht?
Der Ausschluss von Meinungen
Die noch größere Gefahr für unsere Demokratie sehe ich allerdings in einem anderen Aspekt. Die taz-Kolumne treibt nur etwas auf die Spitze, was längst öffentlich-rechtlicher, politischer, gesellschaftlicher Alltag ist: Der Ausschluss von Meinungen. Statt des „Sapere aude“ der Aufklärung haben wir es wieder mit Propheten der Wahrheit zu tun, denen es nicht zu widersprechen gilt. Nur 30 Jahre nach dem Fall des letzten großen totalitären Regimes wird damit Schippchen für Schippchen die Freiheit begraben.
Die Errungenschaft der Aufklärung Kants ist die Autonomie des Einzelnen. „Sapere aude“ bedeutet, dass keine externe Autorität, egal ob göttlich oder hochherrschaftlich, als moralische Instanz fungieren kann. Wir sind einzig uns selbst und unserem Gewissen verpflichtet. Aus diesem Verständnis heraus, ist jeder Einzelne und seine Meinung zu respektieren. Kant würde sagen, nur so erkennt man die Würde der menschlichen Person an. Man kann sich vorzüglich über jede einzelne propagandistisch-einseitige Berichterstattung des 8-Milliarden-Rundfunks aufregen und bekommt Bluthochdruck oder man blickt auf die darunter liegende Menschenverachtung und bekommt Gänsehaut.
Die pejorative Berichterstattung über Pegida, die bevorzugte Fotografie des AfD-Politikers oder Trumps immer von unten und mit verzerrtem Gesicht. „Spiel nicht mit den Schmuddelkindern!“ in Dauerbeschallung. Diese Einteilung des Diskurses in legitime und illegitime Wortmeldungen hat sich längst in alle Bereiche der Gesellschaft ausgebreitet. Das Private ist sowas von politisch. Auch die Wissenschaft nimmt sich da nicht raus. Wer ein wenig Sowjetunion der 1920er Jahre light erleben will, der kann auf Twitter die Jagd auf den Ökonomen Harald Uhlig, der (noch) an der Chicago University lehrt, verfolgen. Es geht nirgends um das Austauschen von Argumenten, es geht um die Zerstörung der öffentlichen Persona. Oft wird in solchen Fällen entgegnet – gerne mit einem spöttischen Lächeln um die Mundwinkel – man könne doch alles sagen, man müsse nur auch mit den Konsequenzen rechnen. Das stimmt natürlich. So gesehen konnte man auch unter Stalin und Hitler alles sagen. Aber dieser Typus des beflissentlich an die Behörden Meldenden, der dabeisteht und sich an dem Bild ergötzt, wenn der Mob tobt, kommt mir in diesem Zusammenhang sowieso bekannt vor.
Ohne freien Gedankenaustauch gibt es keine politische Freiheit
Die Würde des Menschen ist längst angegriffen. Die Antwort darauf wäre: keine weitere Einschränkung der Meinungsfreiheit, egal ob nun die von Hengameh Yaghoobifarah oder die von Björn Höcke, sondern eine absolute Verbreiterung des Diskurses. Denn ohne freien Gedankenaustausch kann es keine tatsächliche Gedankenfreiheit geben und ohne freien Gedankenaustauch gibt es keine politische Freiheit.
Zu einer solchen Reform wird es nicht kommen. Die Gräben sind zu tief, als das die Herrschaftsmeinung in einer kritischen Diskussion – zu der es seit Jahren nicht mehr kommt – angegriffen und verändert werden könnte. Überhaupt, wie soll man mit jemandem einen Diskurs führen, der für sich in Anspruch nimmt, Meinungen in richtige und falsche zu unterteilen und damit deren Vertreter nach Menschen und Unmenschen kategorisiert? Auch noch so gute Wahlergebnisse der AfD werden daran nichts ändern – wenn es denn überhaupt zu renitentem Verhalten in der Wahlkabine kommt. Die wenigsten Bürger entsprechen wohl dem mündigen Citoyen der Aufklärung. Die meisten lassen sich durch den Meinungskorridor, an dessen Rändern die Aussätzigen lauern, folgsam leiten und sind stets darauf bedacht, bloß nicht vom Weg abzukommen.
Heinrich Heine hat die Vorboten totalitärer Herrschaft in seinem oft zitierten Satz so zusammengefasst: „Dort wo man Bücher verbrennt, verbrennt man auch am Ende Menschen.“ Wie Kant verweist er auf die Negierung der Menschenwürde, die einer solchen Handlung innewohnt. Man muss nicht mal so symbolträchtig Handeln und Meinungen den Flammen übergeben. Es reicht bereits, sie offiziell auszuschließen und zu ächten. Manchmal frage ich mich, wie lange man noch sicher sein kann, dass es der DHL-Mann ist, wenn es klingelt. Um bei Heine zu bleiben: Deutschland 2020 bringt mich um den Schlaf.