Gastautor / 19.02.2024 / 16:00 / Foto: Bundesarchiv/ H.Hoffmann / 10 / Seite ausdrucken

Die Vorgänger der Hamas in Palästina

Von Eric Angerer.

Die Gründung der Hamas 1987 war im Wesentlichen eine Umbenennung. Die palästinensische „Islamische Widerstandsorganisation“ steht in der Tradition der palästinensischen Muslimbrüder und des berüchtigten Muftis von Jerusalem.

Im Jahr 1946, also zwei Jahre vor der Ausrufung des Staates Israel, hielt die palästinensische Muslimbruderschaft ihre Gründungskonferenz im Samer-Kino in Gaza ab. Dem wohnt eine gewisse Ironie inne, sollten doch Kinos als Ausdruck einer feindlichen dekadenten westlichen Kultur bald ins Visier der islamischen Bewegung geraten.

Die ägyptische Muslimbruderschaft war 1928 gegründet worden und hatte von 1937 bis 1945 mit finanzieller Unterstützung aus NS-Deutschland einen rasanten Aufschwung erlebt. Ihre Expansion nach Palästina hatte 1945 begonnen, in einer Krisenzeit der Bewegung, in der die regelmäßigen Tausend-Pfund-Schecks aus dem „Dritten Reich“ nicht mehr ankamen und in der man die Hoffnung, die Wehrmacht würde gegen Briten und Juden helfen, begraben werden musste. Die Zusammenarbeit der ägyptischen Muslimbrüder mit Gleichgesinnten in Palästina geht allerdings mindestens bis in die 1930er Jahre zurück.

Muslimbrüder in Palästina

Das benachbarte britische Mandatsgebiet Palästina war für die ägyptischen Muslimbrüder schon lange davor eine Zielregion. Gründe dafür waren nicht nur die geografische Nähe und der Konflikt mit den einwandernden Zionisten, sondern auch etwas sehr Praktisches. In der britischen Mandatszeit, also 1922 bis 1948, waren auch viele Ägypter nach Palästina eingewandert, die vom Wirtschaftsboom profitieren wollten, den die Zionisten auslösten. Unter ihnen waren auch Anhänger der Muslimbrüder, die eine erste personelle Präsenz schufen und Propaganda betrieben.

Der zentrale Kooperationspartner der Muslimbrüder in Palästina war aber der Großmufti von Jerusalem (Foto oben mit Hitler). Amin al-Husseini stammte aus einer einflussreichen Familie, hatte vor dem Weltkrieg in Kairo und Istanbul studiert und wurde 1922 vom britischen Hochkommissar für Palästina trotz seiner mangelnden religiösen Ausbildung zum Mufti ernannt. Mit diesem Amt wollten die Briten den al-Husseini-Clan befrieden, ein neues politisch-religiöses Oberhaupt schaffen und kontrollieren. Al-Husseini wurde zusätzlich noch Präsident des damals gegründeten Obersten Islamischen Rats, der islamische Einrichtungen, Stiftungen und Scharia-Gerichte verwaltete.

Al-Husseini vereinte damit das höchste religiöse und politische Amt. Er war damit der mit Abstand einflussreichste Araber in Palästina und entwickelte ähnliche Positionen wie die ägyptischen Muslimbrüder. Insbesondere untermauerte er den arabischen Konflikt mit den Zionisten religiös. Er erfand dabei auch Behauptung, die Juden würden die al-Aqsa-Moschee in Jerusalem, die demonstrativ auf einem ehemaligen jüdischen Tempel erbaut worden war, zerstören wollen. Obwohl die Zionisten stets gesagt hatten, dass sie die religiösen Rechte der Muslime am Tempelberg immer respektieren würden, gelang es al-Husseini unter anderem mit gefälschten Fotos, in der islamischen Welt gegen den Zionismus zu mobilisieren. 

Antijüdische Pogrome

Ab 1928 ließ al-Husseini Juden, die an der Jerusalemer Westmauer beten wollten, ständig beschimpfen und mit Steinen bewerfen. Im August 1929 schließlich hetzten al-Husseini und Imame in Freitagsgebeten die Islamgläubigen mit Lügen dermaßen auf, dass diese daraufhin Juden in Jerusalem verprügelten und das Massaker von Hebron verübten, bei dem 67 Juden ermordet wurden. Die britische Polizei stoppte dieses von al-Husseini initiierte Pogrom erst nach langem Zögern.

Und es war nicht das einzige antijüdische Pogrom in den 1920er Jahren. Die Slogans der Angreifer waren etwa „Die Juden sind unsere Hunde!“, „Wir werden das Blut der Juden trinken!“ und „Schlachtet die Juden ab!“. Und die Slogans wurden in die Praxis umgesetzt. In verschiedenen Orten kam es zu barbarischen Massakern. In den Städten Hebron, Safed, Tulkarem, Kalkilya und Gaza wurden die jüdischen Bewohner umgebracht beziehungsweise vertrieben – schließlich auch aus Jaffa.

Al-Husseini lehnte jede Verständigung mit den Juden in Palästina ab und verlangte einen Stopp der jüdischen Einwanderung. Mit einer Fatwa erklärte er ganz Palästina zum „anvertrauten Gut“ der Muslime. Da Briten und Juden die muslimische Gesellschaft zerstören wollten, ließ er Sittenwächter einsetzen, die eine islamische, antimoderne Kleiderordnung durchsetzten, insbesondere die Verschleierung von Frauen. Außerdem trieben sie Zwangsspenden ein, Verweigerer wurden ermordet.

Schließlich war al-Husseini der unangefochtene Anführer des arabischen Aufstandes gegen die britische Herrschaft. Der Aufstand hatte 1936 mit der Ermordung von Juden in Nablus begonnen und dauerte bis 1939. Anfänglich hatte al-Husseini auf einen arabischen Generalstreik gesetzt, Gewalt gegen die Briten aber abgelehnt. Die systematischen Angriffe gegen jüdische Zivilisten wurden allerdings von ihm organisiert. Er propagierte nun immer intensiver judenfeindliche Stellen aus dem Koran und rief alle Muslime auf, nicht zu ruhen, bis ihre Länder frei von Juden seien. Diese nannte er „Mikroben“ und „Abschaum aller Länder“. Und schließlich organisierte er Anschläge gegen moderate Palästinenser, die eine Verständigung mit den Briten und Juden anstrebten. Am arabischen Aufstand in Palästina beteiligten sich bereits ägyptische und palästinensische Muslimbrüder als freiwillige Kämpfer. Aus deren Zellen entstand später der militärische Arm der Organisation.

Kooperation mit den Nazis

Ende März 1933, also bereits zwei Monate nach Hitlers Machtergreifung, hatte sich al-Husseini mit dem deutschen Generalkonsul in Jerusalem getroffen und ihm angeboten, das NS-Regime zu unterstützen. Er erklärte in dem Gespräch ausführlich, dass alle Muslime weltweit das NS-Regime begrüßten. Dem deutschen Judenboykott werde die ganze islamische Welt begeistert beitreten. Ab 1937 gewährten das NS-Regime und das faschistische Italien al-Husseini Finanzhilfen. Im selben Jahr erklärte er, die Araber und Nazideutschland hätten denselben Feind, die Briten und die Juden.

Zur Unterstützung al-Husseinis im Palästina-Konflikt stoppte das NS-Regime im Juni 1937 die bis dahin geförderte Auswanderung deutscher Juden nach Palästina. Der deutsche Außenminister wies die deutschen Botschafter in London, Bagdad und Jerusalem an, das „Arabertum“ als Gegengewicht zum Zionismus zu stärken. Ein Judenstaat würde dem „Weltjudentum“ nur eine zusätzliche Machtbasis verschaffen und liege daher nicht im deutschen Interesse. 

SS-Offizier Adolf Eichmann, der spätere Organisator des Holocaust, empfahl nach einer Palästina-Reise im Oktober 1937 den Mufti als geeigneten Partner für Nazi-Deutschland, da er der Führer der Araber sei. Ab 1938 lieferte Deutschland auch Waffen an die Verbände al-Husseinis. Im Oktober 1939 floh dieser vor den Briten in den Irak, wo er von der antibritischen Bevölkerung mit Begeisterung empfangen wurde. Er versuchte, den Irak für die Achsenmächte zu gewinnen.

Ein Putschversuch im April 1941 wurde allerdings von den Briten niedergeschlagen, und al-Husseini musste erneut fliehen. Von 1941 bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs lebte er in Deutschland, war mit Eichmann befreundet und verbreitete über einen Kurzwellensender, der im arabischen Raum ausgestrahlt wurde, die nationalsozialistische Propaganda unter Muslimen.

Al-Husseini und der Holocaust

Er unterstützte leidenschaftlich den Holocaust und wirkte daran mit, indem er Fluchtwege für Juden aus Osteuropa zu blockieren suchte und so Tausende dem NS-Regime auslieferte. 1943 verhinderte er beispielsweise die von den NS-Behörden bereits genehmigte Ausreise von 5.000 jüdischen Kindern nach Palästina; sie wurden später im Lager Auschwitz ermordet.

Zudem wurde al-Husseini Mitglied der SS. Er spielte eine zentrale Rolle dabei, auf dem Balkan Muslime für die Waffen-SS sowie drei arabische Einheiten für die Nazis zu mobilisieren. Schlussendlich kämpfen am Höhepunkt der Rekrutierung etwa 250.000 Muslime, vor allem vom Balkan und aus der Sowjetunion, für die Nazis. Al-Husseini verlangte außerdem von der deutschen Luftwaffe die Bombardierung Tel Avivs.

Er forderte die Araber Syriens, des Iraks und Palästinas mit Berufung auf den Koran und Mohammed dazu auf, die Juden in Palästina sämtlich zu töten. Und er sprach etwa 1942 von der „besten Chance, diese dreckige Rasse loszuwerden“. Im März 1944 rief er erneut zum Heiligen Krieg:

„Araber! Erhebt Euch wie ein Mann und kämpft für Eure heiligen Rechte. Tötet die Juden, wo immer Ihr sie findet. Das gefällt Gott, der Geschichte und der Religion. Es dient Eurer Ehre. Gott ist mit Euch.“

Kontinuität nach 1945

1946 konnte al-Husseini, obwohl er von Jugoslawien und Großbritannien als Kriegsverbrecher gesucht wurde, mit französischer Hilfe nach Ägypten ausreisen, wo ihn Hassan al-Banna, der Führer der dortigen Muslimbruderschaft, mit einer Lobrede empfing:

„Der Mufti ist so viel wert wie eine ganze Nation. Der Mufti ist Palästina, und Palästina ist der Mufti. O Amin! Was bist du doch für ein großer, unbeugsamer, großartiger Mann! Hitlers und Mussolinis Niederlage hat dich nicht geschreckt. Was für ein Held, was für ein Wunder von Mann. Wir wollen wissen, was die arabische Jugend, Kabinettsminister, reiche Leute und die Fürsten von Palästina, Syrien, Irak, Tunesien, Marokko und Tripolis tun werden, um dieses Helden würdig zu sein, ja dieses Helden, der mit der Hilfe Hitlers und Deutschlands ein Empire herausforderte und gegen den Zionismus kämpfte. Deutschland und Hitler sind nicht mehr, aber Amin al-Husseini wird den Kampf fortsetzen.“

Al-Husseini empfing in Kairo viele deutsche Nationalsozialisten und half ihnen, in arabischen Staaten unterzutauchen und dort als Militärberater antiisraelischer Truppen tätig zu werden. Er verhalf dem Hitlerbiografen und engen Goebbels-Mitarbeiter Johann von Leers zum Übertritt zum Islam und zu einem Posten im Informationsministerium Ägyptens. 

Gegen den UN-Teilungsplan

Der Mufti war weiterhin als zentraler Führer der Araber in Palästina anerkannt und spielte die wesentliche Rolle dabei, dass die arabische Seite 1947 den UN-Teilungsplan ablehnte. Nach dem Teilungsbeschluss im November führte der Mufti eine Truppe aus Muslimbrüdern in den Kampf gegen die Zionisten nach Palästina. Er verhalf hunderten deutschen Kriegsgefangenen zur Flucht aus britischen Lagern und vereinte seine Truppe mit ihnen sowie mehr als 900 muslimischen Bosniern, die schon in seiner SS-Division Handschar gekämpft hatten.

Sie verübten, noch vor der israelischen Unabhängigkeitserklärung im Mai 1948, Überfälle und Terroranschläge auf jüdische Dörfer. Angeleitet wurden die Angriffe in der Region Gaza von Hassan al-Bana, dem Führer der ägyptischen Muslimbrüder. Das jüdische Dorf Kfar Darom war das erste Ziel. Eines der daran beteiligten Mitglieder der Muslimbruderschaft war der in Ägypten geborene Jassir Arafat, der spätere Führer der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO). Die 400 Einwohner des Dorfes wurden von Dutzenden israelischen Milizionären verteidigt, die Dschihadisten zurückgeschlagen, sie ließen 70 Tote zurück. 

Aufbau von Gaza aus

Seit der Gründung der palästinensischen Muslimbruderschaft 1946 richtete sie Zellen in ganz Israel/Palästina ein. Al-Bana hatte diese Aufgabe an Said Ramadan übergeben, seinen Schwiegersohn und eine Schlüsselfigur der Bruderschaft. Ramadan war anfangs in Jerusalem tätig, wurde später in Ägypten kurzzeitig verhaftet und lebte von 1954 an in Deutschland und der Schweiz. Bei der internationalen Koordination der Muslimbruderschaft spielte für ihn eine Moschee in München eine zentrale Rolle, die von ehemaligen muslimischen Nazisoldaten gegründet worden war. Ein CIA-Bericht aus den 1950er Jahren beschrieb Ramadan als einen „faschistischen Typ“, der davon besessen war, die Juden aus Israel zu vertreiben.

Der Aufbau von Organisationen der Bruderschaft in ganz Israel/Palästina war für Ramandan eine Mission. Ihre Präsenz in Gaza war Teil eines Bündnisses mit bedeutenden Familien, darunter die Shawwas. Said al-Shawwa, der frühere Bürgermeister von Gaza, hatte an der Seite von Amin al-Husseini dem Obersten Muslimischen Rat angehört. An der Spitze der Gaza-Bruderschaft stand später Zafer Shawwa.

Als Ägypten, Syrien, Libanon, Jordanien und der Irak unmittelbar nach der Staatsgründung Israel angriffen, unterstützten die Muslimbrüder in Gaza die ägyptische Invasion. Nach der verheerenden Niederlage der arabischen Armeen und israelischen Gebietsgewinnen kam der Gazastreifen unter ägyptische Verwaltung. Dort setzte die verbotene Muslimbruderschaft ihre Aktivitäten als „Verein des islamischen Einheitsglaubens“ (Dschamiyat al-Tauhid) fort.

Krieg im „Frieden“

In den 18 Jahren zwischen dem Waffenstillstandsabkommen 1949 und dem Sechstagekrieg 1967 herrschte keineswegs Frieden. Vor allem aus dem Gaza-Streifen heraus, aber auch aus der jordanisch kontrollierten Westbank führten islamische Terroristen, die als Fedajin, als „diejenigen, die sich für Allah opfern“, auftraten, etwa 60 Angriffe auf israelisches Gebiet durch, bei denen hunderte Zivilisten massakriert wurden. In etlichen Fällen wurden auch Mädchen und Frauen vergewaltigt oder Leichen verstümmelt und geschändet. Eine der Gräueltaten der Terroristen war das Massaker am Skorpionpass im Jahr 1954, bei dem Männer, Frauen und Kinder eines Busses, der aus einem Strandort zurückkehrte, abgeschlachtet wurden. 

Für die Überfälle war eine Allianz zwischen dem ägyptischen Militär und der Muslimbruderschaft entscheidend. Militante Teile ließen sich von ägyptischen Armeeoffizieren ausbilden und gründeten ein „Bataillon des Rechts“ (katibat al-haq) sowie eine „Rächende Jugend“ (schahab al-thar). Sie wurden aus dem Gazastreifen losgeschickt, um die Grenze zu überqueren und wahllos israelische Zivilisten zu ermorden. Die ägyptische Regierung tat die Gräueltaten als das Werk lokaler beduinischer Araber ab, über die sie keine Kontrolle hatte. Die Israelis wussten es besser, aber die Leugnung durch die ägyptische Regierung und die Bruderschaft wurde von der UNO akzeptiert. Als Israel die Angreifer zurückschlug, wurde es verurteilt, weil es Zivilisten angegriffen hatte. 

„Im Gegenzug für ihre Kriegsführung gegen Israel erhielt die Muslimbruderschaft Finanzierung, Ausbildung und die Befugnis, die Kontrolle über die Gebiete zu behalten, die sie für ihre Operationen nutzte. Unter dem Deckmantel des Dschihad gegen die Juden konnte sie das islamische Recht durchsetzen und eine herrschende Klasse aufrechterhalten, die aus ihren Mitgliedern und einflussreichen, mit der Bruderschaft verbündeten Familien bestand.“

Sechstagekrieg

1967 kündigte die Allianz arabischer Staaten einen neuen Angriff auf Israel an. Syriens Präsident Nureddin al-Atassi sprach vom einem „totalen Krieg“, „der die zionistische Basis zerstören wird“. Der syrische Verteidigungsminister Hafiz al-Assad verkündete, seine Streitkräfte seien bereit, „die zionistische Anwesenheit im arabischen Heimatland in die Luft zu jagen“ und einen „Vernichtungskrieg zu führen“.

Radio Kairo meldete: „Unsere Geduld ist zu Ende. Wir werden uns nicht mehr bei den Vereinten Nationen über Israel beklagen. Ab jetzt herrscht der totale Krieg gegen Israel, und er wird zur Auslöschung des Zionismus führen.“ Und Nasser fügte kurz vor Kriegsausbruch hinzu: „Unser grundlegendes Ziel ist die Vernichtung Israels. Das arabische Volk will kämpfen.“ „Die Heere von Ägypten, Jordanien, Syrien und Libanon sind an den Grenzen Israels aufmarschiert. Sie werden die Herausforderung annehmen. (…) Die Stunde der Entscheidung ist da. Die Zeit der Erklärungen ist vorbei, die des Handelns gekommen.“ 

Am 4. Juni 1967 trat der Irak dem Militärbündnis von Ägypten, Jordanien und Syrien bei, und der irakische Präsident Abd ar-Rahman Arif erklärte:

„Die Existenz Israels ist ein Fehler, der korrigiert werden muss. Dies ist die Gelegenheit, die Schmach auszulöschen, die man uns seit 1948 angetan hat. Unser Ziel ist klar: Israel von der Landkarte wegzufegen.“

Israel kam mit einem Präventivschlag dem Angriff zuvor, besiegte die arabischen Streitkräfte – und besetzte die Westbank, den Gazastreifen, die Sinai-Halbinsel sowie die Golan-Höhen. Das war für die Muslimbruderschaft und andere Terrorgruppen ein schwerer Rückschlag. Ohne sichere Stützpunkte in Gaza und der Westbank konnten sie nicht wie bisher agieren.

PLO und Muslimbrüder

In der Folge wurde die Bruderschaft vorübergehend geschwächt, und die 1964 gegründete säkulare „Palästinensische Befreiungsorganisation“ (PLO) erlebte einen Aufschwung. Sie stand unter der Führung des Ex-Muslimbruders Arafat, dessen Mentor und Vorbild der mittlerweile in Beirut lebende NS-Kollaborateur al-Husseini war.

Die PLO konnte auch deshalb aufsteigen, weil sie unter dem Schutzschirm der Sowjetunion und von arabischen Staaten stand, die mit der Sowjetunion kooperierten, dem nasseristischen Ägypten und dem baathistischen Syrien. Sie proklamierte, durch internationale Terroranschläge wie Flugzeugentführungen und das Massaker von München bei den Olympischen Spielen 1972 einen palästinensischen Staat anzustreben. Der Muslimbruderschaft fehlte damals noch der globale Rückhalt der PLO, obwohl sie unter Kadern wie Ramadan hart daran arbeitete, ihre Infrastruktur über Moscheen und religiöse Zentren international auszubauen. Und...

„ ...während Arafat zu einem internationalen Star wurde, war die Muslimbruderschaft in Gaza damit beschäftigt, eine islamische Infrastruktur aufzubauen, die ihn überdauern sollte. Die Muslimbruderschaft in Gaza war weniger an dem fiktiven Konstrukt des ‚Palästinensertums‘ interessiert als an der Kontrolle der Moscheen, des Bildungssystems und der Rekrutierung junger Männer, die für sie kämpfen sollten. Während die PLO und ähnliche Gruppen ‚von außen nach innen‘ arbeiteten, agierte die Bruderschaft ‚von innen nach außen‘. Anstatt auf einer globalen Bühne zu kämpfen, arbeitete sie an der ‚Islamisierung‘ des Gazastreifens.“

Israel und die Bruderschaft

Die israelischen Behörden schenkten, wie auch die USA und die westeuropäischen Staaten, der Bruderschaft wenig Beachtung. In den 1970er Jahren dominierte die marxistische Bedrohung, auch im islamischen Raum, von Algerien bis Afghanistan, waren säkulare „linke“ Regime am Vormarsch. Die ägyptischen Behörden hatten verstanden, dass von Moscheen und religiösen Schulen eine echte Gefahr ausging, aber israelische Beamte, die den Islam nicht kannten und ihn verachteten, nahmen dies nicht ernst. Sie wollten auf keinen Fall den Eindruck erwecken, dass sie religiös intolerant seien. Bei der Eroberung Jerusalems hatte die israelische Regierung den muslimischen Religionsbehörden die Kontrolle über den Tempelberg, die heiligste Stätte des Judentums, überlassen, um ihre Toleranz zu beweisen.

„Die israelische Toleranz gegenüber der Bruderschaft führte dazu, dass die PLO sie beschuldigte, eine israelische Schöpfung zu sein. Die Hamas und die PLO beschuldigten sich später jahrelang gegenseitig, für die Juden zu arbeiten, was das Schlimmste ist, was man sich vorstellen kann. Die Beleidigungen der PLO wurden dann von linken und rechtsextremen Politikern und Aktivisten wiederholt, die behaupteten, Israel habe die Hamas ‚geschaffen‘.“

Die Hamas bestand schon immer unter verschiedenen Namen als Teil der Muslimbruderschaft in Gaza. Israel hatte sie nicht gegründet, aber wie die meisten westlichen Staaten hatten die Israelis sie toleriert, ihr die für ihre Tätigkeit erforderlichen Genehmigungen erteilt und waren ihren scheinbar religiösen Forderungen nachgekommen. Anstatt die Muslimbruderschaft in Gaza zu unterdrücken, betrachteten die Israelis ihre Moscheen und religiösen Schulen als harmlose Alternative zur PLO. Und während die Israelis die PLO verfolgten, baute die Muslimbruderschaft in Gaza ihre Infrastruktur auf, aus der später die Hamas hervorging. Konkret erlaubte Israels Militärverwaltung den Muslimbrüdern im Gazastreifen schon 1967 Koran- und Sportunterricht, um Jugendliche von der militanten Fatah fernzuhalten.

Islamisierung des Gazastreifens

Scheich Ahmad Yasin wurde 1968 Anführer der dortigen Muslimbrüder und teilte ihre Gruppen in fünf Bezirke ein, deren Anführer einen 14-köpfigen Exekutivrat unter seinem Vorsitz bildeten. Hauptziel war die Verbreitung des Islam in allen Bereichen der Gesellschaft und der Bau von Moscheen.

Dazu gründete Yasin 1970 einen „Islamischen Verein“ (al-dschamiya al-islamiya), der 1973 in Gaza-Stadt ein „Islamisches Zentrum“ (al-mudschama al-islami) eröffnete. Von dort aus lenkte und koordinierte der Verein die Arbeit der Muslimbrüder im Gazastreifen, gegliedert nach den Bereichen religiöse Leitung, Wohlfahrt, Erziehung, Soziales, Medizin und Sport. Der Verein wurde von saudischen Wahhabiten unterstützt und führte deren Kleidervorschriften mitsamt einem schwarzen Gesichtsschleier für muslimische Frauen ein. Er gewann durch soziale Wohltätigkeit erheblich an Popularität, während die verbotene PLO Einfluss in den besetzten Palästinensergebieten verlor.

1979 ließ Israels Verwaltung Yasins Verein und dessen regionale Ableger offiziell zu. Als im Jahr darauf von Mudschama-Predigern aufgestachelte Islamisten Brandanschläge durchführten, ließ Israels Militärgouverneur Itzhak Segev die Vereine der Muslimbrüder, ihren Moscheebau und ihre Freitagspredigten überwachen. Israels Regierung beließ jedoch weiter nur einige hundert Soldaten im Gazastreifen. Ob Israels Militär und Geheimdienst Yasins Verein gezielt gegen die PLO unterstützten, ist umstritten.

Ab 1981 stellte der Mudschama dann Schlägertrupps auf, die badende Frauen, Nachtclubs und Videotheken angriffen. Um den Gazastreifen vollständig zu islamisieren und die Dominanz der PLO dort zu brechen, brachte Yasin 1984 die Islamische Universität Gaza unter seine Kontrolle und vergrößerte stetig den Einfluss seines Vereins in Berufsverbänden, religiösen Stiftungen und der „United Nations Relief and Works Agency“ (UNRWA), über die die ausländischen Hilfslieferungen kontrolliert werden konnten. Dabei verübten die Islamisten Gewalt gegen politische Gegner bis hin zu Morden. Auch im Westjordanland bildete Yasins Verein ein verzweigtes Netzwerk und baute Moscheen. Deren Gesamtzahl wuchs von 1967 bis 1987 von 600 auf mehr als das Doppelte (1.300).

Die Formierung der Hamas

In der Konkurrenz mit der PLO orientierten sich die Muslimbrüder im Gazastreifen auf einen baldigen bewaffneten Dschihad als einzigen Weg des Kampfes gegen Israel. Ab 1983 baute auch Yasin mit Hilfe von jordanischen Muslimbrüdern bewaffnete Kampfgruppen wie Die Palästinensischen Heiligen Krieger auf. Im Mai 1983 stahlen sie viele Waffen aus einer israelischen Kaserne. Im Juni fand Israels Militärverwaltung einen Teil davon in Yasins Haus. Ein Militärgericht verurteilte ihn zu 13 Jahren Haft, doch nach elf Monaten kam er bei einem Gefangenenaustausch frei. Bis dahin übergab er den Vorsitz seines Vereins an Ibrahim al-Yazuri, blieb aber der heimliche Lenker.

1986 gründete er die Gruppe für Dschihad und Propaganda, kurz Al-Madsch. Deren Mitglieder traten als islamische Sittenwächter auf und sollten Agenten für Israel aufspüren. 1987 zerstörten sie zwei Videotheken, die angeblich mit Pornografie handelten, folterten und ermordeten einen Inhaber in Khan Yunis als angeblichen Spitzel Israels. Weitere solche Morde folgten. Ihre Datensammlung von „Feinden des Islam“ ließ Yasin in einer Moschee in Gaza verstecken. 

Am 8. Dezember 1987 begann die Erste Intifada gegen israelische Militärpräsenz im Gazastreifen, also die andauernden, zunächst meist mit Steinen durchgeführten Angriffe von arabischen Jugendlichen auf die israelische Armee. Am 10. Dezember 1987 gründete Yasin mit sechs Muslimbrüdern die „Islamische Widerstandsbewegung“ (Akronym Hamas), um den Aufstand zu verschärfen und anstelle der säkularen PLO die Führung der Palästinenser zu gewinnen. Die Hamas bestand aus einer Partei, Wohltätigkeitsvereinen und den Qassam-Brigaden und kombinierte – wie schon zuvor die Muslimbruderschaft – religiöse, politische, soziale und militärische Aktivitäten.

 

Eric Angerer, Jahrgang 1974, ist Historiker, Sportlehrer und freier Journalist. Sein politisches Engagement bezog sich lange Zeit vor allem auf die Unterstützung der Selbstorganisation von Beschäftigten in Großbetrieben. Zuletzt war er in der Bewegung gegen das Corona-Regime aktiv.

Foto: Bundesarchiv/ H.Hoffmann CC BY-SA 3.0 de via Wikimedia Commons

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Leserpost

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Sam Lowry / 19.02.2024

p.s.: Am Rande “Am 20. Dezember 1934 wurde vom NS-Regime das „Gesetz gegen heimtückische Angriffe auf Staat und Partei und zum Schutz der Parteiuniformen“ erlassen, das unter anderem diesen Paragraphen enthielt: „§ 2 (1) Wer öffentlich gehässige, hetzerische oder von niedriger Gesinnung zeugende Äußerungen über leitende Persönlichkeiten des Staates oder der NSDAP, über ihre Anordnungen oder die von ihnen geschaffenen Einrichtungen macht, die geeignet sind, das Vertrauen des Volkes zur politischen Führung zu untergraben, wird mit Gefängnis bestraft. (2) Den öffentlichen Äußerungen stehen nichtöffentliche böswillige Äußerungen gleich, wenn der Täter damit rechnet oder damit rechnen muß, daß die Äußerung in die Öffentlichkeit dringen werde.“ (siehe Erweiterung § 188 StGB)...

S. Marek / 19.02.2024

Danke, Herr Angerer, sehr guter und mit Fakten gespickter Artikel. Diesen sollte die Präsidentin der Europäischen Kommission Ursula von der Leyen es dem geheimen Konvertiten , dem Chef der EU-Außenpolitik Josep Borrell (Belger), übersetzt vorlesen, da ich annehme, daß dieser mit lesen Probleme hat. Wie alle meisten Konvertiten hat er seinen Koran auch nicht gelesen, und in Geschichte war er bestimmt eine Pfeife.

Marc Greiner / 19.02.2024

Danke für diesen langen Artikel.

Thomas Szabó / 19.02.2024

Getrennte Geschwister: Die zeitweilig liebenden Geschwister Internationaler Sozialismus & Nationaler Sozialismus zerstritten sich und bekämpften sich bis aufs Blut. Ihre Gegensätze schienen unüberbrückbar, erstere kämpfte gegen Kapitalisten, zweitere gegen jüdische Kapitalisten. Die Internationalen Sozialisten tauften sich Linke & Antinazis und ihre Gegner Rechte & Nazis, um zu betonen, dass sie keine Geschwister, sondern Gegensätze sind. Heute demonstrieren linke Antinazis & Islamische Nazis gemeinsam gegen Nazis & Juden. Sie setzen Nazis & Juden gleich. Es findet zusammen, was zusammen gehört. Internationaler Sozialismus & Nationaler Sozialismus versöhnen & vereinen sich im Kampf gegen jüdische Kapitalisten & kapitalistische Juden.

Wilfried Cremer / 19.02.2024

Dafür haben wir den Klima-Allah. Dem wird momentan das Land geschlachtet. Schallalallala…

Klaus Keller / 19.02.2024

Der Erzählstrang setzt nach dem 1. Weltkrieg ein. Die Muslimbruderschaften richteten sich gegen Briten und Zionisten (Juden aus Europa). Man könnte auch sagen gegen “Ungläubige” aus dem Westen. Schließlich kooperierte man mit den Feinden der Feinde. Später hatte die SU Interesse daran die Briten aus der Region zu vertreiben und erlaubte Waffenlieferungen aus der Tschechoslowakei an Israel. Später folgten andere Akteure. Wenn man diese Sachverhalte aus unterschiedlichen Perspektiven mit ausreichender Distanz liest löst sich das Komplexe ein wenig auf und man sieht die Entwicklung besser. Man könnte noch Fragen was die Araber der Region nach dem Aufstand gegen das Osmanische Reich vom Westen erwarteten und was sie bekommen haben.

Sam Lowry / 19.02.2024

Zu diesem Thema schreibe ich besser nichts mehr. 100 Tage Knast wegen Volksverhetzung reichen mir erstmal… sind Moslems eigentlich ein Volk???

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