Was für ein großartiger Seufzer der Erleichterung entringt sich tausend europäischen Kommentatorenkehlen angesichts der blutigen Tragödie im fernen Virginien: „Selber schuld!“, lautet ihr Fazit. „Selber schuld!“ ist die wohl primitivste Form von Mitleidsverweigerung, über die der Mensch verfügt. Wenn Eltern das Schmerzgeschrei ihres hingefallenen Kindes nicht ertragen, dann sagen sie ihm, es sei selber schuld. Wenn irgend etwas Schlimmes in Amerika passiert, dann heißt es bei uns in Presse, Funk und Fernsehen, die Amerikaner seien selber schuld. Verwüsten Wirbelstürme Stadt und Land, dann liegt es daran, daß die USA das Kyoto-Protokoll nicht unterzeichnet haben. Bringt ein Verrückter 33 Menschen um, dann bekommen die journalistischen Fernfuchtler erst richtig Oberwasser. Dann können sie ihren Lesern, Hörern und Zuschauern nämlich erklären, warum die Vereinigten Staaten nicht funktionieren.
Vom Zürcher „Tages-Anzeiger“ bis „Le Monde“ und vom „Independent“ bis zum „Corriere della Sera“ weht einhellige Empörung durch den Blätterwald: die unzivilisierten Amis mit ihrem Waffenbesitz-Spleen, so der Tenor aller Kommentare, haben Vorkommnisse wie das von Blacksburg geradezu verdient. Schließlich sind die USA eines der wenigen Länder, wie der „Guardian“ feinsinnig formulierte, „die gesellschaftlich unwillig und politisch unfähig zu sein scheinen, irgend etwas Ernsthaftes zu tun, um solche Dinge zu unterbinden.“
Es ist immer wieder erstaunlich, wie wenig Ahnung manche Leute, die über Amerika schreiben, von Amerika haben. Sie sitzen in ihren Redaktionsbüros in Zürich, London, Paris oder Mailand und wissen einfach nicht, was es bedeutet, in einem Land von fast zehn Millionen Quadratkilometern Fläche zu leben, das großenteils menschenleer ist. Wer dort auf seiner Ranch am Fuß der Rocky Mountains die Polizei ruft, der ist in einer anderen Lage als in der Zürcher Innenstadt. Dort braucht der Sheriff nämlich Stunden, um überhaupt zum Tatort zu gelangen: Stunden, in denen man sich selbst behelfen muß, weil das Gewaltmonopol des Staates faktisch eine Chimäre ist.
Dafür sind Gewehre gut. Aber auch um sich der Bären zu erwehren, die zwar nicht durch London oder Mailand stiefeln, wohl aber in Oregon oder Wisconsin um die Häuser streichen. Auch ein Rind oder ein Pferd, das sich auf einer Ranch verletzt hat, muß gelegentlich erschossen werden; man kann ja nicht als einzelner mit Steinen oder Eisenstangen auf die Tiere einprügeln, bis deren Schädeldecke bricht. Das sind die praktischen Probleme des Landlebens in den enormen Weiten von Amerika; sie mögen aus europäischer Perspektive gesucht und abwegig erscheinen, aber sie sind es nicht: sie gehören vielmehr zum Alltag.
Wenn man allerdings aus diesen Gründen dem Rancher Waffenbesitz zubilligt, dann kann man ihn schlecht einem anderen Bürger verwehren. Doch bis zu solchen Argumenten möchten sich die europäischen Besserwisser lieber gar nicht durcharbeiten. Auch die Kriminalitätsstatistiken sind ihnen egal:
In Vermont, wo jeder nicht vorbestrafte Erwachsene sogar ohne Lizenz eine Handfeuerwaffe mit sich führen darf, geschehen die wenigsten Verbrechen; in Washington D.C. hingegen, wo fast jeder private Waffenbesitz verboten ist, die meisten. Macht aber alles nichts: Kommentare dienen bekanntlich nicht der sachlichen Erkenntnis, sondern der seelischen Entlastung.